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10.-16.12.17


Frei - und doch nicht frei

Lukas 21,28


In unserem Land genießen wir so viel Freiheit wie wohl kaum ein anderes Volk auf dieser Erde. Wir brauchen keinen Befreier mehr, wir sind frei! Im politischen Sinne möchte ich sagen: „Das stimmt.“

Im menschlichen Sinne können wir allerdings auch in einem freien Land gefangen sein: gefangen in uns selbst, gefangen in den Verhältnissen, in denen wir leben. Ob wir frei sind oder nicht, ist eine Frage danach, wie wir unser ganzes Dasein erleben.

Vielleicht erleben wir zum Beispiel den Fortgang unseres Lebens als einen fortschreitenden Verlust an Freiheit. Am Anfang haben wir noch die große Auswahl: Wir können unseren Beruf wählen, unseren Ehepartner, den Ort, an dem wir wohnen wollen. Wenn wir dann 20 Jahre weiter sind und wir vielleicht das Gefühl haben, dass uns unsere damals gefällten Entscheidungen nicht befriedigen, dann merken wir schon, wie sehr sich unsere einstige Freiheit verringert hat. Wir können nicht einfach wieder von vorn anfangen. Wir kennen inzwischen unsere eigenen Grenzen, unsere Schwächen, unsere Schattenseiten. Und wir sind vielleicht durch viele Erfahrungen eingeschüchtert worden, haben nicht mehr den Mut, etwas Neues zu beginnen. So können wir den Fortgang unseres Lebens als einen zunehmenden Verlust an Freiheit, an Entscheidungsfreiheit erleben.

Aber auch wenn wir uns einmal ganz unabhängig vom Alter betrachten, kann es sein, dass wir uns als Gefangene erleben. Wir entdecken zwanghafte Verhaltensweisen an anderen und an uns selbst und erleben, wie wir Dinge tun, die wir vielleicht gar nicht tun wollen. Ich meine das nicht in einem krankhaften Sinne, ich meine unser ganz normales Verhalten.

Wir erleben an uns vielleicht zum Beispiel einen übermäßigen Perfektionismus: dass wir alles so überaus genau nehmen, dass für uns nichts gut genug gemacht ist, und dass wir mit unserem Drang nach Perfektion, wie wir sie verstehen, nicht nur andere stark belasten, sondern auch uns selbst das Leben gehörig erschweren. Wenn wir dann an unserer eigenen Art selbst genug leiden, sodass wir den innigsten Wunsch haben, uns zu verändern, spüren wir, wie schwer das ist, wie sehr wir gefangen sind in unserer Art.

Solche zwanghaften, uns selbst und andere zermürbenden Verhaltensweisen entdecken wir zur Genüge an uns: den Drang, ständig Recht haben zu müssen zum Beispiel, oder sich dem anderen als überlegen erweisen zu müssen oder die Vorstellung, ständig anderen verpflichtet zu sein, nie nein sagen zu dürfen.

Es ist sehr schwierig, aus der eigenen  Haut zu schlüpfen. Wir sind mit ihr untrennbar verbunden.

Nun wird uns hier ein Erlöser angekündigt. Ich habe da gleich an ein bestimmtes Märchenmotiv gedacht: Die Prinzessin kann aus ihrem Dauerschlaf nur erwachen, wenn sie von einem Prinzen wachgeküsst wird.

Was ich sagen möchte, ist dies: Wir sind in uns selbst und in unseren Lebensumständen gefangen. Befreien können wir uns selbst so wenig wie jene Prinzessin, oder wie Münchhausen sich selbst am eigenen  Schopf aus dem Wasser ziehen konnte. Wirklich befreit werden können wir nur von außen, durch einen anderen.

Eine große Kraft, die etwas an uns und in uns ausrichten kann, ist die, dass uns jemand anspricht mit einem guten Wort, dass uns jemand ernst nimmt, uns anhört, Geduld mit uns hat, uns vergibt, uns ganz und gar wohlgesonnen ist. Wir spüren dann, dass die Gitterstäbe unseres Gefängnisses aus Eis sind. In der Wärme der herzlichen Zuneigung schmelzen sie und wir können aus uns heraustreten. Vieles, was uns vorher wichtig war, verliert an Bedeutung.  Wir werden frei, aufeinander zuzugehen in einer neuen Art.

Lassen Sie uns unseren oftmals von Resignation niedergeschlagenen Blick hoffnungsvoll nach vorne richten. Erheben wir unsere von den Lasten unseres Lebens niedergedrückten Häupter: Unser Erlöser kommt.

(Morgenandacht in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, 9. Dezember 1980)

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