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14.-20.1.18


Das Nützliche und das Beschämende des Gesetzes

Johannes 1,17


Mose und Christus personifizieren zwei unterschiedliche theologische Konzepte. In ihnen begegnen uns zwei verschiedene Gottesbilder, zwei verschiedene Menschenbilder, zwei verschiedene Ebenen von Beziehungen. Diese Unterschiede sind inhaltlich mit den Begriffen Gesetz und Evangelium zusammengefasst. Das Gesetz ist durch Mose vertreten, das Evangelium durch Christus. Bei dieser Gegenüberstellung handelt es sich um eine Vereinfachung, eine Typisierung, die sich auf das Wesentliche konzentriert.

Das Gesetz ist durch Mose gegeben, das Evangelium ist durch Christus gegeben.

Gesetz meint die an uns gerichteten Forderungen, die Gebote und Verbote, Belohnung und Bestrafung, die Androhung, das Muss, das „Du sollst“, das „Du darfst nicht“.

Gesetz im Sinne des durch Mose repräsentierten Konzeptes meint mehr als unser staatliches Gesetz. Es meint die Gesamtheit der an uns gerichteten Forderungen, eben auch die über die Anforderungen der staatlichen Gesetze hinausgehenden ethischen Forderungen, auch die gesellschaftlichen Konventionen, das, was man zu tun und zu lassen hat, was sich schickt, das ganze weitverzweigte Geflecht ausgesprochener, formulierter wie auch unausgesprochener Forderungen, Verpflichtungen und Erwartungen. 

Die Notwendigkeit des Gesetzes - Notwendigkeit im wörtlichen Sinne des Wortes - ist unbezweifelt. Ohne das Gesetz würden wir im Chaos versinken. Es ist wirklich notwendig zum Schutz unseres Lebens, aber auch schon zur Orientierung. Das Gesetz gibt unserem Leben eine Struktur, eine Richtung: Wir wissen, was wir zu tun und zu lassen haben. Mit den zugehörigen Sanktionen erleichtert es uns auch die Befolgung. In diesem Sinne ist es eine Entlastung.

Aber das Gesetz ist auch eine Belastung, und zwar eine ganz erhebliche. Nicht nur, dass die Befolgung uns Kraft kostet. Noch belastender ist wohl, dass es uns unsere ethische Unvollkommenheit unbarmherzig vor Augen führt: Dass es das Gesetz geben muss, ist ein Armutszeugnis für den Menschen. Es hat insofern etwas Erniedrigendes an sich.

Darüber hinaus belastet noch die Einsicht, dass auch das Gesetz den Menschen nicht auf den Pfad der Tugend bringt. Es erzwingt mühsam - mit mehr oder weniger Erfolg - nur eine Art äußerer Ordnung; an der inneren Zustimmung fehlt es weitgehend. Es wird missbraucht und gegen seinen eigentlichen Zweck gewendet. Es provoziert Heuchelei und Selbstgerechtigkeit. Kurz: Auch das Gesetz ist noch nicht das Gelbe vom Ei, wie man sagt. Es ist ein zweischneidig Ding.

In Christus bleibt die Gültigkeit und Notwendigkeit des Gesetzes bestehen. Es wird nicht abgeschafft. Aber in ihm wird etwas Neues an die erste Stelle gesetzt: die Liebe, die Vergebung. Das Evangelium, die frohe Botschaft in Christus besteht in der Aussage: Wir sollen uns als Menschen nicht nur im Spiegel des Gesetzes sehen und uns darin unserer Unfähigkeiten und unserer Schlechtigkeit bewusst werden. Uns wird ein neuer Spiegel vorgehalten in Christus, der Spiegel der Liebe: In ihm erkennen wir uns als die geliebten Kinder Gottes, als die aus ihrer Niedrigkeit Aufgerichteten.

Durch Christus empfangen wir unsere Würde neu, die durch das Gesetz zerstört war. Wir werden auf unsere innere Kraft angesprochen. Uns wird etwas zugetraut. Wir werden nicht mehr nur gezwungen. Wir erhalten die Chance, aus freien Stücken, aus der Dankbarkeit unseres Herzens, das zu tun, was uns das Gesetz abverlangt.

Ohne das Gesetz kommen wir nicht zurecht. Aber es ist gut, erhebend und befreiend, dass Christus dazugekommen ist.

(Morgenandacht in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 19.1.1993)

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