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15.-21.10.17


Die menschliche und die göttliche Seite der Liebe

1. Johannes 4,21


Im christlichen Glauben ist es eine der Selbstverständlichkeiten, dass die Liebe zu Gott und die Liebe zum Menschen unzertrennbar zusammengehören. Manchen ist allerdings vor allem die Liebe zu Gott wichtig, andere halten die Liebe zum Menschen für besonders bedeutsam.

Die beiden extremen Außenpositionen lassen sich etwas überzeichnet so beschreiben: Der eine pflegt intensiv und regelmäßig das tägliche Gebet und die Bibellektüre und den Kirchenbesuch und will von Menschen nichts wissen. Der andere engagiert sich intensiv in der Sozialarbeit und interessiert sich nicht für Gott und die Kirche und Jesus Christus.

Das erste verbietet sich, das zweite bedeutet den Verzicht auf eine wertvolle Hilfestellung.

Das erste verbietet sich: Es ist gerade das Wesensmerkmal des christlichen Glaubens, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist und sich Menschen leibhaftig zugewandt hat in ihren täglichen Nöten und in den grundsätzlichen Nöten ihres Lebens überhaupt. Jesus Christus hat sich uns so praktisch zum Bruder gemacht. Unser geschwisterliches Dasein praktizieren wir nicht schon allein dadurch, dass wir uns zu einem gemeinsamen Vater bekennen, sondern indem wir die uns aufgetragene zwischenmenschliche Zuwendung auch tatsächlich einander erweisen.

Das andere - ich nenne das jetzt in Anführungszeichen die "gottlose Sozialarbeit" - ist auf Dauer nicht so einfach durchzuhalten. Denn unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen kann über kurz oder lang durch enttäuschende Erfahrungen so erschüttert werden, dass sich die grundsätzliche Frage stellt: „Warum tu ich mir das eigentlich an? Warum soll ich mich um andere kümmern - um diejenigen, die sich für mich und andere Zuwendungsbedürftige nicht interessieren? Warum soll ich die mit Rücksicht behandeln, die selbst rücksichtslos mit anderen umgehen? Warum soll ich die lieben, die selbst lieblos sind?“

Jede Art von innerer Zuwendung zu anderen Menschen und jede Art von Sozialarbeit kann irgendwann von solchen grundlegenden Fragen in Frage gestellt werden. Woher dann die Antworten nehmen? Woher dann die Kraft nehmen, solche Frustrationen, solche Enttäuschungen zu überwinden und der Resignation zu wehren?

Da kann es in der Tat sehr hilfreich sein, von Jesus Christus zu wissen. Er hat solche Enttäuschungen selbst durchgemacht. Er hat sich von seiner Liebe zu den Menschen dadurch aber nicht abbringen lassen - im Gegenteil: Die enttäuschenden Erfahrungen waren der Anlass seiner Hingabe. Die Liebe ist stärker als jede Art von Lieblosigkeit, das war seine Botschaft. Von Jesus Christus geht ein mutmachender, aufmunternder Anstoß aus. Sich von seiner Art, von seinem Geist anregen zu lassen, kann helfen, trotz enttäuschender Erfahrungen die liebevolle Zuwendung zum Mitmenschen nicht aufzugeben. 

Die Liebe ist eine zweidimensionale Sache. Sie hat eine menschliche und eine göttliche Seite. Die göttliche will ohne die menschliche nicht sein, und die menschliche kann ohne die göttliche nicht sein. Darum ist in dem größten Gebot beides gleich gestellt: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinem Verstand. Das andere ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

(Morgenandacht in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, 21. Oktober 2003)

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