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21.-27.5.17


Beten - loslassen und empfangen

Psalm 66,20


Eine Konfirmandin kam mit ziemlich scheckigem Gesicht zu mir in den Unterricht. Ich dachte, sie hätte Masern oder Ähnliches. Wie ich aber später von ihrer Mutter erfuhr, hatte sie einfach ein völlig verweintes Gesicht gehabt. Eine gute, etwa gleichaltrige Freundin dieser Konfirmandin war gerade nach langer Krankheit verstorben. Dass es eine lebensbedrohende Krankheit gewesen war, hatten alle, auch die Konfirmandin, gewusst. Aber sie hatte für ihre Freundin gebetet. Das viele Beten hatte aber nicht geholfen. Zu dem Schmerz des Verlustes und der Trauer kam die quälende Frage hinzu: „Welchen Sinn hat das Beten überhaupt, wenn es nicht hilft? Welchen Sinn hat der Glaube an Gott, wenn dieser ein solches Schicksal nicht verhindert?“ 

Zu dieser Erfahrung und zu diesen Fragen steht das heutige Psalmwort in einer ziemlichen Spannung: „Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft noch seine Güte von mir wendet.“ Das eine, was sich hierzu sagen lässt, ist dies: Es gibt eben beide Erfahrungen. Es gibt auch die Erfahrung, dass das im Gebet Erwünschte in Erfüllung geht. Aber da es beide Erfahrungen gibt, bleibt die Frage nach dem Sinn des Gebetes: „Wozu ist es denn gut, wenn es nicht taugt als letzter Versuch, das Ersehnte mit anderen Mitteln doch noch zu erreichen?“

Liegt der Sinn des Gebetes aber nicht gerade im Gegenteil dessen, was die Konfirmandin von ihm erwartet hat? Sie wollte mit dem Gebet etwas festhalten. Ist das Gebet aber nicht im wesentlichen Ausdruck der Bereitschaft loszulassen - und dann anzunehmen, was geschenkt wird, oder auch zu tragen, was auferlegt wird?! Im Loslassen liegt das eigentliche Wesen des Gebetes: „Wir legen alles, Gott, in deine Hand: unser Leid und unsere Freude, unsere Sorgen und Ängste, unsere Wünsche und Hoffnungen. Hilf uns, dankbar anzunehmen, was wir an Gutem von dir empfangen. Hilf uns tragen, was niederdrückt, und geleite uns mit deinem Segen über die Höhen und durch die Tiefen.“ 

Ein solches Verständnis des Gebetes ist gewiss nicht einfach zu akzeptieren, von einer Konfirmandin wohl noch weniger als von einem ausgewachsenen Menschen.

Loslassen und sich beschenken lassen und ggf. tragen und ertragen - das ist nicht so einfach. Aber: Gott loben - das wird angesichts der vielen Probleme, die das Leben mit sich bringt, demjenigen wohl immer schwer fallen, der Gott statt dessen mit Erwartungen gegenübertritt. 

Die besondere Kraft unseres Glaubens an Jesus Christus liegt darin, dass wir uns durch ihn als Beschenkte erfahren. Christus hat nichts von Gott gefordert, und er fordert nichts von uns. Er gibt sich selbst - denjenigen vor allem, die ihm mit leeren Händen und geöffneten Armen gegenübertreten. 

(Morgenandacht in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 26. Mai 1992)

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