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1. Sonntag nach Trinitatis (23.6.19)


Suchende sind wir

18. Juni 2017

1. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 5,39-47


Worum geht es in diesem vielleicht etwas verwirrenden Text aus dem Evangelium des Johannes? Kurz geantwortet: Johannes kritisiert hier gebildete, schriftkundige Menschen dafür, dass sie in Jesus nicht den Christus erkennen. Er sagt ihnen: "Er steht vor euch, der Christus, der seit Jahrhunderten erwartete und ersehnte Messias. In den alten Schriften habt ihr über ihn gelesen. Und nun merkt ihr nicht, dass er leibhaftig vor euch steht. Ihr glaubt eher irgendwelchen falschen Propheten. Aber den wahren Christus habt ihr nun vor euch."

Johannes übt heftige Kritik. Und er versucht, seiner Kritik größtes Gewicht zu geben, indem er seine Worte Jesus in den Mund legt. Er lässt Jesus reden. Wir entnehmen diesen Worten, dass Johannes, verzeihen Sie, frustriert war. 

Die ersten Christen befanden sich ja in einer permanenten Gefährdungssituation, weil sie daran glaubten, dass in jenem Jesus von Nazareth der Christus erschienen war, der Messias, und sie ihr Leben in seinem Sinne ausrichteten. Sie wurden wegen ihres Glaubens bedroht und verfolgt und waren sich ihres Lebens nicht sicher. Da ist es nachvollziehbar, dass sie nicht gut zu sprechen waren auf diejenigen, die mit Jesus als dem Christus nichts anfangen konnten. 

Paulus zum Beispiel war anfangs, als er noch Saulus hieß, einer jener Christenverfolger. Er besann sich später eines Besseren.

Für uns ist jetzt wichtig, Zweierlei zu unterscheiden. Das eine ist die Verfolgung der Christen wegen ihres Glaubens. An der Christenverfolgung Kritik zu üben, hat seine volle Berechtigung. Das ist das eine. Aber wenn jemand mit Jesus nichts anzufangen weiß und in Jesus nicht den Christus zu erkennen vermag, dann sollte das nicht Gegenstand von Kritik sein, und schon gar nicht von heftiger und herabsetzender Kritik. 

Wenn jemand die große und großartige Bedeutung Jesu nicht wahrzunehmen vermag, dann sollte uns das eine Herausforderung dazu sein, uns mit umso mehr Phantasie und liebevoller Hingabe zu bemühen, das Besondere der Gestalt Jesu zu verdeutlichen. 

Ich formuliere das jetzt mal so persönlich auf uns bezogen. Wir haben ja auch ständig – und ständig mehr – mit Menschen zu tun, für die Jesus und christlicher Glaube, die Bibel, Gott und die Kirche eher fremd und unverständlich sind und denen all dies immer weniger und vielleicht schon gar nichts mehr bedeutet.

Jesus Christus und der Glaube an ihn und an all das, wofür er steht, was er verkörpert und was seinen Geist ausmacht, das ist aber von allergrößter Bedeutung – davon bin ich überzeugt. Das mit dem Glauben ist aber nun mal nicht so einfach. Und da macht es keinen Sinn, jemanden heftig zu kritisieren, wenn er nicht so glaubt wie wir. 

Worum geht es beim Glauben? Ich greife zum Nachdenken über diese Frage ein Wort aus dem heutigen Predigttext heraus, das hier zweimal vorkommt, das Wörtchen "suchen". 

"Ihr sucht in den Schriften", lässt Johannes Jesus sagen. "Ihr sucht in den Schriften" – gemeint sind in diesem Fall die Schriften, die wir das Alte Testament nennen, die Bücher Mose insbesondere. Und die Gesprächspartner Jesu sind hier offenbar Menschen, die lesen können. Wer konnte das damals?

Was suchen Menschen, wenn sie in der Bibel lesen? Ich frage das jetzt mal auf uns bezogen. Was suchen wir, wenn wir in der Bibel lesen? Die Antwort auf diese Frage mag unterschiedlich ausfallen. Aber es wird doch vermutlich so sein, dass wir etwas Wichtiges suchen, etwas ganz Wichtiges vermutlich sogar, etwas, das für unser Leben von grundlegender Bedeutung ist, was hilfreich für unser Leben sein kann, was uns vielleicht hilft, das Leben zu verstehen, das Leben mit all dem Schönen und Schrecklichen, und den Menschen zu verstehen mit all dem Schönen und Schrecklichen. Und wir suchen vielleicht nach Hilfestellungen für die Frage, wie wir sinnvoll leben können, wie wir mit dem Leben und dem Menschen umgehen können und sollten, wie wir mit Freud und Leid, Glück und Enttäuschung, Ängsten und Sehnsüchten und Hoffnungen und überhaupt mit all dem Erstaunlichen und Geheimnisvollen und Unbegreiflichen zurechtkommen können.

Wer in der Bibel liest und darin sucht, der tut gut daran! –, nach meiner Erfahrung. Denn die Bibel ist eine Schatzkiste voller wertvoller Worte und Bilder. Die Erfahrungen vieler Generationen sind darin enthalten, und zu welchen Überzeugungen, zu welchem Glauben sie gelangt sind, Erfahrungen mit dem Leben und dem Menschen - und mit dem, was über den Alltag und über unsere täglichen realen Erfahrungen hinausweist. 

Die Bibel ist eine Schatzkiste voller Realitäten. Sie ist voll von ungeschönten Realitäten. Und sie ist voller Nachdenken und voller Tiefsinn, voller Bewegungen des Herzens und des Hirns, voller Zweifel und Glaubensüberzeugungen. 

Die Bibel ist von unschätzbarem Wert. Aber sie ist kein leichtes Buch. Und wer damit nicht zurechtkommt, dem kann man keine Vorhaltungen machen. 

Für uns als Christen dreht sich alles um Jesus Christus als denjenigen, in dem uns – nach unserem Glauben – Gott in menschlicher Gestalt begegnet. Was bedeutet das? Was bedeutet uns Jesus Christus und das Göttliche an ihm konkret für unser Leben? 

In unserem Predigttext lässt Johannes Jesus sagen: "Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, darin das ewige Leben zu finden. Und diese Schriften zeugen von mir."

Mit anderen Worten: Die Schriften des Alten Testaments zeugen von Jesus Christus – und davon, dass durch ihn das ewige Leben zu erlangen sei. So sagt es Johannes, und diese Worte legt er Jesus in den Mund. Das sind aber wirklich keine leicht verständlichen Worte. 

Es wird auch mancher anzweifeln, dass das Alte Testament überhaupt Hinweise auf Jesus Christus enthält. Wissenschaftlich betrachtet ist diese Aussage von Johannes wohl auch kaum zu halten. Kritiker sagen: Im Nachhinein sind Stellen des Alten Testaments so ausgelegt worden, als wären sie von vornherein als Hinweise auf Jesus Christus gemeint gewesen. 

Während des Dritten Reiches gab es einige in der Kirche, die das Alte Testament gern aus der Kirche verbannt hätten, weil es ihnen als überflüssig erschien - und vor allem, weil es ihnen zu jüdisch war. Und vor wenigen Jahren fand die Diskussion statt: "Brauchen wir als Christen das Alte Testament überhaupt?" Aus meiner Sicht - verzeihen Sie – brauchen wir das Alte Testament unbedingt. Jesus war Jude und sein Anliegen ist zunächst auf dem Hintergrund der jüdischen Religion zu verstehen. Auch Paulus war Jude. Auch all das, was er sagte, sagte er auf dem Hintergrund seiner Herkunftsreligion.

In den Schriften des Alten Testaments ist unendlich viel von dem thematisiert, wonach wir suchen - wir als "Menschen auf der Suche". 

Ja, wir sind auf der Suche. Wonach suchen wir? Nach Ruhm und Ehre? Nach Geld und Macht? Nach Anerkennung, nach Glück, nach der großen Liebe - oder nach noch mehr? Nach der Wahrheit? Nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält? Ein modernes Kirchenlied sagt – in der ersten Strophe: "Suchende sind wir, Herr, nach einem Sinn. Lass uns finden hinter den Worten: dein Wort."

Und das ist das Schwierige: Hinter dem vordergründigen Menschenwort das Gotteswort zu finden. Wir können Texte lesen, aber was wollen uns die Texte in ihrer tiefsten Bedeutung sagen? Da gibt es Vordergründiges und Hintergründiges; es gibt das Wörtliche und den tieferen Sinn hinter den Worten. Manch einer sucht und findet dann doch nicht.

Und manch einer wendet sich mit seiner Suche dann anderswo hin, liest andere Schriften, buddhistische Schriften vielleicht. Manch einer hat sich in seiner Suche sogar auf den Weg bis nach Indien gemacht in die geistlichen Zentren dort, in die Ashrams, um dort vielleicht bei einem Guru fündig zu werden.

Unser heutiger Predigttext sagt etwas, was der Volksmund mit den Worten formuliert: "Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?" Johannes sagt – ich formuliere das mit eigenen Worten: "Ihr sucht in den Schriften, ihr lest bei Mose, ihr hört euch irgendwelche Leute an, die von sich behaupten, was Wichtiges zu sagen zu haben. Dabei steht doch das, was ihr sucht, leibhaftig vor euch." Johannes legt diese Worte Jesus in den Mund. Jesus sagt – ich sage das wieder verkürzt: "Ich bin es, den ihr sucht."

So kann es wirklich sein. Aber in ihm das zu erkennen, was wir im Tiefsten unseres Herzens suchen, ist eben nicht so einfach. 

Es ist vielleicht ein Merkmal unseres Lebens überhaupt, ein Wesensmerkmal unseres Lebens, dass wir uns erst einmal auf die Suche machen müssen und in unserer Suche weite und manchmal komplizierte und mühselige Wege gehen müssen, um am Ende zu der Einsicht zu gelangen: Was wir gesucht haben, haben wir eigentlich schon immer gehabt, nur, wir haben's nicht wahrgenommen. 

Das Gleichnis vom "Verlorenen Sohn" können wir als eine bildhafte Darstellung dieses menschlichen Wesensmerkmals nehmen. Der Sohn verlässt sein Zuhause und zieht in die Welt hinaus – auf der Suche nach – ja, wonach suchte er? Er wollte die Welt kennenlernen, das Leben, sich selbst ... Am Ende kehrt er zurück in sein Zuhause, von wo seine Suche ihren Anfang genommen hatte. 

Könnten wir ihm sagen: "Wärest du doch gleich zu Hause geblieben, dann hättest du dir den ganzen Stress sparen können!?" Dieser Rat würde wohl kaum Sinn machen. Wir brauchen – zumindest in einer gewissen Lebensphase – das Abenteuer, wir wollen entdecken, forschen, uns ausprobieren. Der mühsame Weg der Suche kann dann – wie bei dem sog. "Verlorenen Sohn" – zu wertvollen Einsichten führen. Der Bruder, der zu Hause geblieben war, ist nicht zu diesen Einsichten gelangt, bedauerlicherweise, können wir wohl sagen. 

An welchem Punkt befinden wir uns? In welcher Etappe des Weges sind wir – als die Suchenden? Sind wir überhaupt noch auf der Suche oder haben wir schon gefunden? So, wie der alte Simeon, der im Tempel von Jerusalem das kleine Jesuskind auf dem Arm hält und Gott lobt und sagt: "Herr, nun lässt du deinen Diener fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben den Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern." 

Unsere Augen können den kleinen Jesus nicht leibhaftig sehen, auch nicht den großen, den Erwachsenen. Wir haben – in Anführungszeichen – "nur" die Schrift, die Bibel mit dem Alten und dem Neuen Testament. Und wir haben die zweitausendjährige Überlieferung, die Entwicklung des christlichen Glaubens und der Kirche bis hin zu diesem Gottesdienst am heutigen Morgen. Und wir haben das Leben. Das aber alles zusammenzukriegen und sagen zu können: "Nun habe ich gefunden, was ich gesucht habe", das wäre, wenn wir an den Punkt gelangen würden, wohl wie ein Geschenk des Himmels. So etwas ist nicht machbar. So etwas können wir uns nur wünschen. Und wir können einander helfen, diesem Ziel näherzukommen. 

Glücklich kann sich schätzen, wer gefunden hat, wer am Ziel angekommen ist, wer seine Ruhe gefunden hat und seinen inneren Frieden. 

Glücklich kann sich schätzen,
wer in der Blüte einer Blume
die Großartigkeit des Schöpfers zu erkennen vermag,
und wem die einzelne liebevolle Geste
mehr bedeutet als die vielen Lieblosigkeiten,
und wer ein kleines Geschenk dankbar zu würdigen weiß,
auch wenn ihm so unendlich viel versagt bleibt. 

Glücklich können wir uns schätzen,
wenn wir Gott Gott sein lassen können.
Wenn wir zu akzeptieren vermögen,
dass er der Schöpfer allen Seins ist
und wir seine Geschöpfe sind,
und dass in ihm verborgen sind
alle Geheimnisse des Seins,
und wir mit unserem kleinen Verstand
die großen Fragen nicht beantworten können. 

Wir können uns glücklich schätzen,
wenn wir uns all unserer Schwächen und Fehler und
Verfehlungen bewusst sind
und wir uns und anderen nichts vormachen über uns selbst
und nicht mehr meinen, uns beweisen zu müssen,
und wir trotzdem die Wertschätzung spüren
und anzunehmen in der Lage sind,
die uns von höherer Warte zuteil wird.
Und wenn wir diese Wertschätzung
auch anderen zubilligen
und sie ihnen zuteil werden lassen.

Glücklich können wir uns schätzen,
wenn wir alle Erwartungen loslassen können
und wir uns freuen können über das,
was wir unerwartet empfangen.

Glücklich können wir uns schätzen,
wenn wir jeden Moment des Lebens
als Teil der Ewigkeit zu leben vermögen.

Was wir suchen, haben wir schon.
Wenn wir es doch nur wahrzunehmen vermöchten!
Aber das ist nicht so einfach.
So werden wir Suchende bleiben –
im Glauben daran,
dass das Ziel uns immer näher kommt.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 18. Juni 2017)

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