Wie wichtig sind Regeln und Rituale?
Gelegentlich berichten unsere Kinder zuhause von Reaktionen ihrer Mitmenschen, wenn diese gerade erfahren haben, dass sie es mit einem Pastorensohn, einer Pastorentochter zu tun haben. „Was, dein Vater ist Pastor?! Dann betet ihr wohl den ganzen Tag zuhause?!“
Solche Reaktionen haben für uns etwas Amüsantes, weil wir uns als Familie in unserer täglichen Lebensführung wenig von anderen Familien unterscheiden, wie wir meinen.
Aber in diesen Reaktionen, die Erstaunen, fast Entsetzen, und in jedem Fall wohl auch eine Portion Mitleid mit unseren armen Kindern zum Ausdruck bringen, zeigt sich etwas, worum es eben auch im heutigen Predigttext geht: dass der christliche Glaube auch etwas mit der praktischen Lebensführung zu tun hat, aber wie, das ist die Frage.
Es ist wohl wahr: Der christliche Glaube ist nicht nur etwas, was sich im Kopf abspielt. Er ist auch nicht nur etwas, was sich im Herzen abspielt. Der christliche Glaube drückt sich auch in der praktischen Lebensführung aus - in unserem Umgang miteinander von Mensch zu Mensch, in unserem Umgang mit der Schöpfung. Und der christliche Glaube hat auch zu tun mit Riten und Gebräuchen und Festen.
Wie es in einem Pastorenhaushalt mit den christlichen Gebräuchen auszusehen hat, darüber gibt es in der Bevölkerung so gewisse Vorstellungen, die irgendwann sicherlich auch mal richtig waren, die aber mit der Wirklichkeit heute in den meisten Fällen kaum noch etwas zu tun haben.
Im Kopf und im Herzen und in der praktischen Lebensführung sieht es bei jedem von uns natürlich ein bisschen anders aus. Auch diejenigen, die ganz bewusst Christen sein möchten, und auch diejenigen, die aus ihrem Christsein einen Beruf gemacht haben, werden ihren christlichen Glauben unterschiedlich verstehen, unterschiedlich fühlen und unterschiedlich leben.
Es kann sich dann im Konfliktfall die Frage stellen: „Wer hat recht?“ Mit Konflikt meine ich z. B. auch eine solche Situation wie die, die wir - ein paar Jahre allerdings ist es her - zuhause erlebt haben, als mir ein Besucher aus einer bewusst christlichen und frommen Familie an unserem festlich gedeckten Tisch zu Beginn unseres Abendessens mit unüberhörbar vorwurfsvollem Ton sagte: „Bei uns wird aber zu Beginn des Essens das Tischgebet gesprochen.“
Wir hatten ja damit gerechnet, dass das kommen könnte, und hatten uns auch im Vorwege überlegt, wie wir uns verhalten würden. Wir haben als Familie, und wie ich finde - als christliche Familie - unsere eigene Art der Lebensführung. Aber die Frage in der Begegnung mit anderen ist ja stets: Wie weit sollen wir nun auf die anderen eingehen? Wie weit sollen wir Rücksicht nehmen, uns umstellen und einstellen auf die anderen, um Verunsicherungen und Verärgerung zu vermeiden?
Wir sind dann meist bei unserer eigenen Art geblieben und haben es auf eine eventuelle Diskussion ankommen lassen. Dieses Thema hat zwei Aspekte: einen menschlichen und einen mehr theoretischen.
Um zunächst bei dem theoretischen Aspekt anzufangen, kann sich die Frage stellen: Von welcher Grundlage aus ist eine Antwort, eine Lösung überhaupt möglich? Gibt es allgemeine Merkmale, die es erlauben, eine bestimmte Denkungsart oder bestimmte Empfindungen oder bestimmte Verhaltensweisen als christlich oder nicht-christlich oder gar unchristlich einzuordnen und bestimmte Verhaltensweisen als unabdingbar zu fordern, wenn sie - z. B. im Pastorenhaushalt - für eine christliche Lebensführung vorbildlich sein sollen?
Das ist schon eine ziemlich, um ein Modewort zu nehmen, eine ziemlich spannende Frage, und sie ist überaus aktuell und akut. Eine solche Frage tritt gerade in Zeiten der Krise auf, in Zeiten des Umbruchs, des Übergangs und immer dort, wo es zur Begegnung von unterschiedlichen Systemen kommt - in der Begegnung mit anderen Religionen, anderen Konfessionen, anderen Kulturen und auch in der Begegnung z. B. mit Kirchenfernen.
Wir befinden uns heute in der Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung. Der Text aus dem Römerbrief, der mich überhaupt zu diesen Gedanken veranlasst, stammt auch aus einer Zeit der Krise. Es ging damals um die Begegnung des noch jungen Christentums mit der römischen Religion.
Versetzen uns jetzt mal in die Zeit von vor 2000 Jahren: Paulus, im Judentum großgeworden, hatte sich zum Glauben an Jesus Christus bekehrt, war dann in verschiedene Länder gereist, auch nach Italien, hatte dort Menschen um sich gesammelt und sie ebenfalls zum Glauben an Christus geführt. So gab es dann schließlich eine kleine Gruppe von Menschen im Rom, eine erste Gemeinde, die nun inmitten eines römischen Umfelds ihren christlichen Glauben leben sollte und wollte. Sie war ständig herausgefordert und infrage gestellt durch das römische Umfeld mit der römischen Religion, den römischen Gebräuchen und Riten und Festen und der ganzen römischen Denkungs- und Lebensart, in der diese ersten römischen Christen selbst auch großgeworden waren. Sie waren umgeben auch von Verwandten und Bekannten und Freunden und Nachbarn, die in der römischen Religion verblieben waren, und die sich nicht bekehrt hatten zu dem neuen Glauben, und die dann wohl möglich immer mal wieder fragten: „Warum bist du denn eigentlich Christ geworden? Was findest du denn an dieser neuen Religion?“ Und die sich vielleicht auch mal lustig machten über die Bekehrten.
Diese ersten römischen Christen werden es nicht leicht gehabt haben, zu ihrem neuen Glauben zu stehen und sich ihres neuen Glaubens sicher zu sein. Wir können uns vielleicht vorstellen, dass es da unterschiedliche Typen und Mentalitäten gegeben hat - starke, selbstbewusste Menschen und andere, die eben schwächer waren und sich durch kritische Anfragen und Spötteleien gleich sehr verunsichert fühlten.
Und wir können uns vielleicht auch vorstellen, dass die schwächeren Menschen Dinge brauchten, an denen sie sich festhalten konnten, feste Sätze und Regeln, an denen sie ihr Denken und ihre Empfindungen und ihre Lebensführung ausrichten konnten.
Von einem solchen Festpunkt ist in unserem Predigttext die Rede. Es geht da um das Essen und Trinken, um das Essen von Opferfleisch und das Trinken von Wein, was beides für die römische Kultur typisch war und sich mit dem Glauben an Christus nicht so recht vereinbaren ließ.
Da gab es einige, die sagten: „Das macht doch nichts, ich kann Opferfleisch essen und trotzdem meinem Glauben an Christus gerecht werden.“ Aber für andere war klar: Sie mussten sich strikt dem römischen Opferfleisch fernhalten, sonst würden sie in ihrem Glauben an Christus verunsichert.
Die ersten werden in dem Paulustext als die - in Anführungszeichen - „Starken“ bezeichnet, die letzten als die - in Anführungszeichen „Schwachen“. Die Starken waren nach diesem Sprachgebrauch diejenigen, die es sich zutrauten, die Dinge differenzierter zu sehen und zu behandeln. Als die „Schwachen“ galten diejenigen, die klare unumstößliche Regeln brauchten, um in ihrem Glauben nicht verunsichert zu werden. In der Beziehung der beiden Gruppen zueinander gab es Probleme; davon handelt unser Text. Die Schwachen ärgerten sich über die Starken, weil diese die Dinge so locker handhabten. Die Starken ärgerten sich über die Schwachen, weil diese - aus ihrer Sicht - so engstirnig waren.
Paulus ruft die beiden Gruppen dazu auf, sich gegenseitig zu akzeptieren. Er sagt: „Was ihr esst und was ihr trinkt, soll doch nicht euer Hauptthema sein. Wichtiger ist der Frieden untereinander, und dass ihr einander gerecht werdet in eurer je unterschiedlichen Art und letztlich Freude aneinander und miteinander habt und euch des christlichen Glaubens erfreut.“
Paulus wendet sich insbesondere an die Starken und bittet sie, auf die Schwachen Rücksicht zu nehmen, sich nicht lustig zu machen über ihre engeren Verhaltensweisen und sich ggf. in bestimmten Situationen auch selbst an die engeren Regeln zu halten - um der Schwachen willen, also ggf. doch auf das bestimmte Fleisch und den Wein zu verzichten.
Ich könnte an dieser Stelle meine Predigt von vor wenigen Wochen wiederholen, als ich über den Besuch der vier Gäste aus unserer tansanischen Partnergemeinde Uyole berichtete. In Uyole wird Christen ja auch der Alkohol strikt verboten und dies mit den Anforderungen des christlichen Glaubens begründet. Uns mag das eng erscheinen. Aber im Sinne dieser Problematik, vor der auch die römische Gemeinde stand, mag es nötig sein, solche festen Regeln zu haben, um den Neuen und im Glauben noch Unsicheren ein festes Haltesystem zu geben, das sie vielleicht so lange brauchen werden, bis sie in ihrem Glauben gefestigt sind und sie gegenüber ihrer andersgearteten und kritischen Umwelt selbstbewusst geworden sind und bis sie selbst ihren neuen Glauben differenzierter betrachten können.
Wenn wir jetzt noch einmal wieder zurück auf uns selbst blicken und jeder sich ganz persönlich fragt: „Wo stehe ich denn? Wie gefestigt oder unsicher bin ich denn hinsichtlich des christlichen Glaubens? Brauche ich Festpunkte im Glauben, brauche ich bestimmte Formen, brauche ich es, dass wenigstens der Pastor - stellvertretend für mich - bestimmte Formen praktiziert, damit ich nicht verunsichert werde, oder komme ich auch so zurecht?
Wenn wir uns selbst so direkt und persönlich fragen, wird die Antwort bei jedem wahrscheinlich etwas anders ausfallen. Und jeder von uns wird im Laufe seines Lebens die Frage vielleicht unterschiedlich beantwortet haben. Es kann in dieser Hinsicht ja auch durchaus unterschiedliche Phasen geben. Zu manchen Zeiten mögen wir meinen, es ginge ohne alle festen Regeln und Strukturen. Zu anderen Zeiten mögen uns diese Regeln gerade wichtig sein.
In der Kindererziehung spielen die verlässlichen festen und verbindlichen Regeln eine bedeutsame Rolle. Abweichungen sind für die Kinder verunsichernd. Als Erwachsene sind wir da in der Regel etwas flexibler, aber nicht immer und nicht jeder und nicht in jeder Lebensphase. Im Umgang miteinander sollen wir gern sagen, was uns auffällt, was uns vielleicht verunsichert und uns stört. Worauf es letztlich ankommt, das will uns Paulus sagen, ist, dass wir uns im gegenseitigen Respekt begegnen, in Liebe zueinander, dass wir einander entgegenkommen, dass gerade die - in Anführungszeichen - „Starken“ den „Schwachen“ entgegenkommen, immer mit der Absicht, den Frieden zu bewahren und das weitere gute Miteinander zu sichern.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 14. September 2008)