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18. Sonntag nach Trinitatis (30.9.18)


Wie wichtig sind Regeln und Rituale?

11. Oktober 1998

18. Sonntag nach Trinitatis

Römer 14,17-19


Ge­le­gent­lich be­rich­ten un­se­re Kin­der zu­hau­se von Re­ak­tio­nen ih­rer Mit­men­schen, wenn die­se ge­ra­de er­fah­ren ha­ben, dass sie es mit ei­nem Pa­sto­ren­sohn, ei­ner Pa­stor­ent­och­ter zu tun ha­ben. „Was, dein Va­ter ist Pas­tor?! Dann be­tet ihr wohl den gan­zen Tag zu­hau­se?!“

Sol­che Re­ak­tio­nen ha­ben für uns et­was Amü­san­tes, weil wir uns als Fa­mi­lie in un­se­rer täg­li­chen Le­bens­füh­rung we­nig von an­de­ren Fa­mi­lien un­ter­schei­den, wie wir mei­nen.

Aber in die­sen Re­ak­tio­nen, die Er­stau­nen, fast Ent­set­zen, und in je­dem Fall wohl auch ei­ne Por­tion Mit­leid mit un­se­ren ar­men Kin­dern zum Aus­druck brin­gen, zeigt sich et­was, wor­um es eben auch im heu­ti­gen Pre­digt­text geht: dass der christ­li­che Glau­be auch etwas mit der prak­ti­schen Le­bens­füh­rung zu tun hat, aber wie, das ist die Fra­ge.

Es ist wohl wahr: Der christ­li­che Glau­be ist nicht nur et­was, was sich im Kopf ab­spielt. Er ist auch nicht nur et­was, was sich im Her­zen ab­spielt. Der christ­li­che Glau­be drückt sich auch in der prak­ti­schen Le­bens­füh­rung aus - in un­se­rem Um­gang mit­ein­an­der von Mensch zu Mensch, in un­se­rem Um­gang mit der Schöp­fung. Und der christ­li­che Glau­be hat auch zu tun mit Ri­ten und Ge­bräu­chen und Fest­en.

Wie es in ei­nem Pa­sto­ren­haus­halt mit den christ­li­chen Ge­bräu­chen aus­zu­se­hen hat, dar­ü­ber gibt es in der Be­völ­ke­rung so ge­wis­se Vor­stel­lun­gen, die ir­gend­wann si­cher­lich auch mal rich­tig wa­ren, die aber mit der Wirk­lich­keit heu­te in den mei­sten Fäl­len kaum noch et­was zu tun ha­ben.

Im Kopf und im Her­zen und in der prak­ti­schen Le­bens­füh­rung sieht es bei je­dem von uns na­tür­lich ein biss­chen an­ders aus. Auch die­je­ni­gen, die ganz be­wusst Chri­sten sein möch­ten, und auch die­je­ni­gen, die aus ih­rem Christ­sein ei­nen Be­ruf ge­macht ha­ben, wer­den ih­ren christ­li­chen Glau­ben un­ter­schied­lich ver­ste­hen, un­ter­schied­lich füh­len und un­ter­schied­lich le­ben.

Es kann sich dann im Kon­flikt­fall die Fra­ge stel­len: „Wer hat recht?“ Mit Kon­flikt mei­ne ich z. B. auch ei­ne sol­che Si­tu­a­tion wie die, die wir - ein paar Jah­re al­ler­dings ist es her - zu­hau­se er­lebt ha­ben, als mir ein Be­su­cher aus ei­ner be­wusst christ­li­chen und from­men Fa­mi­lie an un­se­rem fest­lich ge­deck­ten Tisch zu Be­ginn un­se­res Abend­es­sens mit un­ü­ber­hör­bar vor­wurfs­vol­lem Ton sag­te: „Bei uns wird aber zu Be­ginn des Es­sens das Tisch­ge­bet ge­spro­chen.“

Wir hat­ten ja da­mit ge­rech­net, dass das kom­men könn­te, und hat­ten uns auch im Vor­we­ge über­legt, wie wir uns ver­hal­ten wür­den. Wir ha­ben als Fa­mi­lie, und wie ich fin­de - als christ­li­che Fa­mi­lie - un­se­re ei­ge­ne Art der Le­bens­füh­rung. Aber die Fra­ge in der Be­geg­nung mit an­de­ren ist ja stets: Wie weit sol­len wir nun auf die an­de­ren ein­ge­hen? Wie weit sol­len wir Rück­sicht neh­men, uns um­stel­len und ein­stel­len auf die an­de­ren, um Ver­un­si­che­run­gen und Ver­är­ge­rung zu ver­mei­den?

Wir sind dann meist bei un­se­rer ei­ge­nen Art ge­blie­ben und ha­ben es auf ei­ne even­tuel­le Di­skus­sion an­kom­men las­sen. Die­ses The­ma hat zwei Aspek­te: ei­nen mensch­li­chen und ei­nen mehr the­o­re­ti­schen.

Um zu­nächst bei dem the­o­re­ti­schen Aspekt an­zu­fan­gen, kann sich die Fra­ge stel­len: Von wel­cher Grund­la­ge aus ist ei­ne Ant­wort, ei­ne Lö­sung über­haupt mög­lich? Gibt es all­ge­mei­ne Merk­ma­le, die es er­lau­ben, ei­ne be­stimm­te Den­kungs­art oder be­stimm­te Emp­fin­dun­gen oder be­stimm­te Ver­hal­tens­wei­sen als christ­lich oder nicht-christ­lich oder gar un­christ­lich ein­zu­ord­nen und be­stimm­te Ver­hal­tens­wei­sen als un­ab­ding­bar zu for­dern, wenn sie - z. B. im Pa­sto­ren­haus­halt - für ei­ne christ­li­che Le­bens­füh­rung vor­bild­lich sein sol­len?

Das ist schon ei­ne ziem­lich, um ein Mo­de­wort zu neh­men, ei­ne ziem­lich span­nen­de Fra­ge, und sie ist über­aus ak­tuell und akut. Ei­ne sol­che Fra­ge tritt ge­ra­de in Zei­ten der Kri­se auf, in Zei­ten des Um­bruchs, des Über­gangs und im­mer dort, wo es zur Be­geg­nung von un­ter­schied­li­chen Sy­ste­men kommt - in der Be­geg­nung mit an­de­ren Re­li­gio­nen, an­de­ren Kon­fes­sio­nen, an­de­ren Kul­tu­ren und auch in der Be­geg­nung z. B. mit Kir­chen­fer­nen.  

Wir be­fin­den uns heu­te in der Zeit des Um­bruchs und der Neu­o­rien­tie­rung. Der Text aus dem Rö­mer­brief, der mich über­haupt zu die­sen Ge­dan­ken ver­an­lasst, stammt auch aus ei­ner Zeit der Kri­se. Es ging da­mals um die Be­geg­nung des noch jun­gen Chri­sten­tums mit der rö­mi­schen Re­li­gion.

Ver­set­zen uns jetzt mal in die Zeit von vor 2000 Jah­ren: Pau­lus, im Ju­den­tum groß­ge­wor­den, hat­te sich zum Glau­ben an Je­sus Chri­stus be­kehrt, war dann in ver­schie­de­ne Län­der ge­reist, auch nach Ita­lien, hat­te dort Men­schen um sich ge­sam­melt und sie eben­falls zum Glau­ben an Chri­stus ge­führt. So gab es dann schließ­lich ei­ne klei­ne Grup­pe von Men­schen im Rom, ei­ne er­ste Ge­mein­de, die nun in­mit­ten ei­nes rö­mi­schen Um­felds ih­ren christ­li­chen Glau­ben le­ben soll­te und woll­te. Sie war stän­dig her­aus­ge­for­dert und in­fra­ge ge­stellt durch das rö­mi­sche Um­feld mit der rö­mi­schen Re­li­gion, den rö­mi­schen Ge­bräu­chen und Ri­ten und Fest­en und der gan­zen rö­mi­schen Den­kungs- und Le­bens­art, in der die­se er­sten rö­mi­schen Chri­sten selbst auch groß­ge­wor­den wa­ren. Sie waren um­ge­ben auch von Ver­wand­ten und Be­kann­ten und Freun­den und Nach­barn, die in der rö­mi­schen Re­li­gion ver­blie­ben wa­ren, und die sich nicht be­kehrt hat­ten zu dem neu­en Glau­ben, und die dann wohl mög­lich im­mer mal wie­der frag­ten: „Wa­rum bist du denn ei­gent­lich Ch­rist ge­wor­den? Was fin­dest du denn an die­ser neu­en Re­li­gion?“ Und die sich viel­leicht auch mal lu­stig mach­ten über die Be­kehr­ten.

Die­se er­sten rö­mi­schen Chri­sten wer­den es nicht leicht ge­habt ha­ben, zu ih­rem neu­en Glau­ben zu ste­hen und sich ih­res neu­en Glau­bens si­cher zu sein. Wir kön­nen uns viel­leicht vor­stel­len, dass es da un­ter­schied­li­che Ty­pen und Men­ta­li­tä­ten ge­ge­ben hat - star­ke, selbst­be­wuss­te Men­schen und an­de­re, die eben schwä­cher wa­ren und sich durch kri­ti­sche An­fra­gen und Spöt­te­leien gleich sehr ver­un­si­chert fühl­ten.

Und wir kön­nen uns viel­leicht auch vor­stel­len, dass die schwä­che­ren Men­schen Dinge brauch­ten, an de­nen sie sich fest­hal­ten konn­ten, feste Sät­ze und Re­geln, an de­nen sie ihr Den­ken und ih­re Emp­fin­dun­gen und ih­re Le­bens­füh­rung aus­rich­ten konn­ten.

Von ei­nem sol­chen Fest­punkt ist in un­se­rem Pre­digt­text die Re­de. Es geht da um das Es­sen und Trin­ken, um das Es­sen von Op­fer­fleisch und das Trin­ken von Wein, was bei­des für die rö­mi­sche Kul­tur ty­pisch war und sich mit dem Glau­ben an Chri­stus nicht so recht ver­ein­ba­ren ließ.

Da gab es ei­ni­ge, die sag­ten: „Das macht doch nichts, ich kann Op­fer­fleisch es­sen und trotz­dem mei­nem Glau­ben an Ch­ri­stus ge­recht wer­den.“ Aber für an­de­re war klar: Sie muss­ten sich strikt dem rö­mi­schen Op­fer­fleisch fern­hal­ten, sonst wür­den sie in ih­rem Glau­ben an Chri­stus ver­un­si­chert.

Die er­sten wer­den in dem Pau­lu­stext als die - in An­füh­rungs­zei­chen - „Star­ken“ be­zeich­net, die letz­ten als die - in An­füh­rungs­zei­chen „Schwa­chen“. Die Star­ken wa­ren nach die­sem Sprach­ge­brauch die­je­ni­gen, die es sich zu­traut­en, die Din­ge dif­fe­ren­zier­ter zu se­hen und zu be­han­deln. Als die „Schwa­chen“ gal­ten die­je­ni­gen, die kla­re un­um­stöß­li­che Re­geln brauch­ten, um in ih­rem Glau­ben nicht ver­un­si­chert zu wer­den. In der Be­zie­hung der bei­den Grup­pen zu­ein­an­der gab es Pro­ble­me; da­von han­delt un­ser Text. Die Schwa­chen är­gerten sich über die Star­ken, weil die­se die Din­ge so locker hand­hab­ten. Die Star­ken är­ger­ten sich über die Schwa­chen, weil die­se - aus ih­rer Sicht - so eng­stir­nig wa­ren.

Pau­lus ruft die bei­den Grup­pen da­zu auf, sich ge­gen­sei­tig zu ak­zep­tie­ren. Er sagt: „Was ihr esst und was ihr trinkt, soll doch nicht eu­er Hauptt­he­ma sein. Wich­ti­ger ist der Frie­den un­ter­ein­an­der, und dass ihr ein­an­der ge­recht wer­det in eu­rer je un­ter­schied­li­chen Art und letzt­lich Freu­de an­ein­an­der und mit­ein­an­der habt und euch des christ­li­chen Glau­bens er­freut.“

Pau­lus wen­det sich ins­be­son­de­re an die Star­ken und bit­tet sie, auf die Schwa­chen Rück­sicht zu neh­men, sich nicht lu­stig zu ma­chen über ih­re en­ge­ren Ver­hal­tens­wei­sen und sich ggf. in be­stimm­ten Si­tu­a­tio­nen auch selbst an die en­ge­ren Re­geln zu hal­ten - um der Schwa­chen wil­len, al­so ggf. doch auf das be­stimm­te Fleisch und den Wein zu ver­zich­ten.

Ich könn­te an die­ser Stel­le mei­ne Pre­digt von vor we­ni­gen Wo­chen wie­der­ho­len, als ich über den Be­such der vier Gä­ste aus un­se­rer tan­sa­ni­schen Part­ner­ge­mein­de Uy­o­le be­rich­te­te. In Uy­o­le wird Chri­sten ja auch der Al­ko­hol strikt ver­bo­ten und dies mit den An­for­de­run­gen des christ­li­chen Glau­bens be­grün­det. Uns mag das eng er­schei­nen. Aber im Sin­ne die­ser Pro­ble­ma­tik, vor der auch die rö­mi­sche Ge­mein­de stand, mag es nö­tig sein, sol­che fest­en Re­geln zu ha­ben, um den Neu­en und im Glau­ben noch Un­si­che­ren ein fest­es Hal­te­sy­stem zu ge­ben, das sie viell­eicht so lan­ge brau­chen wer­den, bis sie in ih­rem Glau­ben ge­fest­igt sind und sie ge­gen­ü­ber ih­rer an­ders­ge­ar­te­ten und krit­ischen Um­welt selbst­be­wusst ge­wor­den sind und bis sie selbst ih­ren neu­en Glau­ben dif­fe­ren­zier­ter be­trach­ten kön­nen.

Wenn wir jetzt noch ein­mal wie­der zu­rück auf uns selbst blicken und je­der sich ganz per­sön­lich fragt: „Wo ste­he ich denn? Wie ge­fest­igt oder un­si­cher bin ich denn hin­sicht­lich des christ­li­chen Glau­bens? Brau­che ich Fest­punk­te im Glau­ben, brau­che ich be­stimm­te For­men, brau­che ich es, dass we­nig­stens der Pas­tor - stell­ver­tre­tend für mich - be­stimm­te For­men prak­ti­ziert, da­mit ich nicht ver­un­si­chert wer­de, o­der kom­me ich auch so zu­recht?

Wenn wir uns selbst so di­rekt und per­sön­lich fra­gen, wird die Ant­wort bei je­dem wahr­scheinlich et­was an­ders aus­fal­len. Und je­der von uns wird im Lau­fe sei­nes Le­bens die Fra­ge viel­leicht un­ter­schied­lich be­ant­wor­tet ha­ben. Es kann in die­ser Hin­sicht ja auch durch­aus un­ter­schied­li­che Pha­sen ge­ben. Zu man­chen Zei­ten mö­gen wir mei­nen, es gin­ge oh­ne al­le fest­en Re­geln und Struk­tu­ren. Zu an­de­ren Zei­ten mö­gen uns die­se Re­geln ge­ra­de wich­tig sein.

In der Kin­de­rer­zie­hung spie­len die ver­läss­li­chen fest­en und ver­bind­li­chen Re­geln ei­ne be­deut­sa­me Rol­le. Ab­wei­chun­gen sind für die Kin­der ver­un­si­chernd. Als Er­wach­se­ne sind wir da in der Re­gel et­was fle­xib­ler, aber nicht im­mer und nicht je­der und nicht in je­der Le­bens­pha­se. Im Um­gang mit­ein­an­der sol­len wir gern sa­gen, was uns auf­fällt, was uns viel­leicht ver­un­si­chert und uns stört. Wor­auf es letzt­lich an­kommt, das will uns Pau­lus sa­gen, ist, dass wir uns im ge­gen­sei­ti­gen Re­spekt be­geg­nen, in Lie­be zu­ein­an­der, dass wir ein­an­der ent­ge­gen­kom­men, dass ge­ra­de die - in An­füh­rungs­zei­chen - „Star­ken“ den „Schwa­chen“ ent­ge­gen­kom­men, im­mer mit der Ab­sicht, den Frie­den zu be­wah­ren und das wei­te­re gu­te Mit­ein­an­der zu si­chern. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 14. September 2008)

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