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20. Sonntag nach Trinitatis (14.10.18)


Lebensplanung christlich

16. Oktober 1994

20. Sonntag nach Trinitatis

1. Korinther 7,29-31


„Die Zeit ist kurz“ - die­sen Satz un­se­res Pre­digt­text soll­ten wir zu­nächst be­trach­ten, denn von ihm her lässt sich ver­ste­hen, was uns an­son­sten schwer nach­voll­zieh­bar bliebe.

„Die Zeit ist kurz“ – wel­che Zeit ist kurz? Ge­meint ist die Zeit bis zur Wie­der­kehr Chri­sti, die Zeit bis zum An­bruch des Rei­ches Got­tes. Pau­lus hat in der Er­war­tung ge­lebt, dass er selbst es noch mit­er­le­ben wür­de, wie Je­sus, der ge­stor­ben, auf­er­stan­den und gen Him­mel ge­fah­ren war, wie­der­keh­ren und dann sein Werk voll­en­den würde – und wie sich da­mit die Herr­schaft Got­tes voll ent­fal­ten wür­de.

Viel­leicht ist nicht je­dem von Ih­nen und von Euch die­ses The­ma ei­ner „Wie­der­kehr Je­su Chri­sti“ so ge­läu­fig. Des­halb noch ein paar Er­läu­te­run­gen da­zu. Es wird vermutlich je­dem von uns ein­leuch­ten, dass das Auf­tre­ten Je­su in ge­wis­ser Wei­se ein un­voll­end­e­tes Werk hin­ter­las­sen hat. Je­sus war in sei­nem Hei­mat­land um­her­ge­zo­gen, hat­te ge­pre­digt und viel Gu­tes ge­tan und hat­te al­lent­hal­ben ver­kün­digt: „Das Reich Got­tes ist na­he. Bald bricht die Herr­schaft Got­tes an. Stellt euch dar­auf ein, be­kennt eu­re Sün­den, tut Bu­ße, än­dert eu­er Le­ben, da­mit ihr Gott ru­hi­gen Ge­wis­sens ge­gen­ü­ber­tre­ten könnt.“

Dann war Je­sus ge­stor­ben, er war hin­ge­rich­tet wor­den. Das war ein Schock ge­we­sen für sei­ne An­hän­ger. Denn die Fra­ge war doch: „War al­les, was Je­sus ge­sagt und ge­tan hat­te, da­mit zu­nich­tege­macht?“ Es be­rich­te­ten dann ei­ni­ge, Je­sus sei auf­er­stan­den, er le­be. Da­mit kam ei­ne neue Hoff­nung auf, dass doch nicht al­les ver­ge­bens ge­we­sen sei, dass die Herr­schaft Got­tes doch an­ge­bro­chen sei – in dem Sieg des Le­bens über den Tod. 

Dann ver­gin­gen die Jah­re. Es wa­ren schwe­re Jah­re für die An­hän­ger Je­su. Sie wur­den ge­ring ge­schätzt, ver­ach­tet, ver­spot­tet, man stell­te ih­nen nach, trach­te­te ih­nen nach dem Le­ben; man­cher muss­te sein Le­ben las­sen um sei­nes Glau­bens wil­len. In die­ser schwe­ren Zeit trö­ste­te ei­ner den an­de­ren mit dem Hin­weis: „Du weißt doch: Als Je­sus sich von sei­nen Jün­gern ver­ab­schie­de­te, ver­sprach er ih­nen, dass er im Gei­ste al­le­zeit bei ih­nen sein wür­de und dass sie sich wie­der­se­hen wür­den im Reich Got­tes.“ Die­ser Aus­blick auf ein Wie­der­se­hen gab ih­nen die Kraft, Kri­sen zu durch­ste­hen, Schmä­hun­gen und Ver­fol­gun­gen aus­zu­hal­ten. 

Pau­lus hat auch ei­ni­ges durch­ma­chen müs­sen. Auch er schöpf­te Kraft dar­aus, dass die Lei­den bald ein En­de ha­ben wür­den, dass bald ein neu­es Le­ben un­ter der Herr­schaft Got­tes an­bre­chen wür­de.

Die­se Vor­stel­lung, dass Je­sus Chri­stus bald wie­der­kom­men wür­de, noch zu Leb­zei­ten der er­sten Chri­sten, hat­te für die­se nicht nur ei­ne tröst­li­che und stär­ken­de Wir­kung. Sie hat­te auch Kon­se­quen­zen für die kon­kre­te Le­bens­füh­rung. Sie warf Fra­gen auf: „Wie soll ich mein Le­ben ge­stal­ten an­ge­sichts der Per­spek­ti­ve, dass mor­gen oder in ein paar Mo­na­ten oder in we­ni­gen Jah­ren Je­sus Chri­stus wie­der­keh­ren und sein Werk voll­en­den wird und die Herr­schaft Got­tes zur vol­len Ent­fal­tung kom­men wird?“

Wir kön­nen die Fra­ge ein­mal an uns selbst rich­ten. Dann wer­den wir schnell mer­ken, dass es doch ein gro­ßer Un­ter­schied ist, ob wir in der Vor­stel­lung le­ben, die Welt ge­he im­mer so wei­ter wie bis­her, oder ob wir dar­an glau­ben, dass in Kür­ze al­les ganz an­ders wer­den wer­de, dass sich noch zu un­se­rer Leb­zeit in un­se­rer Welt die Din­ge nach dem ur­ei­gen­sten Wil­len Got­tes re­geln und ei­ne neue Welt ent­ste­hen wür­de: der Him­mel auf Er­den, wo es kei­nen Tod, kein Un­recht, kei­ne Not mehr ge­ben wür­de, kein Be­sit­zen oder Nichtbe­sit­zen, kein Ver­hei­ra­tetsein oder Nicht­ver­hei­ra­tetsein.

Dann wer­den näm­lich ganz prak­ti­sche Fra­gen even­tuell ganz un­ter­schied­lich be­ant­wor­tet: Soll ich mir ein Haus kau­fen oder nicht? Soll ich noch hei­ra­ten oder nicht? Soll ich, so­fern ich Skla­ve bin – so et­was gab es ja da­mals noch – da­von­lau­fen und mich frei­ma­chen aus dem Skla­ven­stand? Soll ich als Kauf­mann mein über­schüs­si­ges Geld lang­fri­stig ir­gend­wo an­le­gen oder viel­leicht lie­ber jetzt so­fort für kurz­fri­sti­ge Zie­le aus­ge­ben?

Die Vor­stel­lung, Je­sus könn­te in kur­zer Zeit wie­der­kom­men und al­les ver­än­dern, hat ei­ne – zu­min­dest in man­cher Hin­sicht – ähn­li­che Wir­kung wie et­wa die Vor­stel­lung, ich hät­te nur noch ei­ne kur­ze Zeit zu le­ben, nur noch ein paar Ta­ge, ein paar Wo­chen oder Mo­na­te oder auch nur noch we­ni­ge Jah­re. Das ist doch et­was an­de­res, als wenn man mit der Per­spek­ti­ve lebt, man habe noch ei­ne lan­ge Le­bens­zeit vor sich.

Klar ist al­ler­dings wohl auch, dass Men­schen un­ter­schied­lich um­ge­hen mit der Vor­stel­lung ei­ner kurz­fri­sti­gen oder lang­fri­sti­gen Per­spek­ti­ve.

Pau­lus war je­den­falls von der Vor­stel­lung ge­prägt, Je­sus Chri­stus wür­de noch zu sei­nen Leb­zei­ten wie­der er­schei­nen. Er hat dar­aus ei­ni­ge Rat­schlä­ge ab­ge­lei­tet, die wir in un­se­rem Pre­digt­text vor uns ha­ben.

Nun wis­sen wir in­zwi­schen, dass Pau­lus sich in die­sem Punkt geirrt hat. Je­sus Chri­stus ist noch nicht wie­der­ge­kehrt. Die Wie­der­kehr, so sa­gen wir, hat sich ver­zö­gert und die Ver­zö­ge­rung dau­ert wei­ter an. Und kei­ner weiß so recht, wie lan­ge noch. Es hat zwar im­mer wie­der Men­schen und Grup­pen ge­ge­ben, die ge­sagt ha­ben: Nun ist es so weit, am sound­so­viel­ten, und die da­zu auf­ge­ru­fen ha­ben, sich dar­auf ein­zu­stel­len, al­len Be­sitz zu ver­kau­fen, z. B. A­ber bis­her ha­ben sich al­le ge­täuscht. Und so war­ten wir wei­ter.

Es ist wich­tig, dass wir zur Kennt­nis neh­men, dass Pau­lus die­se Na­her­war­tung ge­habt hat. Denn das kann uns vor Miss­ver­ständ­nis­sen sei­ner Äu­ße­run­gen be­wah­ren. Wenn sich Pau­lus äu­ßert zur Fra­ge: Hei­ra­ten oder nicht hei­ra­ten, dann lässt er sich eben nicht nur lei­ten von mo­ra­li­schen Vor­stel­lun­gen oder von Vor­stel­lungen von Sinn und Zweck ei­ner Ehe, son­dern er gibt ei­nen Rat­schlag eben auch und vor al­lem mit Blick auf die Tat­sa­che, dass die ge­sell­schaft­li­che Ord­nung wie über­haupt al­le Din­ge des Le­bens in Kür­ze so ganz an­ders sein wür­den, dass Ver­hei­ra­tetsein oder Nichver­hei­ra­tetsein dann ei­gent­lich kei­ne Rol­le mehr spie­len wür­de, sodass jetzt auch kei­ne Not­we­nig­keit mehr be­stün­de, den ei­ge­nen Sta­tus zu ver­än­dern. Wer un­ver­hei­ra­tet ist, soll doch ru­hig un­ver­hei­ra­tet blei­ben, rät er, und wer ver­hei­ra­tet ist – viel­leicht mit ei­nem Nicht­chri­sten – soll es doch auch da­bei be­las­sen.

An­ge­sichts des be­vor­ste­hen­den En­des pre­digt Pau­lus uns ei­ne ge­wis­se Ge­las­sen­heit hin­sicht­lich der so­zi­a­len und ge­sell­schaft­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten. Ge­ra­de was die Ehe und was z. B. die Exi­stenz von Skla­ven an­geht, mag uns das et­was ge­gen den Strich ge­hen. Aber wie ge­sagt die End­zeit­vor­stel­lung spiel­te für Pau­lus ei­ne we­sent­li­che Rol­le.

Wir müs­sen und kön­nen ihm in die­ser Hin­sicht nicht fol­gen. Wir ste­hen ja vor der Tat­sa­che, dass sich die Wie­der­kehr Chri­sti, die Voll­en­dung des Rei­ches Got­tes wei­ter ver­zö­gert. Das ist ein Tat­be­stand, den die Ge­ne­ra­tio­nen nach Pau­lus und auch wir heu­te noch mit zu be­rück­sich­ti­gen ha­ben.

Wir müs­sen un­ser Le­ben, un­ser per­sön­li­ches, das nur ei­ne Rei­he von Jahr­zehn­ten an­dau­ert, aber auch das ge­sell­schaft­li­che, das über un­se­re ei­ge­ne Le­bens­zeit hin­aus­geht – wir müs­sen un­ser per­sön­li­ches und das ge­sell­schaft­li­che Le­ben mit ei­ner Lang­zeit­per­spek­ti­ve pla­nen. Da­rum müs­sen wir z. B. heu­te zur Wahl ge­hen und kön­nen nicht sa­gen: „Es kommt nicht so drauf an, denn in Kür­ze greift Gott in die­ses Le­ben ein und wird al­les ver­än­dern.“ Wir müs­sen die Ar­beits­lo­sig­keit, den Hun­ger und all die son­sti­gen Män­gel und Un­ge­rech­tig­kei­ten in un­se­rem ge­sell­schaft­li­chen Le­ben ernst­neh­men und auch durch even­tuell nur lang­fri­stig wir­ken­de Maß­nah­men zu be­sei­ti­gen ver­su­chen. Wir müs­sen uns über die An­la­ge von Gel­dern Ge­dan­ken ma­chen, über An­schaf­fun­gen, wir müs­sen an die Ren­ten­ver­sor­gung den­ken. Und die Fra­ge, ob wir hei­ra­ten wol­len oder nicht, er­le­digt sich nicht mit dem Ge­dan­ken: „Mor­gen wird die­se Welt oh­ne­hin nicht mehr die von heu­te sein.“

Im übri­gen hat Mar­tin Lu­ther ei­nen be­kann­ten Satz ge­sagt, den wir in die­sem Zu­sam­men­hang in ge­wis­ser Wei­se Pau­lus ent­ge­gen­hal­ten kön­nen. Die Ein­stel­lung von Pau­lus ist: Weil mor­gen die Welt durch Got­tes Ein­grei­fen an­ders sein wird, will er schon heu­te kei­ne lang­fri­stig wir­ken­den Maß­nah­men mehr er­grei­fen. Lu­ther hat da­ge­gen ge­sagt - Sie ken­nen das: „Wenn ich wüss­te, dass mor­gen die Welt un­ter­gin­ge, wür­de ich heu­te noch ei­nen Ap­fel­baum pflan­zen.“ Da hat sich Lu­ther an­ders ent­schie­den als Pau­lus. Auf die Bei­spie­le des Pau­lus über­tra­gen wür­de das z. B. hei­ßen: Wenn ich wüss­te, dass die Welt mor­gen durch Got­tes Ein­grei­fen ganz an­ders sein wür­de, wür­de ich den­noch heu­te hei­ra­ten und mir ein Haus kau­fen.

Wir ha­ben ge­lernt, dass wir nicht wis­sen kön­nen, was mor­gen ist. Mir scheint, wenn wir die Ein­stel­lung von Pau­lus und von Lu­ther zu­sam­men­tun, dann ha­ben wir für un­se­re Le­bens­ge­stal­tung ei­ne brauch­ba­re Grund­la­ge. Um zu­nächst noch ein­mal bei Lu­thers Satz an­zu­set­zen: Was wir heu­te für gut und rich­tig hal­ten, das sol­len wir nicht un­ter­las­sen, nur weil wir mei­nen, es wür­de mor­gen kei­nen Be­stand mehr ha­ben. Da wir nicht wis­sen kön­nen, was mor­gen ist, kön­nen wir uns nur nach dem rich­ten, was uns heu­te sinn­voll er­scheint.

Und Pau­lus: Auch, wenn wir nicht wis­sen, was mor­gen ist, kann für un­se­re Le­bens­ge­stal­tung die Vor­stel­lung hilf­reich sein, mor­gen stün­de Je­sus Chri­stus vor der Tür oder mor­gen müss­ten wir vor das Ant­litz Got­tes tre­ten. Das kann uns wach und wach­sam hal­ten. Das kann uns vor Gleich­gül­tig­keit be­wah­ren. Das kann uns da­zu an­hal­ten, das, was uns im Sin­ne Je­su und im Sin­ne Got­tes wich­tig ist, schon heu­te zu tun. Es kann un­ser Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein stär­ken. Auch die­se Rich­tung gibt es im Neu­en Te­sta­ment: den Auf­ruf zur Wach­sam­keit.

Bei­des al­so gilt: Die Din­ge des Le­bens ernst neh­men und sie den­noch ge­las­sen se­hen. Das Le­ben pla­nen, oh­ne zu mei­nen, wir hät­ten da­mit al­les ge­re­gelt. Be­sitz er­wer­ben, oh­ne dar­in un­se­re Si­cher­heit zu su­chen. Hei­ra­ten oder auch nicht hei­ra­ten und dies der ernst­haf­ten Ent­schei­dung der Be­trof­fe­nen über­las­sen.

„Die Zeit ist kurz“ – die­ser Hin­weis kann hilf­reich sein für die Le­bens­ge­stal­tung. Die Zeit ist kurz, je­der Tag ist wert­voll, je­de Stun­de ist ein wun­der­ba­res Ge­schenk. Je­de Mi­nu­te for­dert uns zu gan­zer Hin­ga­be her­aus. Je­der Au­gen­blick ist des Dan­kes wert.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 16. Oktober 1994)

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