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3. Sonntag nach Epiphanias (26.1.20)


Krise macht kreativ

21. Januar 1996

3. Sonntag nach Epiphanias

Apostelgeschichte 10,21-35


Wir ha­ben hier ei­nen Text aus dem Neu­en Te­sta­ment vor uns, ei­nen Ab­schnitt aus der Apo­stel­ge­schich­te des Lu­kas. In sei­ner Apo­stel­ge­schich­te schil­dert uns Lu­kas die An­fän­ge der christ­li­chen Kir­che. Wie hat das an­ge­fan­gen mit der Kir­che, mit dem christ­li­chen Glau­ben? Das ist doch ei­gent­lich ei­ne in­ter­es­san­te Fra­ge. Das ist ja im­mer­hin schon an die 2000 Jah­re her. Heu­te sit­zen wir hier im­mer noch, Kir­che exi­stiert noch, der christ­li­che Glau­be exi­stiert noch. Das ist doch er­staun­lich. An­de­rer­seits be­fin­den sich Kir­che und christ­li­cher Glau­be in ei­ner Kri­se. Das könn­te uns Grund und An­lass sein zu grund­sätz­li­chen Ge­dan­ken, zu fra­gen: Wie war es da­mals, wie ist es heu­te, was kön­nen wir ler­nen aus der Ver­gan­gen­heit?

Ei­ne Ein­sicht, die ich für die heu­ti­ge Kri­sen­si­tu­a­tion z. B. ganz hilf­reich fin­de, ist die, dass die Kir­che mal ganz klein an­ge­fan­gen hat. Da wa­ren zu­nächst we­ni­ge Men­schen um die­sen Je­sus von Na­za­reth he­rum, und zwar sch­lich­te, ein­fa­che Men­schen und ziem­lich mit­tel­lo­se Men­schen. Und die Si­tu­a­tion, in der es mit dem christ­li­chen Glau­ben anfing, war an­de­rer­seits al­les an­de­re als ein­fach. Die Um­stän­de wa­ren höchst schwie­rig. Das Chri­sten­tum wuchs in ei­ner Si­tu­a­tion der Feind­se­lig­keit auf. Es wur­de nicht mit of­fe­nen Ar­men auf­ge­nom­men. Im Ge­gen­teil: Wer sich zum christ­li­chen Glau­ben be­kann­te, war sich sei­nes Le­bens nicht mehr si­cher.

Viel­leicht war das so­gar hilf­reich für die Aus­brei­tung des christ­li­chen Glau­bens. Ge­ra­de die ge­mein­sa­me Be­dro­hung moch­te die er­sten Chri­sten zu­sam­men­gesch­weißt ha­ben und ih­re Wi­der­stands­kraft ge­stärkt ha­ben.

Da­von bin ich über­zeugt: Schwie­rig­kei­ten ha­ben nicht nur et­was Ne­ga­ti­ves an sich. Pro­ble­me rei­ßen ei­nen nicht nur run­ter. Pro­ble­me kön­nen auch auf­bau­en. Aus ei­ner Kri­se kön­nen wir auch ge­stärkt her­vor­ge­hen. Wenn man es zu be­quem hat, ist das ja auch nicht gut: Wenn wir nur ge­nüss­lich im Ses­sel sit­zen, weil al­les klar ist, dann wer­den un­se­re Mu­skeln schlaff, der Bauch wächst, wir wer­den trä­ge, auch un­ser Geist wird trä­ge, uns fällt nichts mehr ein, und wir mei­nen auch, uns nichts mehr ein­fal­len las­sen zu müs­sen, weil al­les läuft.

Die Kri­se ist auch ei­ne Chan­ce. Als sol­che soll­ten wir sie nut­zen. Die Kri­se der Kir­che ist ei­ne Chan­ce zur Er­neu­e­rung. Es ist uns doch schon seit Jahr­zehn­ten klar, dass es nicht so wei­ter­ge­hen kann wie bis­her: dass die For­men, die Spra­che, der Ar­beits­stil, die An­sprü­che in der Kir­che re­no­vie­rungs­be­dürf­tig sind. Es ist ja auch man­ches an Ver­än­de­rung ver­sucht wor­den. Aber der Durch­bruch ist noch nicht ge­schafft. Der gan­ze gro­ße Druck war noch nicht da. Aber jetzt kommt er. Und ich be­haup­te: Das wird uns gut­tun. Der Druck kann wie ein Be­frei­ungs­schlag wir­ken und den Pfrop­fen aus dem Fla­schen­hals her­aus­drücken, und dann kann der köst­li­che Wein flie­ßen.

Na­tür­lich kann man an ei­ner Kri­se auch zu­grun­de ge­hen. Aber die­se Ge­fahr se­he ich im Fal­le der Kir­che und des christ­li­chen Glau­bens nicht. Denn das, wor­um es im christ­li­chen Glau­ben im Kern geht, das ist exi­sten­tiell so be­deut­sam und so stark, dass es un­aus­rott­bar ist. In dem Sin­ne dür­fen wir ganz fest an die Auf­er­ste­hung glau­ben.

Die in Je­sus Chri­stus ver­kör­per­te Lie­be Got­tes zum Men­schen - die kann nicht aus­ge­löscht wer­den. Die­se Bot­schaft ist nun ein­mal in der Welt - und sie wird ge­braucht. Das Ja zum Men­schen und das Ja zum Le­ben - nach bei­dem wird im­mer drin­gen­der Be­darf be­ste­hen wie nach dem täg­li­chen Brot, wie nach Was­ser, wie nach Luft und wie nach Licht. Denn das brau­chen wir zum Le­ben. Der Mensch - und wir zäh­len ja al­le zu die­ser Gat­tung hin­zu - ist wirk­lich in vie­ler Hin­sicht ein sehr pro­ble­ma­ti­sches We­sen. Aber wir al­le wol­len ge­liebt wer­den, und wir wol­len uns auch an­de­ren in Lie­be zu­wen­den. Des­we­gen wer­den wir nicht nach­las­sen, nach dem zu su­chen, was uns im Neu­en Te­sta­ment an­ge­bo­ten wird.

Und wie der Mensch, so ist auch das Le­ben über­haupt ei­ne über­aus pro­ble­­ma­ti­sche An­ge­le­gen­heit. Aber wir wol­len le­ben, und wir wol­len auch neu­es Le­ben schen­ken. Da­rum wer­den wir auch hier nicht nach­las­sen, nach dem zu su­chen, was un­se­ren Wunsch und un­se­ren Wil­len und un­se­re Sehn­sucht nach Le­ben stärkt. Und die­se Kraft emp­fan­gen wir aus den bi­bli­schen Tex­ten. Da ist die Quel­le des Le­bens. Sie wird nicht ver­sie­gen.

Die Kri­se ist ei­ne Chan­ce. Sie nimmt uns so rich­tig in die Man­gel und schüt­telt uns durch. Das wird uns gut­tun.

Die Kri­se kann uns die Au­gen öff­nen für man­che Aspek­te des christ­li­chen Glau­bens, die wir bis­her nicht so recht wahr­ge­nom­men ha­ben, die uns aber viel­leicht wei­ter­hel­fen kön­nen. Blicken wir in die Apo­stel­ge­schich­te des Lu­kas zu­rück - in den heu­ti­gen Ab­schnitt. Der han­delt ins­be­son­de­re von Pe­trus und Kor­ne­li­us. Die­se bei­den Men­schen be­geg­nen sich. Der Hin­ter­grund die­ser Be­geg­nung hat, wie ich fin­de, et­was sehr Er­hel­len­des an sich.

Pe­trus war ei­ner der Jün­ger Je­su ge­we­sen. Er hat­te sich, nach­dem Je­sus gestor­ben, auf­er­stan­den und gen Him­mel ge­fah­ren war und sei­ne Jün­ger al­lein zu­rück­ge­las­sen hat­te, auf den Weg ge­macht. Pe­trus hat­te sich auf den Weg ge­macht von Je­ru­sa­lem nach Cä­sa­rea.

Wer war Pe­trus ge­we­sen? Pe­trus war auf­ge­wach­sen in der Tra­di­tion der jü­di­schen Re­li­gion - wie Je­sus ja auch. Dann hat­te er Je­sus ken­nen­ge­lernt und war zu ei­nem sei­ner An­hän­ger ge­wor­den. Und schließ­lich fühl­te er sich be­ru­fen, die Sa­che Je­su wei­ter­zu­tra­gen.

Er trug sie wei­ter, er mach­te sich im wört­li­chen Sin­ne auf den Weg, auf den Weg nach Cä­sa­rea - das war ei­ne Stadt an der Kü­ste, ei­ne Stadt am Ran­de des Ein­zugs­be­reichs der jü­di­schen Re­li­gion. Er be­gab sich al­so in frem­des Ter­ri­to­ri­um, in die Ge­gend frem­der re­li­gi­ö­ser Ein­flüs­se.

In die­ser Si­tu­a­tion kom­men jetzt drei re­li­gi­ö­se Strö­mun­gen zu­sam­men: die jü­di­sche, die christ­li­che und, wie die Bi­bel es im­mer for­mu­liert, die heid­ni­sche. Das ist ei­gent­lich ein schlech­ter Be­griff, ich möch­te in die­sem kon­kre­ten Fall mal sa­gen: die rö­mi­sche Re­li­gion, denn Kor­neli­us war ein rö­mi­scher Haupt­mann.

Al­so noch ein­mal: Pe­trus und Kor­ne­li­us be­geg­nen sich. Pe­trus ist in der jü­di­schen Re­li­gion auf­ge­wach­sen und zum Chri­sten ge­wor­den, und Kor­ne­li­us ist in dem rö­mi­schen Viel­göt­ter­glau­ben auf­ge­wach­sen, aber vol­ler Sym­pa­thie für die Re­li­gion des Lan­des, in dem er nun als Frem­der lebt und ar­bei­tet.

Die­se - ich sag das jetzt mal mit den Wor­ten un­se­rer Ta­ge - die­se in­ter­kul­tu­rel­le und in­ter­re­li­giö­se Be­geg­nung ist bri­sant, ex­plo­siv, aber auch sehr kre­a­tiv. Wo sich Men­schen aus ver­schie­de­nen Län­dern, und noch da­zu mit ver­schie­de­nem re­li­gi­ö­sen Hin­ter­grund be­geg­nen, da ist zum ei­nen Ge­fahr im Ver­zu­ge, das ist uns ja - lei­der - ei­ne täg­li­che Er­fah­rung. Aber da ist zum an­de­ren ei­ne enor­me Chan­ce ge­ge­ben, dass sich Neu­es ent­wickelt.

Man­che Mens­chen ha­ben Angst vor dem An­ders­ar­ti­gen, vor dem Fremd­ar­ti­gen. Man­che ha­ben so­gar ei­nen Wi­der­wil­len. Man­che ent­wickeln so­gar Ag­gres­sio­nen ge­gen das, was an­ders ist, als was sie ge­wohnt sind. Das scheint in der Na­tur des Men­schen zu lie­gen. Die Bi­bel selbst ist voll von sol­chen Ab­gren­zungs­ten­den­zen ge­gen­ü­ber dem Frem­den. Das Volk Is­rael hat sich tra­di­tio­nell ab­ge­grenzt und hat deut­lich un­ter­schie­den zwi­schen de­nen aus dem Volk und den an­de­ren, de­nen aus an­de­ren Völ­kern und Re­li­gio­nen, den sog. Hei­den. Nach al­ten israe­li­ti­schen Ge­set­zen war z. B. die Hei­rat mit ei­nem Men­schen von au­ßer­halb des ei­ge­nen Vol­kes un­ter­sagt. Frem­de, Hei­den, gal­ten als un­­rein im re­li­gi­ös-kul­ti­schen Sin­ne. Man soll­te sie noch nicht ein­mal be­su­chen. Sol­che Re­ge­lun­gen gal­ten noch bis in die Zeit des Neu­en Te­sta­ments hin­ein. Sie spie­len auch in un­se­rem heu­ti­gen Pre­digt­ab­schnitt ei­ne Rol­le.

Pe­trus, der, wie ge­sagt, in der jü­di­schen Re­li­gion auf­ge­wach­sen war und sich noch als Ju­de fühl­te, und der nun das Haus des rö­mi­schen Haupt­manns Kor­ne­li­us be­tritt, sagt zu den An­we­sen­den qua­si ent­schul­di­gend: „Ei­gent­lich darf ich als Ju­de die­ses heid­ni­sche Haus gar nicht be­tre­ten und euch als Frem­den so na­he­kom­men. Aber ich tue es trotz­dem.“

Das ist für uns jetzt der sprin­gen­de Punkt: „Gott hat mir auf­ge­tra­gen, kei­nen Men­schen als un­rein an­zu­se­hen.“ Pe­trus über­win­det die Bar­rie­re zwi­schen sich und dem Frem­den, und das heißt zwi­schen sich als Men­schen jü­di­scher Her­kunft und dem Mann des rö­mi­schen Rei­ches, der rö­mi­schen Re­li­gion. Zu die­ser Grenz­ü­ber­schrei­tung fühlt sich Pe­trus er­mu­tigt und be­ru­fen durch sei­nen neu­en Glau­ben. Denn durch Je­sus Chri­stus hat er Gott neu se­hen und ver­ste­hen ge­lernt, und da­bei war ihm auf­ge­gan­gen: Es kann nicht der Wil­le Got­tes sein, Gren­zen zwi­schen Men­schen auf­zu­bau­en und auf­recht­zuer­hal­ten. Die Gren­zen müs­sen über­schrit­ten wer­den, Be­geg­nun­gen müs­sen in al­ler Frei­heit er­laubt sein, und nicht nur das: Sie müs­sen ge­för­dert wer­den.

Der christ­li­che Glau­be för­dert sol­che Grenz­ü­ber­schrei­tun­gen. Mit der Lie­be Got­tes zum Men­schen ver­trägt es sich nicht, Gren­zen kul­tu­rel­ler und re­li­gi­ö­ser Art zu zie­hen und Men­schen aus­zu­gren­zen. Es könn­te ei­ner sa­gen: Kor­ne­li­us war ein Son­der­fall. Er war von vorn­her­ein sehr of­fen ge­gen­ü­ber der jü­di­schen Re­li­gion und der neu­en christ­li­chen Strö­mung; er stand so­zu­sa­gen schon halb im an­de­ren La­ger. Aber die­ses Ar­gu­ment dür­fen wir nicht gel­ten las­sen. Wir sind im Sin­ne der gren­zen­lo­sen Lie­be Got­tes zur Grenz­ü­ber­schrei­tung al­len Men­schen ge­gen­ü­ber be­auf­tragt, auch un­ab­hän­gig von de­ren Sym­pa­thie für uns und un­se­re kul­tu­rel­le und re­li­gi­ö­se Art.

Ich möch­te noch ei­nes hin­zu­fü­gen: Ab­ge­se­hen von den mensch­li­chen Aspek­ten der kul­tu­rel­len und in­ter­re­li­gi­ö­sen Be­geg­nung sind sol­che Be­geg­nun­gen auch au­ßer­or­dent­lich kre­a­tiv im be­sten Sin­ne des Wor­tes. Aus sol­chen Be­geg­nun­gen ent­steht Neu­es. Auch das Chris­ten­tum, un­ser christ­li­cher Glau­be, ist das Er­geb­nis - das wun­der­ba­re Er­geb­nis - in­ter­kul­tu­rel­ler und in­ter­re­li­gi­ö­ser Be­geg­nung. Wie ge­sagt, Petrus war von Haus aus Ju­de. Und auch Je­sus war Ju­de. In der jü­di­schen Re­li­gion lie­gen die Wur­zeln des christ­li­chen Glau­bens. Und die jü­di­sche Re­li­gion hat sich wie­de­rum aus der Be­geg­nung mit et­li­chen an­de­ren Re­li­gio­nen her­aus­ge­bil­det. Rö­mi­sche, grie­chi­sche und an­de­re Ein­flüs­se ha­ben im wei­te­ren Ver­lauf den christ­li­chen Glau­ben mit ge­formt. Das kön­nen wir al­les noch aus der Bi­bel selbst her­aus­le­sen.

Die in­ter­re­li­gi­ö­se und in­ter­kul­tu­rel­le Be­geg­nung ist aus mensch­li­chen Grün­den und um des Frie­dens wil­len ei­ne gro­ße Auf­ga­be. Sie ist da­rü­ber hin­aus auch ei­ne Quel­le der Kre­a­ti­vi­tät. Kre­a­ti­vi­tät brau­chen wir in der Kir­che, in ei­ner Zeit der Kri­se mehr denn je.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 21. Januar 1996)

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