Wir haben hier einen Text aus dem Neuen Testament vor uns, einen Abschnitt aus der Apostelgeschichte des Lukas. In seiner Apostelgeschichte schildert uns Lukas die Anfänge der christlichen Kirche. Wie hat das angefangen mit der Kirche, mit dem christlichen Glauben? Das ist doch eigentlich eine interessante Frage. Das ist ja immerhin schon an die 2000 Jahre her. Heute sitzen wir hier immer noch, Kirche existiert noch, der christliche Glaube existiert noch. Das ist doch erstaunlich. Andererseits befinden sich Kirche und christlicher Glaube in einer Krise. Das könnte uns Grund und Anlass sein zu grundsätzlichen Gedanken, zu fragen: Wie war es damals, wie ist es heute, was können wir lernen aus der Vergangenheit?
Eine Einsicht, die ich für die heutige Krisensituation z. B. ganz hilfreich finde, ist die, dass die Kirche mal ganz klein angefangen hat. Da waren zunächst wenige Menschen um diesen Jesus von Nazareth herum, und zwar schlichte, einfache Menschen und ziemlich mittellose Menschen. Und die Situation, in der es mit dem christlichen Glauben anfing, war andererseits alles andere als einfach. Die Umstände waren höchst schwierig. Das Christentum wuchs in einer Situation der Feindseligkeit auf. Es wurde nicht mit offenen Armen aufgenommen. Im Gegenteil: Wer sich zum christlichen Glauben bekannte, war sich seines Lebens nicht mehr sicher.
Vielleicht war das sogar hilfreich für die Ausbreitung des christlichen Glaubens. Gerade die gemeinsame Bedrohung mochte die ersten Christen zusammengeschweißt haben und ihre Widerstandskraft gestärkt haben.
Davon bin ich überzeugt: Schwierigkeiten haben nicht nur etwas Negatives an sich. Probleme reißen einen nicht nur runter. Probleme können auch aufbauen. Aus einer Krise können wir auch gestärkt hervorgehen. Wenn man es zu bequem hat, ist das ja auch nicht gut: Wenn wir nur genüsslich im Sessel sitzen, weil alles klar ist, dann werden unsere Muskeln schlaff, der Bauch wächst, wir werden träge, auch unser Geist wird träge, uns fällt nichts mehr ein, und wir meinen auch, uns nichts mehr einfallen lassen zu müssen, weil alles läuft.
Die Krise ist auch eine Chance. Als solche sollten wir sie nutzen. Die Krise der Kirche ist eine Chance zur Erneuerung. Es ist uns doch schon seit Jahrzehnten klar, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher: dass die Formen, die Sprache, der Arbeitsstil, die Ansprüche in der Kirche renovierungsbedürftig sind. Es ist ja auch manches an Veränderung versucht worden. Aber der Durchbruch ist noch nicht geschafft. Der ganze große Druck war noch nicht da. Aber jetzt kommt er. Und ich behaupte: Das wird uns guttun. Der Druck kann wie ein Befreiungsschlag wirken und den Pfropfen aus dem Flaschenhals herausdrücken, und dann kann der köstliche Wein fließen.
Natürlich kann man an einer Krise auch zugrunde gehen. Aber diese Gefahr sehe ich im Falle der Kirche und des christlichen Glaubens nicht. Denn das, worum es im christlichen Glauben im Kern geht, das ist existentiell so bedeutsam und so stark, dass es unausrottbar ist. In dem Sinne dürfen wir ganz fest an die Auferstehung glauben.
Die in Jesus Christus verkörperte Liebe Gottes zum Menschen - die kann nicht ausgelöscht werden. Diese Botschaft ist nun einmal in der Welt - und sie wird gebraucht. Das Ja zum Menschen und das Ja zum Leben - nach beidem wird immer dringender Bedarf bestehen wie nach dem täglichen Brot, wie nach Wasser, wie nach Luft und wie nach Licht. Denn das brauchen wir zum Leben. Der Mensch - und wir zählen ja alle zu dieser Gattung hinzu - ist wirklich in vieler Hinsicht ein sehr problematisches Wesen. Aber wir alle wollen geliebt werden, und wir wollen uns auch anderen in Liebe zuwenden. Deswegen werden wir nicht nachlassen, nach dem zu suchen, was uns im Neuen Testament angeboten wird.
Und wie der Mensch, so ist auch das Leben überhaupt eine überaus problematische Angelegenheit. Aber wir wollen leben, und wir wollen auch neues Leben schenken. Darum werden wir auch hier nicht nachlassen, nach dem zu suchen, was unseren Wunsch und unseren Willen und unsere Sehnsucht nach Leben stärkt. Und diese Kraft empfangen wir aus den biblischen Texten. Da ist die Quelle des Lebens. Sie wird nicht versiegen.
Die Krise ist eine Chance. Sie nimmt uns so richtig in die Mangel und schüttelt uns durch. Das wird uns guttun.
Die Krise kann uns die Augen öffnen für manche Aspekte des christlichen Glaubens, die wir bisher nicht so recht wahrgenommen haben, die uns aber vielleicht weiterhelfen können. Blicken wir in die Apostelgeschichte des Lukas zurück - in den heutigen Abschnitt. Der handelt insbesondere von Petrus und Kornelius. Diese beiden Menschen begegnen sich. Der Hintergrund dieser Begegnung hat, wie ich finde, etwas sehr Erhellendes an sich.
Petrus war einer der Jünger Jesu gewesen. Er hatte sich, nachdem Jesus gestorben, auferstanden und gen Himmel gefahren war und seine Jünger allein zurückgelassen hatte, auf den Weg gemacht. Petrus hatte sich auf den Weg gemacht von Jerusalem nach Cäsarea.
Wer war Petrus gewesen? Petrus war aufgewachsen in der Tradition der jüdischen Religion - wie Jesus ja auch. Dann hatte er Jesus kennengelernt und war zu einem seiner Anhänger geworden. Und schließlich fühlte er sich berufen, die Sache Jesu weiterzutragen.
Er trug sie weiter, er machte sich im wörtlichen Sinne auf den Weg, auf den Weg nach Cäsarea - das war eine Stadt an der Küste, eine Stadt am Rande des Einzugsbereichs der jüdischen Religion. Er begab sich also in fremdes Territorium, in die Gegend fremder religiöser Einflüsse.
In dieser Situation kommen jetzt drei religiöse Strömungen zusammen: die jüdische, die christliche und, wie die Bibel es immer formuliert, die heidnische. Das ist eigentlich ein schlechter Begriff, ich möchte in diesem konkreten Fall mal sagen: die römische Religion, denn Kornelius war ein römischer Hauptmann.
Also noch einmal: Petrus und Kornelius begegnen sich. Petrus ist in der jüdischen Religion aufgewachsen und zum Christen geworden, und Kornelius ist in dem römischen Vielgötterglauben aufgewachsen, aber voller Sympathie für die Religion des Landes, in dem er nun als Fremder lebt und arbeitet.
Diese - ich sag das jetzt mal mit den Worten unserer Tage - diese interkulturelle und interreligiöse Begegnung ist brisant, explosiv, aber auch sehr kreativ. Wo sich Menschen aus verschiedenen Ländern, und noch dazu mit verschiedenem religiösen Hintergrund begegnen, da ist zum einen Gefahr im Verzuge, das ist uns ja - leider - eine tägliche Erfahrung. Aber da ist zum anderen eine enorme Chance gegeben, dass sich Neues entwickelt.
Manche Menschen haben Angst vor dem Andersartigen, vor dem Fremdartigen. Manche haben sogar einen Widerwillen. Manche entwickeln sogar Aggressionen gegen das, was anders ist, als was sie gewohnt sind. Das scheint in der Natur des Menschen zu liegen. Die Bibel selbst ist voll von solchen Abgrenzungstendenzen gegenüber dem Fremden. Das Volk Israel hat sich traditionell abgegrenzt und hat deutlich unterschieden zwischen denen aus dem Volk und den anderen, denen aus anderen Völkern und Religionen, den sog. Heiden. Nach alten israelitischen Gesetzen war z. B. die Heirat mit einem Menschen von außerhalb des eigenen Volkes untersagt. Fremde, Heiden, galten als unrein im religiös-kultischen Sinne. Man sollte sie noch nicht einmal besuchen. Solche Regelungen galten noch bis in die Zeit des Neuen Testaments hinein. Sie spielen auch in unserem heutigen Predigtabschnitt eine Rolle.
Petrus, der, wie gesagt, in der jüdischen Religion aufgewachsen war und sich noch als Jude fühlte, und der nun das Haus des römischen Hauptmanns Kornelius betritt, sagt zu den Anwesenden quasi entschuldigend: „Eigentlich darf ich als Jude dieses heidnische Haus gar nicht betreten und euch als Fremden so nahekommen. Aber ich tue es trotzdem.“
Das ist für uns jetzt der springende Punkt: „Gott hat mir aufgetragen, keinen Menschen als unrein anzusehen.“ Petrus überwindet die Barriere zwischen sich und dem Fremden, und das heißt zwischen sich als Menschen jüdischer Herkunft und dem Mann des römischen Reiches, der römischen Religion. Zu dieser Grenzüberschreitung fühlt sich Petrus ermutigt und berufen durch seinen neuen Glauben. Denn durch Jesus Christus hat er Gott neu sehen und verstehen gelernt, und dabei war ihm aufgegangen: Es kann nicht der Wille Gottes sein, Grenzen zwischen Menschen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Die Grenzen müssen überschritten werden, Begegnungen müssen in aller Freiheit erlaubt sein, und nicht nur das: Sie müssen gefördert werden.
Der christliche Glaube fördert solche Grenzüberschreitungen. Mit der Liebe Gottes zum Menschen verträgt es sich nicht, Grenzen kultureller und religiöser Art zu ziehen und Menschen auszugrenzen. Es könnte einer sagen: Kornelius war ein Sonderfall. Er war von vornherein sehr offen gegenüber der jüdischen Religion und der neuen christlichen Strömung; er stand sozusagen schon halb im anderen Lager. Aber dieses Argument dürfen wir nicht gelten lassen. Wir sind im Sinne der grenzenlosen Liebe Gottes zur Grenzüberschreitung allen Menschen gegenüber beauftragt, auch unabhängig von deren Sympathie für uns und unsere kulturelle und religiöse Art.
Ich möchte noch eines hinzufügen: Abgesehen von den menschlichen Aspekten der kulturellen und interreligiösen Begegnung sind solche Begegnungen auch außerordentlich kreativ im besten Sinne des Wortes. Aus solchen Begegnungen entsteht Neues. Auch das Christentum, unser christlicher Glaube, ist das Ergebnis - das wunderbare Ergebnis - interkultureller und interreligiöser Begegnung. Wie gesagt, Petrus war von Haus aus Jude. Und auch Jesus war Jude. In der jüdischen Religion liegen die Wurzeln des christlichen Glaubens. Und die jüdische Religion hat sich wiederum aus der Begegnung mit etlichen anderen Religionen herausgebildet. Römische, griechische und andere Einflüsse haben im weiteren Verlauf den christlichen Glauben mit geformt. Das können wir alles noch aus der Bibel selbst herauslesen.
Die interreligiöse und interkulturelle Begegnung ist aus menschlichen Gründen und um des Friedens willen eine große Aufgabe. Sie ist darüber hinaus auch eine Quelle der Kreativität. Kreativität brauchen wir in der Kirche, in einer Zeit der Krise mehr denn je.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 21. Januar 1996)