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4. Sonntag nach Trinitatis (14.7.19)


Selbstkritisch urteilen und erziehen

8. Juli 1979

4. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 6,36-42


Als in Hamburg in diesem Jahr einmal die Sonne schien - und die Sonne schien in diesem Jahr, wie wir wissen selten -, schwänzten viele Studenten ihre Veranstaltungen an der Universität und legten sich irgendwo ins grüne Gras und genossen den warmen und raren Sonnenschein. Einer der Professoren war über diese laxe Arbeitshaltung erbost. Er setzte sich an den Schreibtisch und verfasste einen Brief an seine Studenten. Darin machte er seiner Verärgerung Luft und wies die Schwänzer zurecht: "Ich und ein paar andere haben sich bei der letzten Sitzung über den abwesenden Teil geärgert", schrieb er. "Es geht nicht, dass mehr als die Hälfte fehlt, nur weil gutes Wetter ist." Und weiter schrieb er: "Für mich ist das schon eine Frage der Moral, ob man das Engagement für das Studium und das theologische Interesse von der Wetterlage abhängig macht.

Diejenigen, die diesen Brief erhielten, waren einigermaßen verblüfft. Denn an der Universität wird es mit der Anwesenheit bei Veranstaltungen grundsätzlich großzügig gehandhabt. Da erdreistet sich sonst kaum jemand, den Studenten in dieser Form einen Vorwurf daraus zu machen, dass sie einmal - aus welchem Grund auch immer - durch Abwesenheit glänzen. Außerdem hat ein solcher Vorwurf einen stark moralischen Unterton. Die natürliche Reaktion darauf ist etwa die folgende: „Wofür hält der sich, dass er es wagt, uns durch einen derartigen Vorwurf zur Rechenschaft zu ziehen?! Ist seine eigene Arbeitsmoral etwa immer untadelig?" Vorwürfe rufen spontan unseren Widerstand hervor. 

Der besagte Professor schloss seinen Brief mit den Worten: „Freundliche Grüße, und ich schieße mit 2. Thessalonicher 3,14!“ Nach dem ersten Schock über diesen Brief wird dann jeder Student vermutlich mit Spannung den angegebenen Bibeltext nachgeschlagen haben. Darin steht: „ So aber jemand nicht gehorsam ist unserem Wort, den zeigt an durch einen Brief und habt nichts mit ihm zu schaffen, auf dass er schamrot werde.“ 

Diese Bibelstelle wird allgemeine Heiterkeit ausgelöst und dazu beigetragen haben, den Brief nicht mehr ganz so tierisch ernst zu nehmen, sondern mit etwas Humor noch einmal zu lesen. Dennoch bleibt die Frage - und deshalb habe ich überhaupt diese kleine Geschichte erzählt - die Frage: Steht es jemandem zu, anderen einen moralischen Vorwurf zu machen, sich also gewissermaßen über andere zu erheben und sie von oben herab zu tadeln? Diese Frage stellt sich besonders dringlich mit Blick auf unseren heutigen Predigttext, wo es unter anderem heißt: „Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders und nimmst nicht den Balken in deinem Auge wach? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Halt still Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst!"

Hier wird doch offensichtlich davor gewarnt, über den anderen zu urteilen, moralisch zu urteilen. Diese Warnung ausgesprochen mit dem Hinweis darauf, dass wir zunächst viel mehr Grund hätten, über uns selbst zu Gericht zu sitzen. In der Tat, wenn wir uns einmal selbstkritisch beleuchten, werden wir feststellen: Die schlechten Eigenschaften, die wir an anderen bemängeln, sind zugleich auch unsere eigenen schlechten Eigenschaften. In der Geschichte von der Ehebrecherin führt uns das Jesus besonders deutlich vor Augen: „Wer von euch ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein", sagte er. Und sie gingen alle beschämt von dannen. Wenn wir jemandem überhaupt irgendwelche moralischen Vorwürfe zu machen haben, dann doch zunächst und vor allem uns selbst. Das leuchtet ein.

 Aber, und ich sage gleich „aber", weil sich mir eine Frage gestellt, die vielleicht zu einer anderen Antwort führt: Wie ist das mit der Erziehung? Müssen wir nicht doch vielfach urteilen, beurteilen und auch verurteilen, auch dann, wenn uns selbst die moralische Autorität dazu fehlt, und ist das nicht eigentlich immer der Fall?! Müssen wir nicht ein Kind tadeln, wenn es lügt, obwohl wir doch wahrhaftig alle schon einmal gelogen haben, und nicht nur einmal? Und müssen wir nicht einem Kind Verhaltensweisen anerziehen, die ihm helfen können, mit seinem Leben in einem guten Sinne fertig zu werden, Verhaltensweisen wie zum Beispiel: Höflichkeit, Geduld, Toleranz, Hilfsbereitschaft, auch wenn wir selbst weder besonders höflich nach geduldig noch tolerant noch hilfsbereit sind? Oder dürfen wir unseren Kindern nur solche Verhaltensweisen anzuerziehen versuchen, die wir selbst vorbildlich verwirklichen? Dann müssten wir wohl vollends schweigen und Erziehung fände nicht mehr statt. Das wäre aber wiederum ganz offensichtlich nicht zum Nutzen der Kinder.

Also, wir müssen wohl - wohl oder übel - erziehen, das heißt lehren, tadeln, mahnen, urteilen, beurteilen, verurteilen und so Gaben zu vermitteln versuchen, die wir selbst nicht oder nur unvollkommen haben. In unserem Predigttext steht die Frage: „Kann etwa ein Blinder einen Blinden leiten? Werden nicht alle beide in die Grube fallen?" Darauf ließe sich vielleicht zu antworten: Ob ein Blinder einen anderen Blinden leiten kann, das weiß man erst hinterher, wenn er es getan hat. Das ist jedenfalls eine risikoreiche Sache. Der Ausgang ist stets ungewiss. Aber, ob wir's können oder nicht, ist im Grunde eine theoretische Frage. In Wirklichkeit müssen wir es nämlich tun: Als Blinde müssen wir Blinde führen, wie das Beispiel der Erziehung zeigt. Und dass dabei beide in die Grube fallen können, hat die Geschichte immer wieder bewiesen. Die Erziehung im Dritten Reich etwa hat nicht nur zu einem Fall in die Grube, sondern in die Hölle geführt. Und, um ein anderes aktuelleres und harmloseres Beispiel zu nennen: Manche sind zu dem Schluss gekommen, dass die antiautoritäre Erziehung ein Irrweg sei und schon viele „Erzieher" und „Zu Erziehende" zu Fall gebracht habe.

Also noch einmal: Tadeln, mahnen, beurteilen, verurteilen müssen wir wohl und können es zu Recht tun, sogar mit biblischen Auftrag, wie der besagte Professor es unter Bezugnahme auf 2. Thessalonicher 3, Vers 14 tat: "Schreib dem Ungehorsamen einen Brief, auf dass er schamrot werde."

Andererseits heißt es in unserem Predigttext auch: „Richtet nicht, verurteilt nicht!“ Wie ist denn beides miteinander zu verbinden?

Mir scheint es folgendermaßen zu sein: Wenn wir urteilen, urteilen müssen, sollen wir daran denken, dass unser Urteil falsch sein kann. Wenn wir den anderen tadeln, sollen wir daran denken, dass wir selbst des Tadels bedürfen. Wenn wir andere kritisieren, sollen wir es nicht ohne Selbstkritik tun. Wir sollen nicht vergessen, dass unser Urteil niemals ein letztgültiges Urteil sein kann. Wir sollen nicht vergessen, dass wir nicht die Autorität haben, in letzter Instanz zu urteilen. Kein Mensch hat die Befugnisse eines höchsten Richters.

Wenn wir also urteilen, urteilen müssen, sollen wir es in aller Bescheidenheit und Zurückhaltung mit einem bussfertigen Herzen tun. Und unser Urteil soll barmherzig sein, es soll den anderen aufbauen, nicht ihn zerstören. Es soll ihm helfen, nicht ihn zu Fall bringen. Wir sollen den anderen mit dem Maß messen, mit dem auch wir gemessen werden möchten: dem Maß der Güte und Barmherzigkeit, des Wohlwollens, der Liebe. Wenn wir dann einmal irren, wird es ein verzeihlicher Irrtum sein.

(Predigt in der Kreuzkirche in Cuxhaven-Altenwalde, am 8. Juni 1979)

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