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Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres (11.11.18)


Trotz Hiobsbotschaften gilt die gute Nachricht

6. November 1988

Hiob 14,1-6 


Wir gehen nun auf das Ende des Kirchenjahres zu. Da wird uns zur Aufgabe gemacht, was wir auch am Ende eines Lebens tun, nämlich zurückzuschauen, das Leben in seiner Ganzheit zu bedenken und grundsätzliche Fragen zu stellen zum Verlauf und Sinn des Lebens.

Für diese Überlegungen wird uns heute ein Abschnitt aus dem Hiobbuch zugrunde gelegt. Hiob, diese alttestamentliche Gestalt, ist uns wohl allen gut bekannt. Hiob war der Mann, der – obwohl rechtschaffen und fromm – großes Leid zu ertragen hatte. Ich sage absichtlich: „Obwohl rechtschaffen und fromm.“ Denn eigentlich hätte er solche Not nicht verdient gehabt. Das war jedenfalls seine eigene Meinung, und auch unter uns heute finden wir immer noch diese Vorstellung verbreitet, dass Unglück eine Strafe und Wohlergehen eine Belohnung für das entsprechende Verhalten sei. „Womit habe ich das verdient? Ich habe mir doch nichts zuschulden kommen lassen“, hören wir. Und: „Warum musste gerade mir dies passieren?! Bin ich denn schlechter als andere Menschen?“

Hiob war ein reicher Mann gewesen. Siebentausend Schafe und dreitausend Kamele, fünfhundert Joch Rinder und fünfhundert Eselinnen waren sein Eigen gewesen. Darüber hinaus hatte er viel Personal und eine große Familie gehabt. Sieben Söhne und drei Töchter.

Eines Tages erhält Hiob die Nachricht, die Hiobsbotschaft, wie wir seitdem zu sagen pflegen, dass alle seine Tiere vernichtet worden und seine Kinder umgekommen sind. Wenig später wird Hiob von einer furchtbaren Krankheit heimgesucht: Von Kopf bis Fuß ist sein Körper von Geschwüren bedeckt. Wie antwortet Hiob auf dieses unsagbare Leid?

Zwei Sätze sind uns aus seinem Mund besonders bekannt, Worte einer völligen Gottgeborgenheit: Das eine im Anschluss an den Verlust seiner Tiere und seiner Kinder: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, gelobt sei der Name des Herrn.“ Mit dem zweiten Ausspruch antwortet Hiob auf seine Krankheit: „Das Gute nehmen wir von Gott an. Sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?“ Mit diesen Worten nimmt Hiob das ihm zugefügte Leid als gottgegeben an. Durch diese Haltung ist er zum Vorbild geworden. Seine Worte haben viele Menschen in der Situation des Leids zu trösten vermocht.

Wenn wir das Hiobbuch einmal ganz durchlesen, fällt allerdings auf, dass uns in anderen Kapiteln Hiob anders geschildert wird. Schon im 3. Kapitel lesen wir Hiobs Klage. Nicht der gottergebene, sondern der klagende Hiob steht hier vor uns: „Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren wurde! Warum starb ich nicht bei meiner Geburt? Dann läge ich nun im Grab und hätte meine Ruhe.“

Es ist erschütternd, die Klage des Hiob zu lesen. Den ganzen Schmerz seines Leibes und seiner Seele schreit er Gott entgegen. Ein zutiefst menschlicher Hiob begegnet uns hier. Vielleicht haben wir in manchen Situationen unseres eigenen Lebens auch einmal so starke Empfindungen durchlebt wie er und uns nicht anders zu helfen gewusst, als mit geballter Wucht zu klagen.

Neben der fast heroisch-gottergebenen und der zutiefst menschlich-verzweifelten Art begegnet uns Hiob noch in einer dritten Weise. Hiob geht mit Gott ins Gericht – in dem Sinne, wie wir das schon am Anfang angedeutet haben: „Womit, Gott, habe ich dieses Unglück verdient? Ich habe mir doch nichts zuschulden kommen lassen.“

Hiob stellt Gott zur Rede. Er will eine Erklärung. Herausgefordert ist Hiob zu diesem Ansinnen durch seine Freunde, die Hiob durch Erklärungsversuche zu trösten versuchen, allerdings auf untaugliche Art: „Vielleicht bist du, Hiob, doch nicht so rechtschaffen und fromm gewesen, wie wir immer gedacht haben und wie du von dir selbst immer behauptet hast. Wenn du von Gott mit so schwerem Unglück bestraft worden bist, dann wird das schon seine Ursache in deiner Biographie haben. Denk doch mal nach über dein Leben und versuche herauszufinden, womit du den Zorn Gottes erregt haben könntest!“

Hiob ist über seine Freunde und ihre anzüglichen Versuche, ihn zu trösten, erbost. Er setzt sich heftig zur Wehr, indem er ihre Argumentationskette gründlich hinterfragt. Vielleicht begegnet uns hierin ein Hauptthema des Hiobbuches überhaupt, die Frage nämlich, was es denn mit der Gerechtigkeit Gottes auf sich habe. Straft Gott wirklich den Ungerechten und Unfrommen und belohnt er den Guten?

Hiob schaut auf sein Leben zurück und nicht nur auf sein eigenes. Er wirft einen Blick auf die menschliche Gesellschaft insgesamt und kommt zu dem Schluss: „Gott achtet nicht des Unrechts.“ Viele Beispiele führt er an, wie es den Ungerechten und Unfrommen gut geht, ja bestens ergeht: „Die Gottlosen bleiben leben“, sagt Hiob, „sie werden alt und nehmen zu an Kraft. Ihr Nachwuchs bleibt ihnen erhalten. Ihre Häuser sind sicher vor dem Schrecken, und die Rute Gottes schlägt sie nicht. Sie verbringen in Glück ihre Tage und in Frieden fahren sie zum Totenreich, obwohl sie doch zu Gott sprechen: Weiche von uns! Deine Wege zu kennen, verlangt uns nicht.“

Dem Gottlosen geht es gut, als würde er für seine Gottlosigkeit belohnt. Und umgekehrt: Wie sieht es aus mit ihm, dem Frommen und Guten? Wie ist es ihm ergangen? Hiob legt ausführlich sein ganzes Leben dar und breitet die vielen guten Taten, sein ganzes tadelloses Verhalten aus: „Ich rettete den Armen, der um Hilfe schrie, die Waise, die sonst keinen Helfer hatte. Ich kleidete mich in Gerechtigkeit. Auge wurde ich dem Blinden und Fuß war ich dem Lahmen.“

Mit einem langen Leben für sich und seine Familie hatte Hiob zur Belohnung gerechnet. Doch was war nun geworden? Hiob fühlt sich von Gott verlassen. „Siehe, ich gehe nach Osten, da ist er nicht. Nach Westen: Ich gewahre ihn nicht. Im Norden suche ich ihn, ich schaue ihn nicht, und biege um nach Süden – ich sehe ihn nicht.“

Dass Gott die Guten belohnt und die Bösen bestraft – diese Weisheit hat sich für ihn als törichter Irrglaube erwiesen. Schön wäre es gewesen, ja. Dann hätten sich alle Anstrengungen gelohnt. Doch nun ist Hiob erfüllt von der frustrierenden Einsicht: Es bringt nichts. Was soll’s? Ein höheres Ziel ist nicht zu erreichen. Sterben müssen wir eh, alles wird vergeblich gewesen sein. „Der Mensch, vom Weibe geboren, ist kurzen Lebens und voller Unruhe. Wie eine Blume geht er auf und welkt, schwindet dahin wie ein Schatten und hat nicht Bestand.“

In eine tiefe Krise ist Hiob geraten. Die natürliche Vergänglichkeit des Menschen erlebt er nun zugleich als Nachweis der Sinnlosigkeit seines Lebens: „Über ein solches vergängliches Wesen hältst du, Gott, dein Auge offen und ziehst es vor dein Gericht?“ Welchen Sinn soll es haben, an den Menschen, dessen Jahre gezählt sind, irgendwelche Ansprüche zu stellen, wenn früher oder später doch alles vorbei ist?

„Lass ihn in Ruhe! Lass den Menschen in Ruhe, Gott! Blicke weg von ihm und lass ihn ruhen, dass er wenigstens seines Tages froh werde wie ein Tagelöhner!“

Wenn der Mensch schon sterben muss und in seinem Leben nichts erreichen kann, dann soll er doch wenigstens den einzelnen Tag genießen dürfen! Wir spüren die bittere Enttäuschung Hiobs. Alle höheren Ziele sind ihm sinnlos geworden. Das Leben hat keine Perspektive mehr für ihn. Er fühlt sich zurückgeworfen auf die nackte bloße Existenz. Sie allein ist die einzige Wirklichkeit. Und dies bisschen soll dem Menschen wenigstens vergönnt sein.

„Lass mich in Ruhe, Gott!“ – Hiobs Krise ist eine Krise, in die vielleicht jeder von uns früher oder später einmal hineingerät. Wir können nur jedem wünschen, dass er durch die Krise hindurchkommt, sie überwindet und zu einer neuen Perspektive seines Lebens findet.

„Gott straft die Bösen und belohnt die Guten“ – dieses Konzept ist in der Tat nicht tragbar. Aber damit ist nicht schon der Sinn unseres Lebens und der Sinn ethischen Bemühens in Frage gestellt. Das Neue Testament hilft uns durch Christus zu einer neuen Sichtweise. Auch Christus hatte wie Hiob, ja, vielmehr als Hiob, als Unschuldiger gelitten. Er hatte unverdient gelitten. Dies hat den Sinn seines Lebens nicht zunichtegemacht. Christus hat sein Leiden als Leiden für andere verstanden. Er hat sein Leiden als Aufgabe verstanden, darin anderen Leidenden verbunden zu sein. Er hat sein Leiden nicht als sein ganz persönliches Schicksal, sondern als ein Mitleiden begriffen, als ein solidarisches Leiden. Sein Leiden ist darum nicht ein Nachweis der Ungerechtigkeit Gottes, sondern, so schwer begreiflich das auch sein mag –, ein Zeichen der Liebe Gottes geworden.

Unsere vergängliche Kreatürlichkeit hat dadurch einen neuen Glanz erhalten. Wir sind doch nicht auf uns selbst zurückgeworfen, wie Hiob das erlebt hat. Wir haben eine Perspektive, die über uns, die über unsere leidvolle natürliche Existenz hinausweist: „Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“, denn der mitleidende Christus ist unter uns gegenwärtig. Die leibhaftige Liebe Gottes ist bei uns in allen Krisen unseres Lebens. Sie stärkt uns und gibt uns ein Ziel und führt uns hindurch.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 6. November 1988

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