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Letzter Sonntag nach Epiphanias (2.2.20)


Priester, König, Richter, Gottes- und Menschensohn

24. Januar 1988

Letzter Sonntag nach Epiphanias

Offenbarung 1,9-18 


Diesen sonderbaren Text möchte ich unter zwei Aspekten betrachten. Erstens: „Was sagt er uns über Jesus Christus?“, und zweitens: „Was sagt er uns über unsere Zukunft?“ Beides gehört zusammen.

Zunächst: Ein sonderbarer Text! Ich weiß nicht, ob Sie einmal die Offenbarung des Johannes ganz durchgelesen haben. Das ist wirklich ein Buch voller sonderbarer Vorstellungen und Bilder. Es wird darin unter anderem von dem „Buch mit den sieben Siegeln“ gesprochen. So kann einem die ganze Offenbarung des Johannes vorkommen: wie ein Buch mit sieben Siegeln – also ein geheimnisvolles Buch, das uns in seinem Inhalt verschlossen bleibt oder doch schwer zu erschließen ist.

Ich schlage vor, dass wir noch einmal den Text durchgehen, die Bilder betrachten und sie dann auf ihre Bedeutung für uns hin befragen.

Es spricht hier ein Mann namens Johannes, ein Christ aus den Gemeinden Kleinasiens aus der Gegend der heutigen West-Türkei. Er weiß sich mit seinen Mitchristen verbunden, zum Beispiel durch die gemeinsame Situation der Bedrängnis, wie er sagt, also der Verfolgung, und auch durch den gemeinsamen Glauben an Jesus Christus und die Verheißungen Gottes. Er befindet sich auf der Insel Patmos, einer Insel in der Ägäis. Sie ist der westtürkischen Küste vorgelagert. Vielleicht ist er dorthin von den Römern verbannt worden. Er sagt, er müsse sich dort aufhalten wegen des Wortes Gottes und der Verkündigung Jesu Christi. Sein Predigen hatte ihn möglicherweise die Freiheit gekostet.

Dort in der Einsamkeit der abgeschiedenen Insel hat Johannes am Tag des Herrn, also am Sonntag, dem Tag, an dem wir allwöchentlich der Auferstehung Jesu Christi gedenken, ein Erlebnis, vielleicht können wir sagen: ein ekstatisches Erlebnis. Er hat eine Audition und eine Vision, er hört etwas und sieht etwas. Und er erlebt eine Beauftragung, das Gehörte und Gesehene weiterzugeben an die sieben Gemeinden in Klein-Asien. Sie werden namentlich genannt. Ich brauche das nicht zu wiederholen.

Wahrscheinlich gab es dort noch mehr Gemeinden. Aber die Zahl 7 kommt in der Offenbarung des Johannes oft vor. Es war eine heilige Zahl.

Zunächst also hört Johannes etwas, eine Stimme wie von einer Posaune. Als er sich umblickt, erkennt er sieben Leuchter. Sie stellen die sieben Gemeinden dar, wie er dann im weiteren Verlauf erfährt. Inmitten dieser Leuchter erblickt er eine Gestalt, die nun in den Mittelpunkt unseres Interesses rückt, eine Gestalt mit fülligem weißen Haar wie Wolle, weiß wie Schnee, eine gottgleiche Gestalt – das sollen uns diese äußeren Merkmale wohl sagen. Die Gestalt ist bekleidet mit einem langen Gewand, der Bekleidung eines Priesters nämlich, und trägt einen goldenen Gürtel um die Brust wie ein König Israels.

Wie wir sehen, vereint diese Gestalt die Merkmale eines Priesters und Königs in einer Person. Aber mehr noch: Die Augen sind wie die Feuerflammen, ein alles durchdringender Blick, wie die Augen Gottes, vor denen nichts verborgen bleibt. Und die Worte sind wie ein scharfes zweischneidiges Schwert, wie die Worte eines Richters, der sein Urteil fällt.

In der Hand hält die Gestalt sieben Sterne, Zeichen der Macht. Und das Antlitz leuchtet wie die Sonne – alles in allem eine gottgleiche Gestalt, Priester, König und Richter zugleich. Vor einer solchen Person kann der Mensch nur in die Knie gehen und in Demut und mit Furcht und Zittern niederfallen.

Als Johannes vor dieser übermächtigen Gestalt wie tot niederfällt, spürt er die Hand auf sich – nicht, dass er noch weiter niedergedrückt werde, sondern mehr in einer segnenden und tröstenden Art: „Fürchte dich nicht“, sagt die Stimme zu ihm, „ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.“ Wir erkennen die Stimme Jesu Christi.

Es mag uns sonderbar berühren, dass gerade er uns in einer solchen übermächtigen Gestalt begegnet. Noch vor wenigen Wochen, zu Weihnachten, waren wir so ergriffen von der Schlichtheit seines Äußeren, von den armseligen Umständen, unter denen er in unsere Welt hineingeboren wurde, als Kind armer Eltern, in einem Stall, gleich verfolgt, den menschlichen Niedrigkeiten ausgesetzt. In ihm konnten wir uns selbst wiedererkennen, einen Bruder und Gefährten unserer zerbrechlichen menschlichen Art. Und nun dieses erhabene übermächtige Auftreten in göttlicher Macht.

Was also wird uns über Jesus Christus gesagt? Als Sohn Gottes hatten wir ihn schon zu Weihnachten kennengelernt: in dem Sinne freilich, dass in der schwächlichen menschlichen Gestalt Gott selbst in unsere Welt hineingekommen ist, als Mensch unter Menschen, als Leidender unter Leidenden, um mitzugehen, zu trösten und zu heilen, zu stärken die Schwachen und Mut zu machen den Verzagten, den Schuldiggewordenen Vergebung zuzusprechen.

Als Sohn Gottes haben wir ihn bei seiner Taufe erlebt: „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“

Als Sohn Gottes ist er mehr als ein Mensch, aber er ist uns doch menschlich sehr nahe. Ja, das Menschliche ist gerade der besondere Akzent dieses Titels. Denn es ist Gott, der uns nun in menschlicher Gestalt erscheint.

Von der Gestalt, vor der Johannes niederfällt, wird in unserem Text gesagt: „Sie war wie die eines Menschen Sohn.“ Es ist hier aber nicht das Menschliche der besondere Akzent. Es ist das Göttliche einer menschlichen Gestalt. Es ist das Gottgleiche des Menschen Jesus, um das es hier geht. Das Thema ist hier nicht die menschliche Solidarität, sondern etwas, das über den Bereich unseres Menschlichen hinausgeht, etwas, das über die Erfahrungswelt unseres täglichen Lebens hinausweist. Thema ist die Zukunft der Menschheit, der weitere Verlauf der Geschichte, ja, das Ende, auf das hin sich alles zubewegt, das Ende, und wie wir dann auch sagen können: die Vollendung.

Auch mit diesem Bereich wird Jesus in Verbindung gebracht: nicht nur mit unserer täglichen Not, sondern auch mit unserem endzeitlichen Sein als Menschheit. So weit beides voneinander entfernt zu sein scheint, so nah liegt es doch beieinander, so eng ist es doch ineinander verwoben.

Unsere täglichen Erfahrungen werfen die Frage nach dem Lauf unserer Geschichte immer wieder zwingend und bedrängend auf.

Die Frage nach dem Lauf der Geschichte ist zugleich die Frage nach dem Sinn der Geschichte, nach dem Sinn jedes einzelnen Ereignisses, vor allem des einzelnen Ereignisses, das uns für sich genommen wie sinnlos erscheint. Vor allem angesichts der Erfahrung des Leids in seinen vielfältigen Formen, der kleine Nöte und der großen Katastrophen, der kleinen Gefährdungen und der globalen Bedrohungen stellt sich die Frage nach dem Sinn des Ganzen, nach dem großen Zusammenhang, in dem sich alles sinnvoll zusammenfügt, in dem das scheinbar Sinnlose doch einen Sinn erhält, in dem das Böse seine gute Seite offenbart, das Schreckliche seine Wohltat.

Für die christlichen Gemeinden zur Zeit des Johannes war dies eine bedrängende Frage. Denn sie hatten es um ihres Glaubens willen im täglichen Leben schwer genug. Wer ist bereit, Not auf sich zu nehmen, wenn sie sinnlos ist? Wer hat die Kraft, Leid zu ertragen, wenn kein Sinn zu erkennen ist? Wer kann Gefahren hoffnungsvoll durchstehen, wenn da nicht eine verheißungsvolle Perspektive ist? Wir stehen vor den gleichen Fragen, in konkret anderen Formen freilich, aber doch im Grunde gleich.

Die Nöte, Niederlagen und Gefährdungen in unserem ganz persönlichen Bereich, aber auch und vielleicht vor allem die umfassenden ökologischen Schäden und Bedrohungen, die weltweiten sozialen Probleme und die nicht endenden kriegerischen Auseinandersetzungen hier und dort und die militärischen Risiken allerorten halten die Frage drängend wach, wohin das alles führen wird.

Johannes wird beauftragt, hierzu den Gemeinden in Klein-Asien eine Botschaft mitzuteilen. Die Offenbarung, die ihm auf Patmos zuteilgeworden ist, ist eine Schau der Zukunft, eine Vision der Schrecken zunächst, aber dann doch und vor allem die Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde.

Die Offenbarung des Johannes wird als apokalyptisches Buch bezeichnet. Aber es wäre falsch, es für ein Buch des Weltuntergangs zu halten. Es ist zwar viel und ausführlich von schrecklichen Katastrophen die Rede; im Grunde wird eine Entwicklung geschildert, wie wir sie uns angesichts der heutigen Bedrohungen nur allzu gut vorstellen können. Aber am Ende steht nicht der totale Untergang der Menschheit. Die globalen Unglücke sind wie eine Durchgangsstation zu einer neuen Welt unter der Herrschaft Gottes: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Er selbst wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein. Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Denn das Erste ist vergangen.“

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 24. Januar 1988)

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