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22.-28.3.20


Loslassen und empfangen

Johannes 12,24


Jesus musste sterben, sonst hätte er nichts ausrichten können. Warum war sein Sterben notwendig? Er hätte doch auch reden, noch mehr reden können, z. B. als Rabbi wirken und lehren können. Hätte er nicht auch so seine Sache vertreten und Erfolge erzielen können? 

Warum reichten auch seine Taten nicht aus, seine guten Tat, dass er z. B. Kranke heilte, mit Verachteten sprach und sich mit ihnen an einen Tisch setzte? 

Das Bild vom Weizenkorn macht mit einem Beispiel aus dem Bereich der Natur deutlich, dass es so etwas gibt: die Notwendigkeit zu sterben, damit neues Leben entsteht. Wenn das Weizenkorn an seiner eigenen Existenz festhalten könnte, würde künftig nichts Neues mehr wachsen. Wir könnten uns selbst weitere Beispiele für dieses Phänomen suchen. Die Theologin Dorothee Sölle sagte einmal: „Man kann erst richtig leben, wenn man selbst einmal gestorben ist.“ Damit wollte sie wohl sagen: Erst wer selbst einmal an die letzten Grenzen seines eigenen Lebens gelangt ist, begreift, was Leben heißt, und kann dadurch auch eine besondere Kraft zum Leben empfangen. 

Es gibt außerdem das Phänomen, dass sich ein Plan manchmal erst dadurch erfüllt, dass wir ihn aufgeben. Immer mal wieder wird von Ehepaaren berichtet, die jahrelang kein Kind bekamen, obwohl sie gern eins haben wollten. Erst als sich das Paar entschloss, ein Kind zu adoptieren, wurde die Frau schwanger. 

Es gibt weitere Beispiele dafür, wie sich uns manche Dinge um so mehr entziehen, je mehr wir an ihnen festzuhalten versuchen. Für das Eltern-Kind-Verhältnis kann das zutreffen, überhaupt für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. 

Vieles in unserem Leben ist geradezu paradox, erscheint uns geradezu unausweichlich widersprüchlich. Manchmal hat diese Paradoxie geradezu tragische Formen. Oftmals kommen wir nicht auf dem direkten Weg zum Ziel. 

So geht offenbar auch Gott selbst verschlungene Pfade, um uns an sein Ziel zu führen. Das Kreuz erscheint vielen als eine Torheit. Es ist in der Tat schwer zu begreifen. Bilder wie das vom Weizenkorn mögen uns helfen, die Paradoxie des Kreuzes, den Tod als die Bedingung neuen Lebens zu verstehen. Der Tod ist nicht nur Untergang. Er ist nicht nur das Ende, sondern zugleich die Quelle neuen Lebens. Das gilt nicht nur im Biologischen, sondern auch im geistigen und geistlichen Sinne.

(Morgenandacht in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 15. März 1988)

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