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13. Sonntag nach Trinitatis (15.9.19)


Wir sind eine große Familie

5. September 1993

13. Sonntag nach Trinitatis

Markus 3,31-35


Stel­len Sie sich bit­te ein­mal fol­gen­de Si­tu­a­tion vor: In ei­nem Pfarr­haus sitzt die vier­köp­fi­ge Fa­mi­lie beim Mit­ta­ges­sen. Es klin­gelt an der Tür. Der Pfar­rer öff­net; drau­ßen steht ein Ob­dach­lo­ser. Er bit­tet um et­was Geld, um sich et­was zu es­sen kau­fen zu kön­nen. Der Pfar­rer sagt: „Kom­men Sie doch her­ein. Wir sit­zen ge­ra­de zu Tisch. Sie kön­nen gern mit­es­sen.“ Der Ob­dach­lo­se tritt ein. Der Pfar­rer zeigt ihm das Ba­de­zim­mer. Dann kommt der Gast in das Ess­zim­mer und nimmt am Tisch Platz. Die Frau des Pfar­rers füllt ihm den Tel­ler auf und ei­nes der Kin­der fragt den Un­be­kann­ten: „Wie heißt du denn?“ – „Egon, hei­ße ich“, sagt der Frem­de und fängt – noch et­was schüch­tern – an zu es­sen. Auch die an­de­ren es­sen wei­ter und un­ter­hal­ten sich da­bei über dies und je­nes, und hier und da be­zie­hen sie den Gast in das Ge­spräch mit ein. Am En­de sind al­le satt. Der Ab­wasch steht an und das klei­ne Nicker­chen. Der Frem­de be­dankt sich für das Es­sen und der Pfar­rer ge­lei­tet ihn zur Tür. „Noch­mals vie­len Dank“, sagt der Frem­de und macht sich wie­der auf den Weg.

Die­se klei­ne Epi­so­de ist fast zu schön, um wahr zu sein. Denn da­zu wird sich kaum ei­ne Fa­mi­lie durch­rin­gen: dass sie ei­nen Un­be­kann­ten an den ei­ge­nen Mit­tag­stisch bit­tet. Was sich in die­ser Epi­so­de voll­zieht, ist aber das, was Je­sus meint, wenn er de­nen, die im Kreis um ihn he­rum sit­zen, ant­wor­tet: „Ihr seid mei­ne Brü­der.“

Ei­nen Bru­der, der drau­ßen klin­gelt und sagt: „Ich ha­be Hun­ger“, wird man nicht hun­grig drau­ßen ste­hen las­sen. Den wird man her­ein­bit­ten und zu Tisch ein­la­den. Ei­nem Frem­den da­ge­gen wird man viel­leicht ein paar Mark in die Hand drücken und ihn dann gleich wie­der ge­hen las­sen.

Die­sen Un­ter­schied zwi­schen dem näch­sten An­ge­hö­ri­gen – es kann auch ein gu­ter Freund oder Be­kann­ter sein – und dem Frem­den ma­chen wir ganz selbst­ver­ständ­lich. Der Prie­ster in dem Gleich­nis vom Barm­her­zi­gen Sa­ma­ri­ter hät­te den Ver­letz­ten be­stimmt nicht am Weg lie­gen las­sen, wenn er er­kannt hät­te: „Das ist ja mein Va­ter!“ oder: „Das ist ja mei­ne Mut­ter!“ oder: „Das ist ja mein Bru­der!“ oder: „Das ist ja mein Freund!“ Der Prie­ster und dann auch der Le­vit ha­ben sich die­se un­ter­las­se­ne Hil­fe­lei­stung nur des­halb ge­lei­stet, weil sie da­von aus­ge­gan­gen sind: Der da ist kei­ner der Mei­nen. Der da ist ein „Ir­gend­wer“.

Sol­che „Ir­gend­wers“ sa­ßen da im Kreis um Je­sus he­rum. Das Volk, so heißt es im Text, saß um ihn he­rum, ir­gend­wel­che Leu­te. Sie sa­gen zu Je­sus: „Dei­ne Mut­ter, dei­ne Brü­der, dei­ne Schwe­stern fra­gen nach dir.“ Und Je­sus ant­wor­tet: „Ihr seid mei­ne Mut­ter, ihr seid mei­ne Brü­der, mei­ne Schwe­stern.“ Ein schö­ne­res Kom­pli­ment hät­te er den Leu­ten um ihn he­rum wohl kaum ma­chen kön­nen. Die­se we­ni­gen Wor­te – „Ihr seid mei­ne Mut­ter, ihr seid mei­ne Brü­der und Schwe­stern“ – die­se we­ni­gen Wor­te wa­ren Aus­druck ei­ner in­ne­ren Ver­bun­den­heit über al­le äu­ße­ren Tren­nun­gen hin­weg.

Wa­rum heißt ei­ne Kran­ken­schwe­ster Kran­ken­schwe­ster? Weil sie den Kran­ken nicht so zu be­han­deln ge­denkt wie ir­gend­ei­nen Frem­den, son­dern ihm die per­sön­li­che en­ga­gier­te Zu­wen­dung zu­teil wer­den las­sen möch­te wie ei­nem näch­sten An­ge­hö­ri­gen. Das bringt je­den­falls der Wort­sinn die­ser Be­rufs­be­zeich­nung zum Aus­druck. Wie das in der Pra­xis aus­sieht, ist dann ei­ne Sa­che für sich.

Und wenn Pas­to­ren und Pa­sto­rin­nen oder Di­a­ko­ne und Di­a­ko­nin­nen bei­spiels­wei­se, wie das bis­her üb­lich war und teil­wei­se noch ist, sich als Brü­der und Schwe­stern an­re­den, dann soll dar­in auch zum Aus­druck kom­men: Wir wis­sen uns un­ter­ein­an­der eng ver­bun­den wie in ei­ner gro­ßen Fa­mi­lie.

Sol­len mit sol­chen An­re­den die Be­zie­hun­gen in­ner­halb der leib­li­chen Fa­mi­lie ab­ge­wer­tet wer­den? Ganz be­stimmt nicht. Die Be­rufs­be­zeich­nung „Kran­ken­schwe­ster“ will auch nicht ei­nen Ge­gen­satz kon­stru­ie­ren – in dem Sin­ne et­wa: „Den Kran­ken ist sie als Schwe­ster ver­bun­den. Ih­re leib­li­chen Ge­schwi­ster aber sind ihr egal.“ Ein sol­cher Ge­gen­satz wä­re un­sin­nig.

Wenn Je­sus die Men­schen, die er da ge­ra­de vor sich hat, als sei­ne Mut­ter, sei­ne Brü­der und Schwe­stern be­zeich­net, will er da­mit auch nicht sa­gen: „Mei­ne leib­li­che Mut­ter, mei­ne leib­li­chen Ge­schwi­ster be­deu­ten mir nichts.“ Das wä­re ein tra­gi­sches Miss­ver­ständ­nis. Das kann Je­sus nie und nim­mer ge­meint ha­ben. Da­zu ist die Fa­mi­lie ein­fach ein zu wert­vol­les Gut. Die Be­zeich­nun­gen Va­ter, Mut­ter, Bru­der, Schwe­ster er­hal­ten ih­re po­si­ti­ve Be­deu­tung ja erst durch die be­son­de­ren Be­zie­hun­gen die­ser Per­so­nen zu­ein­an­der, Be­zie­hun­gen, die, wie es na­tür­lich nicht im­mer ist, aber sein soll­te, ge­kenn­zeich­net sind durch ein lie­be­vol­les Mit­ein­an­der, durch selbst­ver­ständ­li­ches Ein­ste­hen für­ein­an­der, durch ge­gen­sei­ti­ge Hil­fe, Rück­sicht­nah­me, Ge­duld, durch Ver­zei­hen, durch Treue zu­ein­an­der, dass kei­ner den an­de­ren fal­len und im Stich lässt.

Wie ge­sagt, so ist das nicht im­mer zwi­schen Fa­mi­lien­mit­glie­dern, so soll­te es aber sein, und sol­che Art von be­son­de­ren Be­zie­hun­gen ist eben ge­meint, wenn die fa­mi­li­ä­ren Be­zie­hun­gen als vor­bild­lich hin­ge­stellt wer­den.

Je­sus sagt den um ihn he­rum Sit­zen­den: „Ihr seid mir so lieb wie mei­ne näch­sten An­ge­hö­ri­gen. Ihr seid mir ver­bun­den wie mei­ne Fa­mi­lie.“ Das ist zu­nächst ein­mal ei­ne ein­sei­ti­ge Aus­sa­ge Je­su ge­gen­ü­ber de­nen, die er da an­spricht. Ob die an­de­ren das ihm ge­gen­ü­ber und un­ter­ein­an­der auch so emp­fin­den, sei da­hin­ge­stellt.

Wir wer­den wohl da­von aus­ge­hen kön­nen, dass die Zu­hö­re­rin­nen und Zu­hö­rer Je­su sich et­was er­staunt ge­fragt ha­ben wer­den: „Was meint er ei­gent­lich? Wir sind doch mit ihm gar nicht ver­wandt.“ Aber sie wer­den si­cher­lich ge­spürt ha­ben, dass er es gut mit ih­nen mein­te, dass er sei­ne be­son­de­re Ver­bun­den­heit mit ih­nen zum Aus­druck brin­gen woll­te. Und sie wer­den das viel­leicht wirk­lich wie ein Kom­pli­ment, wie ei­ne Sym­pat­hie­be­kun­dung auf­ge­fasst ha­ben und sich dann viel­leicht auch ge­fragt ha­ben: „Wo­mit ha­ben wir die­se Sym­pa­thie ei­gent­lich ver­dient? Was ha­ben wir ge­tan, dass er uns mag, dass wir ihm bedeutend sind?“

Nun en­det un­ser Pre­digt­ab­schnitt mit den Wor­ten: „Denn wer den Wil­len Got­tes tut, der ist mein Bru­der und mei­ne Schwe­ster und mei­ne Mut­ter.“ Die­sen Zu­satz möch­te ich am lieb­sten strei­chen. Denn er passt ei­gent­lich nicht zu dem, was Je­sus vor­her sag­te. Er ist ein Rück­fall hin­ter den wun­der­ba­ren Zu­spruch, mit dem Je­sus ge­ra­de die Volks­men­ge um ihn he­rum be­schenkt hat. „Wer den Wil­len Got­tes tut“ - ja, wer tut denn den Wil­len Got­tes?! Da konn­te sich die Volks­men­ge kaum noch an­ge­spro­chen füh­len. Da wer­den sich die Leu­te ge­gen­sei­tig an­ge­se­hen und ge­fragt ha­ben: „Wen meint er?“ Durch die­sen Zu­satz wä­re der Kreis der An­ge­spro­che­nen enorm ein­ge­schränkt. Das war ja viel­leicht auch die Ab­sicht des­sen, der den Zu­satz an­ge­fügt hat, wer im­mer das auch ge­we­sen sein mag. Der wollte al­so offenbar kei­nes­wegs je­den Men­schen ein­be­zo­gen wis­sen in den Kreis der­je­ni­gen, die sich als Brü­der und Schwe­stern und Mut­ter Je­su soll­ten ver­ste­hen dür­fen.

Der Evan­ge­list Mat­thäus, der das Mar­kus­e­van­ge­li­um auf sei­nem Schreib­tisch lie­gen hat­te, als er sein ei­ge­nes Evan­ge­li­um schrieb, hat auch in eben die­sem Sin­ne den Text et­was unterstrichen und noch den Satz ein­ge­fügt: „Je­sus streck­te die Hand aus über sei­ne Jün­ger und sag­te: Sie­he da, das sind mei­ne Mut­ter, mei­ne Brü­der, mei­ne Schwe­stern.“ Al­so nur die Jün­ger Je­su soll­ten ge­meint sein, ein klei­ner Kreis von Men­schen, al­so doch wie­der nur die­je­ni­gen, die ihm, wenn auch nicht durch Bluts­ver­wandt­schaft, so doch ganz na­he ver­bun­den wa­ren.

Die­se Ein­schrän­kung ge­fällt mir nicht – und die müs­sen wir, mei­ne ich, auch nicht über­neh­men. Es ist ja oh­ne­hin nicht so, dass die Jün­ger Je­su so be­son­ders vor­bild­li­che Ge­stal­ten wa­ren. Sie stan­den Je­sus zwar be­son­ders na­he und zo­gen mit ihm he­rum. Aber den Wil­len Got­tes ta­ten auch sie nicht im­mer. Pe­trus hat Je­sus ver­leugnet. Judas hat ihn verraten. Ja­ko­bus und Jo­han­nes woll­ten was Bes­se­res sein als die übri­gen Jün­ger, und al­le ha­ben sie Je­sus im Stich ge­las­sen, als er ge­fan­gen ge­nom­men wur­de.

Aber auch da­von ab­ge­se­hen ent­spricht schon die blo­ße Ein­schrän­kung auf die­je­ni­gen, die den Wil­len Got­tes tun, nicht dem, was wir die fro­he Bot­schaft nen­nen. Das wä­re näm­lich kei­ne fro­he Bot­schaft mehr, wenn es hie­ße: Je­sus Chri­stus ist nur de­nen ein Bru­der, die den Wil­len Got­tes tun. Die fro­he Bot­schaft be­steht doch ge­ra­de in der Aus­sa­ge, dass Gott sich in Je­sus Chri­stus al­len Men­schen oh­ne An­se­hen der Per­son in Lie­be zu­ge­wandt hat und dass er uns Je­sus Chri­stus ge­schenkt hat, ge­ra­de weil wir uns so schwertun, den Wil­len Got­tes zu tun. Ge­ra­de weil wir selbst in un­se­rem Ver­hal­ten so gott­fern sind, ist Gott sei­ner­seits auf uns zu­ge­kom­men und hat sich uns in Chri­stus als Bru­der zur Sei­te ge­stellt.

Der Barm­her­zi­ge Sa­ma­ri­ter hat den Ver­letz­ten am Weg, be­vor er ihm half, auch nicht erst ein­mal ge­fragt, ob er sich denn auch im­mer an­stän­dig ver­hal­ten ha­be. Nein, er hat ihm ein­fach ge­hol­fen – oh­ne An­se­hen der Per­son, ein­fach weil der Mensch Hil­fe brauch­te. Und so hat sich auch Je­sus Chri­stus den Men­schen zu­ge­wandt, hat er sich uns zu­ge­wandt, weil wir es brau­chen, dass uns je­mand sagt: „Ihr seid mir ge­nau­so viel wert wie mei­ne leib­li­che Mut­ter, wie mei­ne leib­li­chen Ge­schwi­ster. Ihr seid mir lieb wie mein ei­gen Fleisch und Blut.“ Wir brau­chen das, viel­leicht nicht je­der ein­zel­ne von uns in je­dem Au­gen­blick sei­nes Le­bens. Aber un­se­re Ge­sell­schaft braucht das, un­se­re Welt braucht das, die gan­ze mensch­li­che Ge­mein­schaft. Denn wir al­le ge­mein­sam sol­len wis­sen: Je­der ein­zel­ne Mensch ist von Gott an­ge­nom­men. Je­der Mensch ist ein Bru­der, ei­ne Schwe­ster, ei­ne Mut­ter Je­su, je­der Mensch ist ein Kind Got­tes.

Wenn wir so den Zu­spruch Je­su ver­ste­hen, dann ist er ei­ne fro­he Bot­schaft. Und wenn wir die­sen Zu­spruch ernst neh­men, dann kann dar­aus viel­leicht ei­ne mensch­li­che­re Ge­sell­schaft wer­den.

Um noch ein­mal auf die Pfar­rers­fa­mi­lie und den Ob­dach­lo­sen vom An­fang zu­rück­zu­kom­men: Wir wer­den nicht ein­fach von al­len Fa­mi­lien er­war­ten kön­nen, auch nicht von Pfar­rers­fa­mi­lien, dass sie sich in der kon­kre­ten Si­tu­a­tion so wun­der­bar ver­hal­ten wie die, von der ich er­zählt ha­be. Je­der muss sich in sei­nem per­sön­li­chen Le­ben über­le­gen, wie und wo und wann er die Gren­zen zum Frem­den und zum Hilfs­be­dürf­ti­gen über­win­det und ihm zum Näch­sten, zum Bru­der, zur Schwe­ster, zum Freund und zur Freun­din wird. Und wir als Ge­mein­de müs­sen uns das auch über­le­gen: wie wir ge­mein­sam ei­nen Bei­trag da­zu lei­sten kön­nen, dass aus Frem­den Freun­de wer­den, dass wir – oh­ne An­se­hen der Per­son – ein­an­der die Zu­wen­dung zu­teil wer­den las­sen kön­nen, die ei­ne gu­te Fa­mi­lie aus­zeich­net.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 5. September 1993)

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