Wir sind eine große Familie
5. September 1993
13. Sonntag nach Trinitatis
Markus 3,31-35
Stellen Sie sich bitte einmal folgende Situation vor: In einem Pfarrhaus sitzt die vierköpfige Familie beim Mittagessen. Es klingelt an der Tür. Der Pfarrer öffnet; draußen steht ein Obdachloser. Er bittet um etwas Geld, um sich etwas zu essen kaufen zu können. Der Pfarrer sagt: „Kommen Sie doch herein. Wir sitzen gerade zu Tisch. Sie können gern mitessen.“ Der Obdachlose tritt ein. Der Pfarrer zeigt ihm das Badezimmer. Dann kommt der Gast in das Esszimmer und nimmt am Tisch Platz. Die Frau des Pfarrers füllt ihm den Teller auf und eines der Kinder fragt den Unbekannten: „Wie heißt du denn?“ – „Egon, heiße ich“, sagt der Fremde und fängt – noch etwas schüchtern – an zu essen. Auch die anderen essen weiter und unterhalten sich dabei über dies und jenes, und hier und da beziehen sie den Gast in das Gespräch mit ein. Am Ende sind alle satt. Der Abwasch steht an und das kleine Nickerchen. Der Fremde bedankt sich für das Essen und der Pfarrer geleitet ihn zur Tür. „Nochmals vielen Dank“, sagt der Fremde und macht sich wieder auf den Weg.
Diese kleine Episode ist fast zu schön, um wahr zu sein. Denn dazu wird sich kaum eine Familie durchringen: dass sie einen Unbekannten an den eigenen Mittagstisch bittet. Was sich in dieser Episode vollzieht, ist aber das, was Jesus meint, wenn er denen, die im Kreis um ihn herum sitzen, antwortet: „Ihr seid meine Brüder.“
Einen Bruder, der draußen klingelt und sagt: „Ich habe Hunger“, wird man nicht hungrig draußen stehen lassen. Den wird man hereinbitten und zu Tisch einladen. Einem Fremden dagegen wird man vielleicht ein paar Mark in die Hand drücken und ihn dann gleich wieder gehen lassen.
Diesen Unterschied zwischen dem nächsten Angehörigen – es kann auch ein guter Freund oder Bekannter sein – und dem Fremden machen wir ganz selbstverständlich. Der Priester in dem Gleichnis vom Barmherzigen Samariter hätte den Verletzten bestimmt nicht am Weg liegen lassen, wenn er erkannt hätte: „Das ist ja mein Vater!“ oder: „Das ist ja meine Mutter!“ oder: „Das ist ja mein Bruder!“ oder: „Das ist ja mein Freund!“ Der Priester und dann auch der Levit haben sich diese unterlassene Hilfeleistung nur deshalb geleistet, weil sie davon ausgegangen sind: Der da ist keiner der Meinen. Der da ist ein „Irgendwer“.
Solche „Irgendwers“ saßen da im Kreis um Jesus herum. Das Volk, so heißt es im Text, saß um ihn herum, irgendwelche Leute. Sie sagen zu Jesus: „Deine Mutter, deine Brüder, deine Schwestern fragen nach dir.“ Und Jesus antwortet: „Ihr seid meine Mutter, ihr seid meine Brüder, meine Schwestern.“ Ein schöneres Kompliment hätte er den Leuten um ihn herum wohl kaum machen können. Diese wenigen Worte – „Ihr seid meine Mutter, ihr seid meine Brüder und Schwestern“ – diese wenigen Worte waren Ausdruck einer inneren Verbundenheit über alle äußeren Trennungen hinweg.
Warum heißt eine Krankenschwester Krankenschwester? Weil sie den Kranken nicht so zu behandeln gedenkt wie irgendeinen Fremden, sondern ihm die persönliche engagierte Zuwendung zuteil werden lassen möchte wie einem nächsten Angehörigen. Das bringt jedenfalls der Wortsinn dieser Berufsbezeichnung zum Ausdruck. Wie das in der Praxis aussieht, ist dann eine Sache für sich.
Und wenn Pastoren und Pastorinnen oder Diakone und Diakoninnen beispielsweise, wie das bisher üblich war und teilweise noch ist, sich als Brüder und Schwestern anreden, dann soll darin auch zum Ausdruck kommen: Wir wissen uns untereinander eng verbunden wie in einer großen Familie.
Sollen mit solchen Anreden die Beziehungen innerhalb der leiblichen Familie abgewertet werden? Ganz bestimmt nicht. Die Berufsbezeichnung „Krankenschwester“ will auch nicht einen Gegensatz konstruieren – in dem Sinne etwa: „Den Kranken ist sie als Schwester verbunden. Ihre leiblichen Geschwister aber sind ihr egal.“ Ein solcher Gegensatz wäre unsinnig.
Wenn Jesus die Menschen, die er da gerade vor sich hat, als seine Mutter, seine Brüder und Schwestern bezeichnet, will er damit auch nicht sagen: „Meine leibliche Mutter, meine leiblichen Geschwister bedeuten mir nichts.“ Das wäre ein tragisches Missverständnis. Das kann Jesus nie und nimmer gemeint haben. Dazu ist die Familie einfach ein zu wertvolles Gut. Die Bezeichnungen Vater, Mutter, Bruder, Schwester erhalten ihre positive Bedeutung ja erst durch die besonderen Beziehungen dieser Personen zueinander, Beziehungen, die, wie es natürlich nicht immer ist, aber sein sollte, gekennzeichnet sind durch ein liebevolles Miteinander, durch selbstverständliches Einstehen füreinander, durch gegenseitige Hilfe, Rücksichtnahme, Geduld, durch Verzeihen, durch Treue zueinander, dass keiner den anderen fallen und im Stich lässt.
Wie gesagt, so ist das nicht immer zwischen Familienmitgliedern, so sollte es aber sein, und solche Art von besonderen Beziehungen ist eben gemeint, wenn die familiären Beziehungen als vorbildlich hingestellt werden.
Jesus sagt den um ihn herum Sitzenden: „Ihr seid mir so lieb wie meine nächsten Angehörigen. Ihr seid mir verbunden wie meine Familie.“ Das ist zunächst einmal eine einseitige Aussage Jesu gegenüber denen, die er da anspricht. Ob die anderen das ihm gegenüber und untereinander auch so empfinden, sei dahingestellt.
Wir werden wohl davon ausgehen können, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer Jesu sich etwas erstaunt gefragt haben werden: „Was meint er eigentlich? Wir sind doch mit ihm gar nicht verwandt.“ Aber sie werden sicherlich gespürt haben, dass er es gut mit ihnen meinte, dass er seine besondere Verbundenheit mit ihnen zum Ausdruck bringen wollte. Und sie werden das vielleicht wirklich wie ein Kompliment, wie eine Sympathiebekundung aufgefasst haben und sich dann vielleicht auch gefragt haben: „Womit haben wir diese Sympathie eigentlich verdient? Was haben wir getan, dass er uns mag, dass wir ihm bedeutend sind?“
Nun endet unser Predigtabschnitt mit den Worten: „Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ Diesen Zusatz möchte ich am liebsten streichen. Denn er passt eigentlich nicht zu dem, was Jesus vorher sagte. Er ist ein Rückfall hinter den wunderbaren Zuspruch, mit dem Jesus gerade die Volksmenge um ihn herum beschenkt hat. „Wer den Willen Gottes tut“ - ja, wer tut denn den Willen Gottes?! Da konnte sich die Volksmenge kaum noch angesprochen fühlen. Da werden sich die Leute gegenseitig angesehen und gefragt haben: „Wen meint er?“ Durch diesen Zusatz wäre der Kreis der Angesprochenen enorm eingeschränkt. Das war ja vielleicht auch die Absicht dessen, der den Zusatz angefügt hat, wer immer das auch gewesen sein mag. Der wollte also offenbar keineswegs jeden Menschen einbezogen wissen in den Kreis derjenigen, die sich als Brüder und Schwestern und Mutter Jesu sollten verstehen dürfen.
Der Evangelist Matthäus, der das Markusevangelium auf seinem Schreibtisch liegen hatte, als er sein eigenes Evangelium schrieb, hat auch in eben diesem Sinne den Text etwas unterstrichen und noch den Satz eingefügt: „Jesus streckte die Hand aus über seine Jünger und sagte: Siehe da, das sind meine Mutter, meine Brüder, meine Schwestern.“ Also nur die Jünger Jesu sollten gemeint sein, ein kleiner Kreis von Menschen, also doch wieder nur diejenigen, die ihm, wenn auch nicht durch Blutsverwandtschaft, so doch ganz nahe verbunden waren.
Diese Einschränkung gefällt mir nicht – und die müssen wir, meine ich, auch nicht übernehmen. Es ist ja ohnehin nicht so, dass die Jünger Jesu so besonders vorbildliche Gestalten waren. Sie standen Jesus zwar besonders nahe und zogen mit ihm herum. Aber den Willen Gottes taten auch sie nicht immer. Petrus hat Jesus verleugnet. Judas hat ihn verraten. Jakobus und Johannes wollten was Besseres sein als die übrigen Jünger, und alle haben sie Jesus im Stich gelassen, als er gefangen genommen wurde.
Aber auch davon abgesehen entspricht schon die bloße Einschränkung auf diejenigen, die den Willen Gottes tun, nicht dem, was wir die frohe Botschaft nennen. Das wäre nämlich keine frohe Botschaft mehr, wenn es hieße: Jesus Christus ist nur denen ein Bruder, die den Willen Gottes tun. Die frohe Botschaft besteht doch gerade in der Aussage, dass Gott sich in Jesus Christus allen Menschen ohne Ansehen der Person in Liebe zugewandt hat und dass er uns Jesus Christus geschenkt hat, gerade weil wir uns so schwertun, den Willen Gottes zu tun. Gerade weil wir selbst in unserem Verhalten so gottfern sind, ist Gott seinerseits auf uns zugekommen und hat sich uns in Christus als Bruder zur Seite gestellt.
Der Barmherzige Samariter hat den Verletzten am Weg, bevor er ihm half, auch nicht erst einmal gefragt, ob er sich denn auch immer anständig verhalten habe. Nein, er hat ihm einfach geholfen – ohne Ansehen der Person, einfach weil der Mensch Hilfe brauchte. Und so hat sich auch Jesus Christus den Menschen zugewandt, hat er sich uns zugewandt, weil wir es brauchen, dass uns jemand sagt: „Ihr seid mir genauso viel wert wie meine leibliche Mutter, wie meine leiblichen Geschwister. Ihr seid mir lieb wie mein eigen Fleisch und Blut.“ Wir brauchen das, vielleicht nicht jeder einzelne von uns in jedem Augenblick seines Lebens. Aber unsere Gesellschaft braucht das, unsere Welt braucht das, die ganze menschliche Gemeinschaft. Denn wir alle gemeinsam sollen wissen: Jeder einzelne Mensch ist von Gott angenommen. Jeder Mensch ist ein Bruder, eine Schwester, eine Mutter Jesu, jeder Mensch ist ein Kind Gottes.
Wenn wir so den Zuspruch Jesu verstehen, dann ist er eine frohe Botschaft. Und wenn wir diesen Zuspruch ernst nehmen, dann kann daraus vielleicht eine menschlichere Gesellschaft werden.
Um noch einmal auf die Pfarrersfamilie und den Obdachlosen vom Anfang zurückzukommen: Wir werden nicht einfach von allen Familien erwarten können, auch nicht von Pfarrersfamilien, dass sie sich in der konkreten Situation so wunderbar verhalten wie die, von der ich erzählt habe. Jeder muss sich in seinem persönlichen Leben überlegen, wie und wo und wann er die Grenzen zum Fremden und zum Hilfsbedürftigen überwindet und ihm zum Nächsten, zum Bruder, zur Schwester, zum Freund und zur Freundin wird. Und wir als Gemeinde müssen uns das auch überlegen: wie wir gemeinsam einen Beitrag dazu leisten können, dass aus Fremden Freunde werden, dass wir – ohne Ansehen der Person – einander die Zuwendung zuteil werden lassen können, die eine gute Familie auszeichnet.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 5. September 1993)