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5. Sonntag in der Passionszeit (17.3.24)


Ende des Opferkultes

28. März 2004

Judika

5. Sonntag der Passionszeit

Hebräer 5,7-9


Ich möchte den heutigen Predigttext aus dem Hebräerbrief mit zwei Bemerkungen verbinden, die mir aus Gesprächen der letzten Tage im Ohr geblieben sind. Die eine Bemerkung war: „Es redet in der Kirche inzwischen kaum noch einer von der Sünde.“ Die andere Bemerkung lautete: „Das finde ich gerade das Gute am Buddhismus, dass man da auf seine eigene Verantwortung angesprochen wird. Das Reden in der Kirche, das reißt einen so runter.“

Diese letzte Bemerkung machte eine Psychotherapeutin, nicht aus Hamburg, übrigens, die Menschen im Rahmen von Gruppengesprächen auf den Weg der Heilung zu bringen versucht. Wir waren darüber ins Gespräch gekommen. 

Jemand hatte sie gefragt, ob sie nach solchen Gruppengesprächen überhaupt noch abschalten könne oder ob die Probleme der anderen sie noch im Alltag belasteten. „Das Abschalten erfolgt auf dem längeren Nachhauseweg“, sagte sie. 

Auf den Buddhismus waren wir gekommen, als wir über Architektur sprachen und sie von einem neu erstellten Gebäude erzählte, das mit Elementen aus dem Buddhismus ausgestattet ist. Ich sagte daraufhin etwas flapsig, ich hätte manchmal den Eindruck, dass der Buddhismus bei uns so eine Art Modereligion sei.

Sie fände das mit dem Buddhismus auch ganz gut, sagte sie, denn da würde man auf seine eigene Verantwortung angesprochen. Ich fügte - wohl in ihrem Sinne - hinzu: „Da kann man sein eigenes Karma bauen und durch gute Taten Punkte sammeln.“ Dann sagte ich aber: „Im christlichen Glauben geht es auch um die eigene Verantwortung. Da gibt es aber auch die Erkenntnis, dass der Mensch sich noch so sehr anstrengen könne, er könne sich letztlich dennoch nicht selbst aus dem Sumpf seiner Probleme ziehen. Wie Luther gesagt hat“, ergänzte ich: „Der Mensch ist und bleibt Sünder.“ – „Das ist es ja“, sagte sie. „Das zieht einen so runter. Das ist alles so negativ, das Reden vom Sünder. Da wird man so klein gemacht.“

Leider konnten wir das Gespräch nicht fortsetzen. 

Ich hatte in dem Augenblick aber Predigten im Ohr, die das wohl bestätigen konnten, was meine Gesprächspartnerin gemeint haben mag: Predigten, die dem Zuhörer in aller Ausführlichkeit seine Sündhaftigkeit darlegen, bis sich der Zuhörer endlich - so jedenfalls die Hoffnung des Predigers - nach dem erlösenden Wort sehnt. Und dann kommt der Prediger mit dem Evangelium, der frohen Botschaft von der Vergebung Gottes, die dem Sünder geschenkt wird.

Ich kann mich jetzt weder über Psychotherapie noch über den Buddhismus kompetent äußern. Ich kann aber im Zusammenhang mit dem heutigen Predigttext etwas über das christliche Menschenbild sagen - unter der Fragestellung: „Wie steht es mit der Sünde? Wie steht es mit der Verantwortung? Wie steht es mit Heilung und Heil?“

Um das letzte geht es in unserem Predigttext. Der sagt am Ende: „Jesus Christus ist der Urheber ewigen Heils geworden.“ 

Jesus Christus wird uns im Hebräerbrief als Hoherpriester vorgestellt, der sich selbst als Opfer darbringt um unseretwillen.

Das ist wirklich nicht leicht zu verstehen, eher schon leicht misszuverstehen.

Hinter allem biblischen Reden steht ein bestimmtes Menschenbild. Der Mensch ist ein göttliches Geschöpf, so sehen es die biblischen Texte. Aber dieses göttliche Geschöpf verhält sich von Anfang an nicht seiner göttlichen Bestimmung gemäß. Es tut oftmals, was es nicht tun soll, und unterlässt häufig, was es hätte tun sollen. 

Für dieses grundsätzliche Fehlverhalten machen die biblischen Texte aber nicht den Schöpfer verantwortlich, der, so hätten sie ja sagen können, ein vollkommenes Wesen hätte schaffen können. Sie sprechen vielmehr dem Geschöpf Mensch die Verantwortung für sein eigenes Verhalten zu und damit ja auch die Freiheit der eigenen Entscheidung zwischen Gut und Böse. Das verleiht dem Menschen eine große Würde.

Der Mensch ist mit dieser Freiheit und Verantwortung aber ganz offensichtlich überfordert. Er verstrickt sich trotz aller Gebote und Ermahnungen immer wieder in Fehlverhalten und sammelt von Tag zu Tag Negativpunkte an. Um diese Liste nicht endlos werden zu lassen, gab es zur Zeit des Alten Testaments die Möglichkeit, das Sündenregister wieder zu bereinigen. Einmal im Jahr übertrug der Priester die Sünden des Volkes rituell auf einen Sündenbock und schickte diesen in die Wüste. Mit dem Tod des Opfertieres war der Mensch wieder rein und frei.

Im Neuen Testament übernimmt - nach dem Verständnis des Hebräerbriefes - Jesus Christus die Funktion des Priesters, des Hohepriesters. Er bringt das Opfer dar und reinigt und befreit das Volk von seinen Sünden. Allerdings greift er nicht zu einem Sündenbock. Statt dessen bringt er sich selbst als Opfer dar. Er ist Priester und Opfer zugleich. 

So versteht er seinen göttlichen Auftrag. Er lädt all die Sünden des Volkes auf sich selbst und opfert sich auf - indem er sich ans Kreuz nageln lässt. Das ist ihm keineswegs leicht gefallen, sagt unser heutiger Predigttext. Ja, er hat sich mit Bitten und Flehen unter lautem Schreien und mit Tränen an Gott, seinen Vater gewandt, dass er ihn vom Tod erretten sollte. 

Aber, obwohl ihm die Opferrolle nicht leicht gefallen ist, hat er seinen göttlichen Auftrag erfüllt und sich selbst als Opfer hingegeben. Er hat sich selbst geopfert - ein für alle Mal - und nicht nur für die Menschen des Volkes Israel, sondern für den Menschen schlechthin. 

Mit seinem Opfer ist der Opferkult beendet. Seitdem dürfen wir bezüglich unserer grundsätzlichen Sündhaftigkeit wissen und glauben, dass uns schon vergeben ist, bevor wir überhaupt gesündigt haben. Wir werden sozusagen schon in die Vergebung hinein geboren. Diese Geburt in die Vergebung hinein - oder schon aus der Vergebung heraus - vollziehen wir rituell in der Taufe. Die Taufe nennen wir deswegen auch eine zweite Geburt. Diese zweite - geistliche - Geburt setzt wie die erste - körperliche - Geburt keine eigene Leistung voraus. Sie ist ein Geschenk.

Die zuvorkommende und ein Leben lang geltende Vergebung ist ein Geschenk. Mir ist hierfür bisher kein besserer Vergleich eingefallen - und deshalb wiederhole ich ihn immer wieder - als der mit den Eltern, für die schon vor der Geburt ihres Kindes klar ist: „Wir werden unser Kind immer gern haben, auch wenn es dies und das und jenes anstellt“, womit sie ja fest rechnen. 

Wenn sich Menschen dazu entschließen, ein Kind in die Welt zu setzen, nehmen sie damit auch schon von vornherein einiges auf sich. Sie wissen, dass ihnen durch das Kind einiges abverlangt wird - nicht nur die praktische Arbeit der Ernährung, Bekleidung, Körperpflege usw., also der physischen Existenzsicherung. Das ist schon anstrengend genug. Die eigentliche große Anstrengung ist die psychische, sich nämlich mit dem Kind darüber auseinanderzusetzen, was es darf und was es nicht darf, wie es sich verhalten soll und wie nicht, und immer wieder in Liebe miteinander ins Reine zu kommen. Da werden sich wohl alle Eltern, wie es Jesus Christus getan hat, auch immer mal wieder an den Schöpfer wenden mit Bitten und Flehen und unter Tränen und ihn fragen: „Muss denn das so sein? Geht’s nicht auch einfacher und schmerzloser?“ Nein, geht es nicht. Und trotzdem halten Eltern an diesem ihrem Auftrag fest - in Liebe zu ihrem Kind. 

Mit Blick auf meine beiden am Anfang erwähnten Gesprächspartner unterstreiche ich noch einmal: Wir leben alle von der Vergebung, denn wir sind schwache und unvollkommene Wesen und sind auch bei bestem Willen nicht in der Lage, selbst aus uns bessere Menschen zu machen. Wir sind und bleiben Sünder. Das zu sagen und bekennen, soll uns nicht runterreißen. Im Gegenteil: Dieses ehrliche und offene Bekenntnis brauchen wir, um uns immer wieder frei und stark machen lassen zu können - durch den vergebenden Zuspruch von außen. 

Natürlich gilt weiterhin der hohe ethische Anspruch an uns, wie er z. B. in den 10 Geboten formuliert ist. Und uns ist die Freiheit der Entscheidung zwischen Gut und Böse zugesprochen. Und wir sind für unser Verhalten selbst verantwortlich. Aber wir sind und bleiben auf Vergebung angewiesen. 

Die zuvorkommende göttliche Vergebung vollziehen wir in der Taufe rituell nach. Und wir können sie uns immer wieder zusprechen lassen unter Brot und Wein im Abendmahl: „Christi Leib für uns gegeben, Christi Blut für uns vergossen - uns allen zur Vergebung der Sünden.“

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 28. März 2004)

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