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Jubilate (21.4.24)


Sein wollen, was wir sind

3. Mai 2009

Jubilate

Johannes 15,1-8


„Ich bin der Weinstock“, sagt Jesus, „und ihr seid die Reben.“ Dazu ein paar Vorbemerkungen.

Niemand lebt aus sich selbst heraus. Wir fangen mit unserem Leben, unserem Denken und Fühlen und Glauben und Handeln nicht bei Null an. Leiblich betrachtet sind wir das Ergebnis der biologischen Entwicklung der menschlichen Art. Und ganz konkret tragen wir die Züge und Eigenarten unserer Eltern und Großeltern an uns und in uns. Mit Blick auf Benedikt, den wir eben getauft haben, wird wahrscheinlich auch schon der eine oder andere mal festgestellt haben: „Ganz der Vater!“ oder „Ganz die Mutter!“ Manchmal behauptet auch jemand: „Es überspringt immer eine Generation.“

Das, was uns als Individuen ausmacht, ist in der Tat zum überwiegenden Teil nicht unsere höchstpersönliche Erfindung. Das ist uns einfach mitgegeben.

Und das gilt nicht nur für das Leibliche. Wir werden auch in vorgegebene Bedingungen, in einen Kontext hineingeboren, einen familiären, lokalen, gesellschaftlichen, historischen Kontext. Der bestimmt auch in erheblichem Maß unser Sein, unser Denken, Reden, Glauben und Handeln und eröffnet uns Lebensmöglichkeiten oder verhindert sie von vornherein. Stellen Sie sich vor, wir wären in ein Königshaus hineingeboren! Oder wir wären als Kind hungernder Eltern in einem der ärmsten Länder der Erde geboren. Wie anders wäre unser Leben dann verlaufen!

Was nun die kulturelle, die geistige und geistliche Seite unseres Lebens anbetrifft, so sind wir auch in dieser Hinsicht in einem ziemlichen Ausmaß vorgeprägt. Wir wachsen z. B. in einem evangelischen Elternhaus auf oder in einem katholischen - oder wie Benedikt in einem ökumenischen, gemischt evangelisch-katholischen. Oder unser familiäres Umfeld ist kirchenfern - oder unser Hintergrund ist z. B. muslimisch oder buddhistisch. Auch die politische Geisteshaltung kann sehr unterschiedlich sein. 

Das alles kann einen großen Einfluss auf unser Leben haben. Auch auf dieser kulturellen, geistig-geistlichen Ebene können die prägenden und bindenden Kräfte ganz enorm sein, fast genauso stark, als handelte es sich um biologische Vorgaben. Einige von Ihnen werden sich erinnern, welche erheblichen Probleme es z. B. mit sich brachte, jemanden aus der anderen Konfession zu heiraten. Das konnte zu familiären Zerwürfnissen führen. Das ist zum Glück viel besser geworden. 

Interreligiöse und überhaupt interkulturelle Verbindungen sind auch in unserer Zeit noch immer nicht problemlos zu realisieren. Manchmal können sie in geradezu lebensgefährliche Situationen führen. Sie erfordern allerdings auch bei allseits bestem Willen ein besonders hohes Maß an gegenseitigem Verständnis und die Bereitschaft, sich auf die andere Art des anderen einzulassen. 

Ich schicke dies jetzt alles voraus, weil unser Predigttext das Bild vom Weinstock und den Reben verwendet. Die Rebe ist eine Rebe nicht aus sich selbst heraus. Sie ist die Frucht des Weinstocks - so wie wir alle in leiblicher Hinsicht die Frucht unserer Eltern und Vorfahren und der ganzen Menschheitsentwicklung sind.

In diesem biblischen Bild ist mit dem Weinstock Jesus Christus, mit den Reben sind die an Christus Glaubenden gemeint. 

Christen sind wir, weil es Jesus Christus gegeben hat und er weiterhin unter uns lebendig ist. Seine Worte, sein ganzes Wirken und sein Geist sind die Quelle unseres Christseins. Ja, wir sind geradezu, wie in der Taufe zeichenhaft vollzogen, aus ihm heraus geboren worden zu einem neuen Leben, nicht im leiblichen Sinne, sondern zu einem Leben im Glauben an seine Barmherzigkeit, Vergebung und Liebe. 

Wenn die Rebe aus dem Weinstock herauswächst, ist das ein biologischer Vorgang. Die Rebe kann nicht über sich selbst und ihre Existenz nachdenken. Das ist bei uns anders. Als menschliche Wesen, mit Bewusstsein und Verstand begabt, machen wir uns unsere Gedanken. 

Wir denken nach über uns selbst, über unser Verhältnis zu unseren Eltern und Vorfahren, über die Verhältnisse, in denen wir leben, über unsere Kultur und Religion, über all die geistigen Zusammenhänge, in denen wir aufgewachsen sind und in denen wir uns weiter bewegen.

Es ist zum einen etwas ganz Wunderbares, dass wir denken können. Das macht die Größe unseres menschlichen Wesens aus. Die Fähigkeit zu denken kann aber auch eine Bürde sein. Wir müssen eben auch über vieles nachdenken und uns bewusst und willentlich entscheiden. Das ist oft gar nicht so einfach. 

Die Rebe wächst einfach so vor sich hin. Ihr Verhältnis zum Weinstock wird durch die biologischen Vorgänge und die Umwelteinflüsse gesteuert. 

Wir dagegen müssen als Christen unser Verhältnis zu unserem Weinstock, Jesus Christus, selbst bestimmen und gestalten. Manche sagen: „Gut, dass ich gleich in den christlichen Glauben hineingeboren worden bin! Dann brauche ich darüber jetzt nicht so grundsätzlich nachzudenken.“ Andere empfinden es als lästig, dass sie christlich großgeworden und in dem Zuge Mitglied einer christlichen Kirche sind - und überlegen sich: „Wie komme ich - mit anständigen Argumenten - davon wieder weg?“ 

Über den eigenen Glauben nachzudenken, ist nicht so einfach. Wenn sich jemand als ausgewachsener Mensch ganz neu dem christlichen Glauben zuwendet - und das geschieht immer mal wieder - und versucht zu ergründen, was denn nun an diesem Glauben das Gute ist und ob er sich nun in diesen Glauben hineinbegeben soll oder nicht, dann ist das schon eine ziemliche Herausforderung. 

Wer dann z. B. zur Bibel greift, um sich ein Bild vom christlichen Glauben zu machen, dem können sich bald die Buchstaben im Kopf herumdrehen. Da steht auf den ersten Seiten einiges über die Erschaffung der Welt, es geht weiter durch die Geschichte des Volkes Israel hin zu dem einen, nach dem wir uns Christen nennen und weiter zur Gründung der ersten Gemeinden bis hin zum Ausblick auf das Ende der Welt. Das sind Texte, die im Laufe von tausend Jahren von vielen verschiedenen Menschen in sehr unterschiedlichen Situationen geschrieben worden sind. Da den roten Faden – und zwar gezielt bezüglich Jesus Christus - herauszufinden, das ist nicht so einfach. 

Da hat es die Rebe leichter. Der fließen die Kräfte aus dem Weinstock zu, dazu noch ein bisschen Sonne und Regen von außen. Und so wächst sie vor sich hin.

So automatisch geht das bei uns mit dem Glauben an Christus nicht. Da müssen wir in unserem Hirn und unserem Herzen vieles hin und her wenden: die biblischen Texte, die kirchliche Tradition, die Kirchengeschichte - das ist alles sehr verwirrend - und dann auch die praktische Anschauung von dem, was uns heute als christlich begegnet in der Gestalt von Kirche und Gemeinden und einzelnen Christen. 

Ich führe die Größe der Herausforderung jetzt so ausführlich aus, weil in unserem Text die Aufforderung Jesu enthalten ist: „Bleibt in mir!“, was so viel heißt wie: „Glaubt an mich und bleibt im Glauben an mich.“

Zum Glauben gehört auch ein gewisses Maß an eigenem Willen, an eigener Bereitschaft. Wenn wir, um im Bild zu bleiben, vom Weinstock etwas haben wollen, von seinem Saft und von seinen Kräften, dann müssen wir schon Rebe sein wollen. Wenn wir Rebe, also Christen, sein wollen, dann fließt uns aus dem Weinstock Jesus Christus viel Gutes zu, das, was wir zum Leben im christlichen Sinne brauchen. Das sage ich jetzt aus eigenem Glauben und aus der eigenen Erfahrung  heraus.

Die Frage stellt sich aber auch - und unser Predigttext stellt auch diese Frage: „Was ist mit denen, die sich mit dem Weinstock schwer tun, die nur so halb am Weinstock hängen?“ 

„Aus diesen Reben wird nicht viel werden“, sagt der Bibeltext. „Sie werden weggeworfen. Sie werden ins Feuer geworfen“, heißt es hier.

Wehe, wenn diese Aussage in die falschen Ohren gerät! Im Laufe der Kirchengeschichte ist es leider gelegentlich so gekommen, dass in der Folge einer schrecklichen Auslegung dieses Bildes manche Menschen auf dem Scheiterhaufen endeten, die sich - aus der Sicht einiger - als schlechte Reben, als - in Anführungszeichen - „falsch“ glaubende Christen erwiesen hatten. 

Solche Konsequenzen wollte das Bibelwort natürlich nicht. Vielmehr will es uns aufmerksam machen auf die enge Verbindung zwischen unserem Glauben und der Quelle, aus der sich unser Glaube speist: Christus. Je inniger dieses Verhältnis, desto mehr Christus kann in uns zur Entfaltung kommen. Es ist deshalb gut und wichtig, dass wir uns immer wieder - und das tun wir z. B. in den Gottesdiensten und Andachten und Gesprächskreisen - besinnen auf das, was den christlichen Glauben ausmacht. Das ist, wenn wir denn Christen sein wollen, eine wichtige und schöne Aufgabe. Wir werden dabei nicht immer alle zu denselben Ergebnissen kommen. Wichtig ist, dass wir uns in der unterschiedlichen Art zu glauben, einander achten und in einer respektvollen Diskussion unsere Positionen austauschen. 

Dass dies gelinge, dazu möge uns Gott seinen guten, heiligen Geist geben.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 3. Mai 2009)

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