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Karfreitag (29.3.24)


Mit dem Herzen sehen

13. April 2001

Karfreitag

Matthäus 27,33-50


Das Kreuz, Symbol unseres christlichen Glaubens, ist kein einfaches Symbol. Es bleibt für viele Menschen unverständlich. Manche empfinden es als geradezu anstößig, vor allem, wenn der Gekreuzigte selbst daran abgebildet ist. Und wer anfängt, über dieses Symbol nachzudenken, der wird es nicht unbedingt leichter haben mit dem Verständnis. 

Das Kreuz ist ein starkes Symbol unseres Glaubens. Aber es kann eben auch auf Unverständnis stoßen, es kann sogar Unmut und Zorn erregen. Und es kann Gespött auslösen. Sie kennen vielleicht die Darstellung aus der frühen Christenheit, die Darstellung des Gekreuzigten als Esel. Jene Zeichnung ist wie ein Abbild dessen, was wir im Predigttext zum heutigen Karfreitag lesen: Da geht es um Spott und Hohn. Matthäus lässt vier Personengruppen auftreten: 

Die Soldaten verspotten Jesus als den, wie sie es empfinden, selbsternannten angeblichen König der Juden, indem sie ihm einen Purpurmantel umlegen und eine Dornenkrone aufsetzen und einen Stab in die Hand geben und vor ihm niederknien und ihn anschließend anspeien und schlagen.

Dann lässt Matthäus Passanten an dem Gekreuzigten vorübergehen. Sie verspotten Jesus mit den Worten: „Der du den Tempel zerbrichst und baust ihn in drei Tagen, hilf dir selber! Bist du Gottes Sohn, so steig herab vom Kreuz!“

Die dritte Personengruppe sind die Hohepriester und Schriftgelehrten und Ältesten. Sie spötteln: „Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König Israels, so steige er nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Lust zu ihm hat. Denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.“

Und ebenso verspotteten ihn die Mörder, die mit ihm gekreuzigt wurden.

„Hilf dir selber, steig herab vom Kreuz, wenn du wirklich Gottes Sohn bist, dann wollen wir an dich glauben.“

Jesu Schwäche passt in den Augen dieser vier Personengruppen offensichtlich nicht zu seinem hohen Anspruch. Durch ein starkes Zeichen soll er beweisen, das er derjenige ist, der er zu sein vorgibt und der zu sein, seine Anhänger von ihm behaupten. Ein König kann doch nicht in solcher Schwäche daherkommen, und der Sohn Gottes kann doch nicht eine so hilflose Gestalt sein! 

Das Unverständnis der Spötter ist, wie ich finde, durchaus nachvollziehbar. Sie halten sich an den Augenschein. Und der gibt nicht viel her.  

Es bedarf freilich einer anderen Sichtweise, um das wahrzunehmen, was hinter dem unscheinbaren Äußeren verborgen ist. Mit dem inneren Auge müssen wir schauen, und durch die vordergründige Oberfläche hindurchblicken. Das ist wie mit den Drei-D-Bildern. Und auch da erleben wir, wie schwer sich manche tun, ihre Sichtweise so einzustellen, dass sie durch den Vordergrund hindurchblicken auf ein Bild in der Tiefe. Wer das geschafft hat, für den ist das wie eine Offenbarung. Und gerade wem das zum ersten Mal gelungen ist, der empfindet es als fast unglaublich, dass hinter einer unscheinbaren Oberfläche eine ungeahnte Tiefendimension verborgen ist. 

Die Spötter Jesu haben diesen besonderen Blick noch nicht. Sie nehmen vordergründig Schwäche wahr und vermögen nicht die Stärke zu erkennen, die in seinem Inneren verborgen ist.

Jesus ist in ihren Augen ein armer Wanderprediger, allerdings anmaßend, aufsässig und aufrührerisch, bestenfalls ein Idealist und Träumer, aber im Grund ein Nichts. Er hat keinen Palast, er hat keine Soldaten, er trägt keine Waffen. 

Und dennoch ist er reich und einflußreich. Menschen in großer Zahl über den ganzen Erdball verstreut hören heute auf seine Worte – mehr als jemals die Worte irgend eines noch so mächtigen Königs irgendeines Reiches beachtet worden sind. Jesus war und ist ein König – allerdings ganz anderer Art. Ein König, der auf sanfte Art in den Herzen von Menschen regiert. 

Um ihn als solchen zu erkennen, muss er allerdings auch mit den Augen des Herzens betrachtet werden. Nur wer mit offenem Herzen schaut, wird wahrnehmen, dass Verzicht auf Gewalt und Selbstverteidigung keine Schwäche ist, dass ein armseliges Äußeres keine Schwäche ist. Und dass Verzeihen keine Schwäche ist, dass die Hinwendung zu den Gering-geachteten und An-den-Rand-gedrängten keine Schwäche ist, dass Barmherzigkeit keine Schwäche ist, dass Liebe keine Schwäche ist.

Er hat nichts verändert, sagen die einen. Und sie können auf den Zustand der Welt verweisen. Es wird weiter gelitten und gestorben, Menschen begehen Unrecht und tun einander Unrecht an wie eh und je. Es gibt weiter Streit und Krieg im Kleinen wie im Großen. Mit welchem Recht behaupten Menschen, jener Jesus von Nazareth sei der Christus, der Retter, der König aller Könige, Gottes eigener Sohn?

Was hat er mehr geschafft, als ein paar Reden zu halten, als dem einen und anderen zu helfen, zu heilen?! Ein wenig Gutes hat er getan, Einzelnen, Tropfen auf den heißen Stein, und das eine und andere Wundersame wird über ihn berichtet – eher unglaubwürdige Übertreibungen. Das Kreuz entlarvt ihn, so sehen es die Spötter: Einigen er geholfen, aber sich selbst kann er nicht helfen. Kein Mensch ist bereit, ihm zu helfen. Und auch Gott hilft ihm nicht. Ein schwaches Bild. Das Kreuz: Ende einer Täuschung, einer Selbsttäuschung!?

Es hat aber schon damals – zu Jesu Lebzeiten – nicht nur die Spötter gegeben. Als Jesus einen Blindgeborenen heilte, sahen die Umherstehenden mehr, als dass er nur einen Blindgeborenen heilte. Sie sahen, wie sich einer kümmerte, wo alle anderen es schon längst aufgegeben hatten sich zu kümmern. Sie sahen, wie einer im Namen Gottes einem Kranken liebevolle Zuwendung schenkte, von dem andere schon immer gesagt hatten, der sei von Gott gestraft. Sie erlebten, wie einer ihnen selbst die Augen öffnete, und sie ihre eigene Hoffnungslosigkeit wahrnehmen ließ, ihr verhärtetes Denken, ihre Hartherzigkeit. 

Und als Jesus die Aussätzigen heilte, sahen die Umherstehenden mehr als nur, dass er ein paar Menschen gesund machte. Sie sahen, wie er Grenzen überschritt, die sie selber bisher nicht zu überschreiten gewagt hatten, Grenzen, die zu achten sie bisher für Gottes Gebot gehalten hatten. Und sie spürten, wie einer ihr Denken Grenzen überschreiten ließ und sie Fragen stellen ließ, die sie bisher nicht zu stellen gewagt hatten: ob es denn wirklich Gottes Wille sein könnte, dass Menschen ausgegrenzt würden?!

Und als Jesus eine Ehebrecherin ungestraft davongehen ließ, da sahen die Umherstehenden mehr als nur, dass er das geltende Gesetz in Frage gestellt hatte. Sie sahen sich selbst in einem neuen Licht. Sie fühlten sich beschämt und doch befreit zugleich. Sie fühlten sich ertappt und freigesprochen in eins. Sie fühlten sich zur Ehrlichkeit befreit, zur Wahrhaftigkeit, zur Reue, zum Bekenntnis ihrer eigenen Schuld – und zur Frage, ob Gott nicht doch ganz anders sei, als sie bisher gedacht und geglaubt hatten: Ob Gott nicht sei wie dieser Mann. 

Er ist Gottes Sohn – zu diesem Schluss kamen etliche Menschen, weil sie hinter dem armseligen Äußeren des Wanderpredigers und Wunderheilers eine Quelle der Kraft wahrnahmen, die sie selbst erfasste und die in ihr eigenes Innerstes eindrang und sie im Tiefsten ihres Herzens veränderte. Eine geistige Kraft ging von ihm aus, die stärker war als alles, was sie bisher erlebt hatten. 

Es wäre ihnen schwer gefallen zu beschreiben, was in ihnen ausgelöst war. Sie hätten es anderen kaum vermittelt können. Die Spötter hätten sie nicht eines Besseren zu überzeugen vermocht. 

Hätten sie es dennoch versucht, so hätten sie hilflos dagestanden, wie z. B. ein Verliebter, der zu erklären versucht hätte, warum diese eine, die bisher keiner zur Kenntnis genommen hatte, die Frau seines Lebens geworden ist. „Ich sehe was, was du nicht siehst“, – Liebe sieht mehr. Das Herz sieht mehr. Der Glaube sieht mehr. 

Es gab kein Argument gegen die Spötter. Es gab kein Argument gegen die Kreuzigung Jesu. Aber das Kreuz sollte im Nachhinein zu einem weiteren Augenöffner werden für viele. 

Bist du wirklich Gottes Sohn, dann ... dann steig herab vom Kreuz, dann mach aus diesen Steinen Brot, dann stürz dich herab von der Zinne des Turmes. Jesus hat dem Versucher widerstanden. Und auch wir sollten uns nicht auf Versuche einlassen, den Glauben zu beweisen. 

Der Glaube ist eine besondere Weise des Herzens, die Dinge des Lebens zu sehen. Wir sehen die Dinge des Lebens im Sinne Jesu, des Christus, des Gekreuzigten und Auferstandenen. 

Kann man das lernen, im Kreuz, dem Werkzeug des Todes, den Sieg des Lebens, der Hoffnung, der Liebe zu erkennen? Kann man das üben, sodass Spott sich in befreites Lachen verwandelt? Kann man das üben, wie man es üben kann, in flachen Bildern die dritte Dimension wahrzunehmen?

Wir können es üben. Das Gelingen liegt wohl nicht in unserer Hand. Aber das Angebot ist da. Gott hat uns für wert befunden, dass er uns seinen Sohn geschickt hat, dass er seinen Sohn dieser Welt und uns Menschen ausgesetzt hat. Er hat uns der liebevollen und leidvollen Hingabe für wert befunden – bis hin zum Tod am Kreuz. Das soll nicht vergebens gewesen sein. Das ist nicht vergebens gewesen. Und das wird auch für die Zukunft nicht vergebens sein.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 13. April 2001) 

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