Predigt, Predigten, Predigtsammlung, Bibelauslegung, Andachten, Morgenandachten, Wochenspruch, Wochensprüche, Hoheluft, Hamburg-Hoheluft, Wolfgang Nein, St. Markus

2. Sonntag in der Passionszeit (25.2.24)


Die Schlange, der Revolver und das Kreuz

20. März 1994

4. Mose 21,4-9


Auf dem Ale­xan­der­platz in Ber­lin und auch vor dem Ge­bäu­de der Ver­ein­ten Na­tio­nen in New York steht ein gro­ßer, manns­ho­her Re­vol­ver. Der Re­vol­ver ist ein tod­brin­gen­des In­stru­ment. Selbst wenn er zur Ver­tei­di­gung ver­wen­det wird, bleibt er ein ge­fähr­li­cher Ge­gen­stand. Er er­in­nert an die Be­dro­hung des Men­schen durch den Men­schen. Auf die­se Er­in­ne­rung zie­len die in Ber­lin und New York auf­ge­stell­ten Mon­um­en­te durch­aus ab. Sie sym­bo­li­sie­ren das vom Men­schen aus­ge­hen­de Bö­se und die ge­fähr­li­chen Ver­strickun­gen, in die Men­schen durch die An­wen­dung von Ge­walt hin­ein­ge­ra­ten kön­nen.

Wa­rum sind die­se Tö­tungs­ma­schi­nen da in al­ler Öf­fent­lich­keit auf­ge­baut? Da­mit sie die vie­len Men­schen, die dort täg­lich vor­bei­ge­hen, mah­nen und an­sto­ßen, sich täg­lich ei­nes Bes­se­ren zu be­sin­nen. Wir ha­ben sol­che Mah­nun­gen und An­stö­ße nö­tig. Wir be­dro­hen uns zwar in der Re­gel nicht mit Re­vol­vern. Aber auf ei­ner nie­dri­ge­ren E­be­ne tun wir ein­an­der doch in viel­fäl­ti­ger Wei­se, mal mehr, mal we­ni­ger, Ge­walt an - oft­mals kaum bemerk­bar auf in­di­rek­te Art.

Die im Groß­for­mat auf­ge­bau­ten Re­vol­ver wol­len uns zum fried­fer­ti­gen Um­gang mit­ein­an­der er­mah­nen. Da­mit ih­re Bot­schaft nicht miss­ver­stan­den wird, sind die Läu­fe der Re­vol­ver zu e­i­nem Kno­ten ver­schlun­gen. Die­ser Kno­ten macht die In­stru­men­te der Ge­walt zu Sym­bo­len des Frie­dens.

Es ist ge­ra­de­zu er­he­bend, sich die der­ge­stalt ver­än­der­ten Re­vol­ver an­zu­schau­en. Sie sind eine mah­nen­de Er­in­ne­rung, sie sind Aus­druck des Wil­lens zur Ver­än­de­rung, sie sind Zei­chen der Hoff­nung. Sie kön­nen zur Um­kehr mo­ti­vie­ren.

In un­se­rem Pre­digt­text ha­ben wir eben­falls mit ei­nem Sym­bol zu tun, mit ei­nem Tier, das zum ei­nen das Bö­se, zum an­de­ren aber auch Heil und Ret­tung ver­kör­pert. Die Schlan­ge ist ein Sym­bol in vie­len Kul­tu­ren und Re­li­gio­nen. Aus der Bi­bel ist uns die Schlan­ge vor al­lem aus der Ge­schich­te vom Sün­den­fall im Pa­ra­dies ge­läu­fig. Sie ver­führt Eva zum Es­sen der ver­bo­te­nen Frucht. Vor al­lem von die­ser Stel­le her hat die Schlan­ge für uns ein ne­ga­ti­ves Ima­ge. In un­se­rem Pre­digt­ab­schnitt brin­gen feu­ri­ge Schlan­gen vie­le Is­rae­li­ten zu To­de. Dies wird hier als Stra­fe Got­tes in­ter­pre­tiert.

Um noch ein­mal kurz das Ge­sche­hen zu er­läu­tern: Das Volk Is­rael be­fand sich auf dem Weg von Ägyp­ten nach Ka­naan, al­so aus der Knecht­schaft in das ge­lob­te Land. Es war ein Weg durch die Wü­ste vol­ler Ge­fah­ren und Ent­beh­run­gen. Im­mer mal wie­der wa­ren die Be­schwer­den so groß, dass das Volk sei­nen Ent­schluss aus­zu­wan­dern be­reu­te. Al­ler­dings wand­ten sich die Be­tref­fen­den dann nicht ge­gen sich selbst, in­dem sie et­wa sag­ten: „Wie konn­ten wir da­mals so leicht­fer­tig sein und uns auf ein so ri­skan­tes Un­ter­neh­men ein­las­sen!“ Sie wand­ten sich nicht ge­gen sich selbst, son­dern rich­te­ten Vor­wür­fe ge­gen Gott und Mo­se: „Wa­rum hast du uns aus Ägyp­ten ge­führt, dass wir ster­ben in der Wü­ste?!“

Als nach die­sen un­ge­rech­ten Vor­wür­fen gif­ti­ge Schlan­gen das La­ger über­fie­len, mel­de­te sich doch das schlech­te Ge­wis­sen der Be­schwer­de­füh­rer. Sie in­ter­pre­tier­ten die Schlan­gen­pla­ge als die kon­se­quen­te Stra­fe Got­tes für ih­re un­ge­rech­ten Vor­hal­tun­gen. Sie ge­stan­den ihr Fehl­ver­hal­ten ein und ba­ten Mo­se um Hil­fe vor den Schlan­gen.

„Da sprach Gott zu Mo­se: Ma­che dir ei­ne eher­ne Schlan­ge und rich­te sie an ei­ner Stan­ge hoch auf. Wer ge­bis­sen ist und sieht sie an, der soll le­ben. Da mach­te Mo­se ei­ne eher­ne Schlan­ge und rich­tete sie hoch auf. Und wenn je­man­den ei­ne Schlan­ge biss, so sah er die eher­ne Schlan­ge an und blieb le­ben.“

Die an der Stan­ge auf­ge­rich­te­te eher­ne Schlan­ge wird zur Ret­tung. Das Tier, das zu­vor den Tod brach­te, wird nun zur Ret­tung vor dem Tod.

Die eher­ne Schlan­ge wird noch ein­mal im 2. Buch der Kö­ni­ge im Al­ten Te­sta­ment er­wähnt. Sie wird dort zu­sam­men mit an­de­ren Kult­ge­gen­stän­den ge­nannt, die ei­ner Kul­tre­form zum Op­fer fie­len. Es mag al­so wohl ei­ne eher­ne Schlan­ge in ei­nem der Hei­lig­tü­mer in Is­rael ge­stan­den ha­ben, ein Ge­gen­stand al­so der An­be­tung, von dem sich die Be­ten­den Hil­fe er­hoff­ten.

Viel­leicht hat­ten die Is­rae­li­ten die­sen Kult­ge­gen­stand aus ei­ner an­de­ren Re­li­gion, der ka­naa­nä­i­schen Re­li­gion viel­leicht, über­nom­men. Der Schrei­ber un­se­res Pre­digt­tex­tes scheut sich nicht, die Er­schaf­fung die­ses Kult­ge­gen­stan­des auf den Gott Is­raels zu­rück­zu­füh­ren.

Für uns mag in­ter­es­sant sein, dass uns die Schlan­ge hier in ei­ner dop­pel­ten Funk­tion be­geg­net. Wir er­le­ben sie zum ei­nen als die­je­ni­ge, die den Tod bringt, und zum an­de­ren zu­gleich als die­je­ni­ge, von der die Ret­tung vor dem Tod er­hofft wird.

Je­mand könn­te sa­gen, dass Schlan­gen­gift, das zum ei­nen töd­lich sein kann, in be­stimm­ten ge­rin­gen Do­sie­run­gen auch ei­ne Heil­wir­kung ha­ben kann. Ob das bei Schlan­gen­gift so ist, weiß ich nicht. Bei man­chen pflanz­li­chen Gif­ten ist das so.

Aber der Wan­del in der Wir­kung der Schlan­ge hängt in un­se­rer Ge­schich­te nicht von der Do­sie­rung des Gif­tes ab. Das wä­re zu me­cha­ni­stisch ge­dacht und hät­te zu we­nig mit der Ein­stel­lung der Be­trof­fe­nen zu tun. Der Wan­del hat mit ei­ner ver­än­der­ten in­ne­ren Ein­stel­lung der Is­rae­li­ten zu tun. Auf die an der Stan­ge er­ho­be­ne Schlan­ge blicken die Is­rae­li­ten mit Reue und in der Ein­sicht ih­res Fehl­ver­hal­tens. 

Die Schlan­gen­pla­ge war für sie zum Fin­ger­zeig da­für ge­wor­den, dass ih­re Vor­wür­fe ge­gen­ü­ber Gott und Mo­se un­ge­recht ge­we­sen wa­ren. Erst durch die Schlan­gen­pla­ge wa­ren sie in sich ge­gan­gen und hat­ten sich ein­ge­stan­den, dass sie selbst es ja ge­we­sen wa­ren, die da­mals die Be­frei­ung aus Ägyp­ten ge­wollt hat­ten und dass sie sich folg­lich auch die Kon­se­quen­zen, die Mü­hen und Ent­beh­run­gen und Ge­fah­ren des We­ges in die Frei­heit selbst zu­rech­nen müss­ten - dass sie die Schuld al­so nicht ein­fach ab­schie­ben und de­nen auf­la­den könn­ten, de­ren Hil­fe sie bis da­hin in An­spruch ge­nom­men hat­ten.

Im An­ge­sicht der an der Stan­ge auf­ge­rich­te­ten eher­nen Schlan­ge ver­ge­gen­wär­ti­gen sich die Is­rae­li­ten ih­re Ver­gan­gen­heit, ih­re Ent­schei­dun­gen, ihr Fehl­ver­hal­ten und die Kon­se­quen­zen. Sie be­reu­en ih­re un­ge­rech­ten Vor­hal­tun­gen, und sie be­ken­nen in Be­schei­den­heit ihr An­ge­wie­sen­sein auf Hil­fe.

Die an der Stan­ge vor Au­gen ge­führ­te Schlan­ge moch­te den Is­rae­li­ten ei­ne Mah­nung sein, ein Zei­chen für die Macht Got­tes auch über die­ses ge­fähr­li­che tod­brin­gen­de Tier und ein An­stoß zur Hoff­nung, dass ih­nen in den viel­fäl­ti­gen Ge­fah­ren und Ent­beh­run­gen der Wü­sten­wan­de­rung im­mer wie­der Ret­tung zu­teil wer­den wür­de.

Der Re­vol­ver und die Schlan­ge - bei­de sym­bo­li­sie­ren tod­brin­gen­de Ge­fah­ren für den Men­schen. Sie sym­bo­li­sie­ren auch mensch­li­che Schuld. Sie kön­nen uns zu­gleich vor Au­gen ge­stellt wer­den als Ge­gen­stän­de der Mah­nung und der Hoff­nung - der Re­vol­ver mit dem Kno­ten im Lauf und die Schlan­ge, ehern und an der Stan­ge er­ho­ben.

Im Neu­en Te­sta­ment wird die eher­ne Schlan­ge im Jo­han­nes­e­van­ge­li­um noch ein­mal er­wähnt und mit Chri­stus in Ver­bin­dung ge­bracht: „Wie Mo­se in der Wü­ste die Schlan­ge er­höht hat, so muss der Men­schen­sohn er­höht wer­den, da­mit al­le, die an ihn glau­ben, das ewi­ge Le­ben ha­ben.“

Das Kreuz ist ein In­stru­ment des To­des. Es ist für uns zum Sym­bol des Le­bens und der Hoff­nung ge­wor­den. Als In­stru­ment des To­des ist es der In­be­griff all des­sen, was Men­schen ein­an­der an Bö­sem an­tun kön­nen. Als In­stru­ment des Le­bens wird uns das Kreuz vor Au­gen ge­stellt, um uns auf­zu­rich­ten. Es soll uns mah­nen und uns zur Um­kehr be­we­gen. Es soll uns an un­se­re Sünd­haf­tig­keit er­in­nern. Es soll uns aber auch und vor al­lem ein Zei­chen der Ver­ge­bung, der Be­frei­ung und Er­lö­sung sein.

Vom Kreuz geht kei­ne ma­gi­sche Wir­kung aus. So wie der ver­kno­te­te Re­vol­ver nicht von sich aus den Frie­den be­wirkt und die auf­ge­rich­te­te eher­ne Schlan­ge nicht von sich aus das Le­ben si­chert, so bleibt auch das Kreuz für sich oh­ne Wir­kung. Es geht nicht oh­ne die in­ne­re Be­tei­li­gung des Be­trach­ters. Es ist der Glau­be des Be­trach­ters von­nö­ten, der Glau­be an den gu­ten Sinn des­sen, was am Kreuz ge­sche­hen ist, der Glau­be an die er­lö­sen­de Macht des Ge­kreu­zig­ten, der Glau­be an die Mög­lich­keit und Wirk­lich­keit der Ver­ge­bung. Und es ist die Be­reit­schaft zur Um­kehr von­nö­ten, die Be­reit­schaft zur Um­kehr und der Glau­be an die Mög­lich­keit ei­nes Neu­an­fangs.

Die Wü­sten­wan­de­rung des Vol­kes Is­rael ist wie ein Sym­bol für be­stimm­te Pha­sen un­se­res Le­bens. Wir be­fin­den uns im­mer ir­gend­wie oder doch oft auf dem Weg aus der Ge­fan­gen­schaft in die Frei­heit. Mal füh­len wir uns mehr ge­fan­gen, mal wäh­nen wir uns der Frei­heit schon ganz nah. Es ist ein Weg vol­ler Ge­fah­ren und Mü­hen, aber das ist der Weg des Le­bens. Wir müs­sen den Weg in ei­ge­ner Ver­ant­wor­tung ge­hen und kön­nen we­der un­se­rem Schöp­fer noch ir­gend­ei­nem Mo­se die Schuld für Ent­beh­run­gen und Rück­schlä­ge in die Schu­he schie­ben. Mit sol­chen Ver­su­chen der Schuld­ver­schie­bung wür­den wir feu­ri­ge Schlan­gen auf uns her­auf­be­schwö­ren. Wir kön­nen den Weg des Le­bens nur mit Ver­trau­en ge­hen, mit Gott­ver­trau­en – in der Zu­ver­sicht, dass wir nach Durst­strecken wie­der an ei­ne Quel­le ge­führt wer­den, dass wir durch dun­kle Tä­ler hin­durch wie­der auf lich­te Hö­hen ge­lan­gen.

Das wan­dern­de Volk Is­rael soll­te auf die an der Stan­ge er­ho­be­ne Schlan­ge blicken. Wir blicken auf den am Kreuz er­höh­ten Chri­stus. Er ist für uns der Weg, das Le­ben, die Be­frei­ung und die Er­lö­sung.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 20. März 1994)

wnein@posteo.de    © Wolfgang Nein 2013