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Quasimodogeniti (7.4.24)


Mit dem Herzen glauben

Quasimodogeniti

1. Sonntag nach Ostern

27. April 2003

Johannes 20,19-29


Es ist geradezu erleichternd, dass es unter den Jüngern auch Thomas gab, den „ungläubigen Thomas“, den Zweifler Thomas. „Ich kann’s nicht glauben“, entgegnete er seinen Freunden, als sie ihm berichteten, sie hätten den Auferstandenen gesehen. „Ich kann’s nicht glauben, es sei denn, ich sähe seine Nägelmale und könnte meine Finger in die Nägelmale und meine Hand in seine Seite legen.“

„Ich kann’s nicht glauben“ - dieses Problem werden auch manche unter uns mit der Auferstehung haben. Wie schön, dass wir nicht allein dastehen, wenn uns Zweifel plagen. Wie schön, dass selbst einer der Jünger Jesu dieses Problem hatte.

Aber was ist es denn eigentlich, das es da zu glauben gilt - an der Auferstehung Jesu? Geht es wirklich darum zu glauben, dass der, der ins Grab gelegt worden war, nun wieder umhergeht, als wäre er nur scheintot gewesen? Im Sinne von: Der Stein war weggerollt, das Grab war leer, nun muss er doch irgendwo sein, der Leichnam, der wieder zum Leben erweckte Leichnam. Ist es dieser wieder zum Leben erweckte Leichnam, den die Jünger meinen, wenn sie behaupten: „Wir haben den Herrn gesehen!“? Meint Thomas diesen - in Anführungszeichen - „lebendigen Leichnam“, wenn er sagt: „Das glaube ich nur, wenn ich ihn sehen und anfassen kann.“?

Geht es denn beim Glauben überhaupt um den Beweis einer Tatsache? So, als ob einer sagte: „Sobald du mir beweist, was du behauptest, will ich es gern glauben! Wenn du behauptest, dass du Kopfstand kannst, dann mach einen Kopfstand, dann glaube ich dir!“

Wenn Jesus zu Thomas sagt: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“, meint er damit diejenigen, die auf den Beweis der Tatsache zu verzichten bereit sind, so, wie wenn z. B. einer sagte: „Du behauptest, du könntest Kopfstand? Toll. Ich glaube dir. Du brauchst es mir nicht vorzumachen. Wenn du es sagst, dann glaube ich dir. Ich brauche es nicht zu sehen, du brauchst es mir nicht zu beweisen.“

Ist das mit Glauben gemeint? Etwas ohne Beweis für wahr halten? Wäre der ungläubige Thomas ein gläubiger Thomas gewesen, wenn er die Behauptung der Jünger für wahr gehalten hätte, ohne Jesus sehen und anfassen zu können? Fast so müssen wir wohl das Wort Jesu bei Johannes auslegen: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“

Aber wir geraten hier möglicherweise auf eine falsche Fährte. Was glaubt denn Thomas, nachdem er Jesus gesehen, seine Finger in seine Nägelmale und seine Hand in seine Seite gelegt hat? Dass der Leichnam nur scheintot gewesen war oder dass Jesus wirklich tot war, aber nun auf wundersame Weise - entgegen den Naturgesetzen - wieder lebendig ist, als wäre er gar nicht gestorben? Was glaubt Thomas jetzt?

Das mit dem Sehen und Anfassen kann uns auf eine falsche Fährte bringen. Die Türen waren doch verschlossen, als der Auferstandene vor Thomas erschien, erzählt uns Johannes. Das heißt, es ist nicht der wieder lebendig gewordene Leichnam, der umhergeht. Der hätte doch gar nicht durch die verschlossene Tür gepasst. Und wie Johannes schon vorher von Maria erzählte, wie sie vor dem leeren Grab stand und einen Mann vor sich sah und meinte, es wäre der Gärtner - es war aber nicht der Gärtner, es war Jesus, der Auferstandene. Wenn es einfach der wieder lebendig gewordene Leichnam gewesen wäre, dann hätte sie ihn doch wohl erkennen müssen!

Nein, der Auferstandene ist eben nicht der wieder lebendig gewordene Leib von vorher. Irreführend kann deshalb auch schon die Erzählung vom leeren Grab und von dem weggerollten Stein sein. Wenn der Auferstandene den Jüngern im verschlossenen Raum erschien und aus dem verschlossenen Raum so wieder verschwand, wie er gekommen war, dann hätte er auch aus dem verschlossenen Grab entschwinden können. 

Oder noch deutlicher gesagt: Der Leichnam Jesu hätte weiterhin im verschlossenen Grab - oder auch im geöffneten Grab - liegen können und trotzdem hätte der Auferstandene umhergehen können. Denn der Auferstandene ist, wie Johannes ja hinreichend deutlich macht, nicht der Jesus mit dem Leib von vorher. 

Dass Thomas nun den Auferstandenen leibhaftig vor sich sieht und ihn leibhaftig anfasst, das kann uns auf eine falsche Fährte führen. Der Auferstandene ist nicht einfach nur der mit den Wundmalen nun doch wieder lebendig umherlaufende Jesus. Und der Glaube an die Auferstehung  ist nicht der Glaube daran, dass so etwas „Unglaubliches“ doch geschehen ist: dass der getötete Körper nun doch wieder umhergeht. 

Was hätte ein solcher Glaube denn auch fürs Leben gebracht? Thomas hätte dann für immer eine aufregende Geschichte zu erzählen gehabt: „Hört mal zu, ich habe was Unglaubliches erlebt!“ Aber das wäre es dann auch schon gewesen.

Beim Glauben, wie wir ihn im christlichen Sinne meinen, geht es doch vielmehr um unsere Lebenseinstellung, um die Veränderung unserer Lebenseinstellung, es geht um unser Verhältnis zum Leben, um die Erneuerung unseres Lebens. Es geht darum, wie wir das Leben sehen, was uns am Leben wert ist, worin wir den Sinn des Lebens sehen, nach welchen Leitlinien wir es gestalten wollen, wofür wir unser Leben einsetzen wollen.

Das bedeutet doch Glaube an Jesus Christus: dass ich das, was er mir vermittelt, so ernst nehme, so annehme, so als verbindlich annehme, dass ich mein Leben danach ausrichte. 

Und wie kann es dazu kommen, dass ich das, was Jesus zu geben hat, in dieser Weise annehme? Das kommt wohl kaum davon, dass er irgendwie die Naturgesetze durchbrochen hat oder mit seinem Körper etwas Übernatürliches geschehen ist. 

Nein, ich nehme ihn verbindlich an, weil er mich hier im Herzen und hier im Kopf beeindruckt hat, weil er mich innerlich bewegt und überzeugt hat.

Hat das etwas mit Sehen und Anfassen zu tun? Nur bedingt. Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass damit eine Behauptung bewiesen werden müsste. 

Viel eher dagegen in folgender Weise: Wenn ich eine Geste der Menschlichkeit beobachte, wenn ich zum Beispiel sehe, wie einer einem Dürstenden eine Schale Wasser reicht, dann hat für mich dieses Bild eine Aussagekraft und eine nachhaltige Wirkung. Dieses Beobachten der menschlichen Geste kann mich zutiefst beeindrucken, es kann mich trösten, es kann mir Ansporn sein, es nachzumachen. Es kann mein Lebensbild prägen: den Glauben daran, dass es doch noch Menschlichkeit und Liebe in der Welt gibt. Dieses Bild kann zum Leitmotiv meines Handelns, meines ganzen Lebens werden. 

Ein anderer könnte allerdings aus dieser Szene den Schluss ziehen, dass das nur eine Ausnahme war, dass das untypisch und unbedeutend war, dass vielmehr Unbarmherzigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber menschlicher Not das Vorherrschende seien und dass man eher an dieser vorherrschenden Erfahrung sein Leben ausrichten sollte.

Insofern können wir feststellen: Was wir mit unseren Augen sehen, kann unterschiedliche Reaktionen in uns auslösen. Das gilt für schöne Bilder und für unschöne Bilder.

Wenn dieser Betreffende z. B. das Bild eines misshandelten Menschen sieht, wird er vielleicht sagen: „Ich hab’s doch gesagt: Der Mensch ist schlecht und unbarmherzig. So ist das Leben, das Leben ist grausam, der Mensch ist grausam. Liebe hat keine Chance in dieser Welt.“ Diese negative Schlussfolgerung würde er vielleicht zum Leitfaden seines Verhaltens machen und sich z. B. vor allem von Misstrauen leiten lassen.

Dagegen könnte mich das schreckliche Bild eines misshandelten Menschen aber auch dazu bewegen zu sagen: „So soll es nicht sein. Die Menschlichkeit, die Liebe muss mehr Raum in unserer Welt gewinnen!“ Die Grausamkeit des Bildes könnte mich darin bestärken, mich mit um so mehr Hingabe für ein menschliches Miteinander einzusetzen und um so intensiver an die Bedeutung der Liebe zu glauben. In dieser Hinsicht könnten wir das Wort Jesu geradezu um die Variante ergänzen: Selig sind, die sehen und doch glauben, nämlich im Sinne von: „Selig sind, die das Böse sehen und trotzdem an das Gute glauben.“

Was ich sagen will, ist dies: Was ich mit den Augen sehe, vermittelt mir keine eindeutige Botschaft, es kann eine positive oder eine negative Botschaft sein. Die Schlussfolgerungen, die ich aus einem Bild ziehe, hängen von viel mehr ab, als vom Bild selbst, als von dem, was mir meine Augen vermitteln. Und meine Schlussfolgerungen hängen auch von mehr ab, als meine Hände mir vermitteln.

Sehen ist mehr, als mit den Augen sehen. Und begreifen ist mehr, als das, was ich mit den Händen fassen kann. 

Sehen und Begreifen sind eine Sache des Herzens und des Kopfes. Das, was sich hier und da abspielt, im Kopf und im Herzen, das führt zum Glauben. Das mit den Augen Wahrnehmbare ist ambivalent, es ist vieldeutig, es ist auslegungsbedürftig. Dem, was wir mit den Augen wahrnehmen, muss noch der Sinn hinzugefügt werden. 

Wenn ich eine schöne Blume sehe: Was sagt sie mir: dass das Leben schön ist - oder dass das Leben vergänglich ist? Wird mich die Blume erfreuen oder wird sie mich trübsinnig machen?

Dass Thomas den Auferstandenen sehen und anfassen kann, kann kein wesentlicher Grund für seinen Glauben an Christus, den Auferstandenen, sein. Es muss noch mehr hinzukommen als das, was die Augen und was die Hände ihm vermittelt haben. Dieses Mehr war offenbar in ihm vorhanden. Denn er spricht Jesus dann an mit den Worten: „Mein Herr und mein Gott.“ Es muss - bei allem Zweifel - bei ihm schon im Vorwege ein inneres Verständnis für das Wesen und Anliegen Jesu vorhanden gewesen sein, weshalb er sich ja auch zu den Jüngern Jesu gesellt hatte. 

Selig ist, wer vom Geist des Auferstandenen erfüllt ist, wer von der Kraft seiner vergebenden Liebe erfüllt ist und aus ihr heraus trotz aller Probleme mit dem Leben und dem Menschen sein Leben zu gestalten in der Lage ist. 

Wir können uns nicht selbst selig machen. Wir können den Glauben nicht durch einen Tatsachenbeweis erwerben. Der Glaube kann uns letztlich nur geschenkt werden. Möge uns der Geist des Auferstandenen erfüllen und unser Leben stärken und leiten.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 27. April 2003)

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