Wir müssen loslassen, weil wir empfangen haben
24. November 1991
Totensonntag / Ewigkeitssonntag
Matthäus 25,1-13
Ein Ehepaar hatte ein junges Mädchen aus einem fernen Land zu Gast. Ein Jahr lang blieb das Mädchen, so war es von vornherein vereinbart gewesen. Am Ende war das Mädchen nicht mehr Gast. Es war wie zum eigenen Kind geworden.
Der Tag des Abschieds stand bevor. Als schließlich das Flugzeug in den Wolken entschwunden war, wischten sich die Eheleute die Tränen aus den Augen, und die Frau sagte zu mir: „So etwas darf man eigentlich gar nicht machen: ein Kind für ein Jahr bei sich aufnehmen. Dieser Schmerz am Ende ist ja nicht auszuhalten.“
Ist dies nicht überhaupt das Problem unseres Lebens? Wären wir gar nicht erst mit der Gabe des Lebens beschenkt worden – wie mit einem Kind auf Zeit – so würde uns der Schmerz des Abschieds erspart bleiben. Aber ist uns das Leben nicht den Schmerz des Abschieds wert?
Würden wir das Leben, so wir könnten, von uns weisen, weil wir es uns nicht zu bewahren vermögen? Würden wir die Liebe zurückweisen, weil wir sie uns nicht sichern können? Den Reichtum des Lebens können wir nur empfangen, wenn wir bereit sind, alles wieder loszulassen. Die Segnungen der Liebe können wir nur erfahren, wenn wir bereit sind, den Schmerz des Verlustes, auch das Risiko der Enttäuschung, auf uns zu nehmen.
Wir können die Ewigkeit des Glücks nicht einfordern. Aber wollen wir darum auf das Glück verzichten? Oder wollen wir wirklich das Ganze fordern, wenn uns immerhin ein Teil geschenkt wird? Können wir uns das Wenige, das uns gegeben ist, nicht viel sein lassen? Können wir nicht die Gabe des Kleinen, Begrenzten, als Gabe des Großen, des Ganzen annehmen? Können wir uns nicht jeden Tag, den wir leben, die Ewigkeit sein lassen? Können wir es uns nicht genug sein lassen an dem, was wir haben, und dafür danken, statt die Vollendung unseres Glücks in dem zu suchen, was uns nicht gegeben ist?
Die durchschnittliche Lebenserwartung früherer Jahrhunderte lag zwischen zwanzig und dreißig oder wenn es hoch kam zwischen dreißig und vierzig Jahren. Wie viele Menschen verlieren ihr Leben in früherem Alter?! Wie viele Kinder verlieren ihr Leben schon im Mutterleib?! Daran gemessen führen wir alle ein Leben nach dem Tode.
Der Schmerz ist unabweisbar Teil des Glücks. Abschiednehmen-müssen gehört zur Begegnung, Loslassen-müssen gehört zum Empfangen. Das Leiden ist die eine Seite unseres Lebens. Und das Leiden ist auch die andere Seite der Liebe. Wenn wir „nein“ sagen, dann sagen wir „nein“ zu beidem. Und wenn wir „ja“ sagen, dann sagen wir „ja“ zu beidem.
Die Geschichte mit dem Ehepaar und dem jungen Mädchen aus dem fernen Land hat noch eine Fortsetzung. Nach zehn Jahren kehrte das Mädchen nach Deutschland zurück. Sie tat, was man nicht tun sollte: Sie wollte ihre Ex-Gastgeber überraschen und klingelte eines Tages unangemeldet an deren Tür. Es öffnete die Frau. Der etwas förmliche und leicht traurige Ausdruck ihres Gesichtes wich freudigem Erstaunen, als sie merkte, wen sie da vor sich hatte. Eine herzliche Umarmung folgte. Dann drinnen noch einmal das Gleiche. Der Wandel des Ausdrucks im Gesicht des Mannes, der Wandel der Stimmung. Im weiteren Verlauf erfuhr das Mädchen, dass ihre Ex-Gasteltern dabei waren, sich zu trennen.
Die Frau sagte mir später: „Es war doch gut, dieses eine Jahr damals gehabt zu haben. Es war eine so schöne Erfahrung gewesen, wie wir sie danach nicht wieder erlebt haben. Und jetzt, wo ich zurückblicke, zählt für mich jeder Augenblick des Lebens, der schön gewesen war.“
Vielleicht geht es Ihnen auch so: Einzelne Momente zählen, kleine Erfahrungen des Glücks, vielleicht auch große, aber doch begrenzte – sie zählen und überstrahlen das andere: die Enttäuschungen, den Schmerz, den Verlust, die Niederlagen, das Versagen.
Es macht keinen Sinn, nach dem Grundsatz zu verfahren: Entweder alles oder nichts – entweder das ganze Glück für immer oder keines. Die kleine begrenzte Freude kann für uns alles enthalten, was unserem ganzen Leben Sinn gibt.
Akuter Schmerz kann uns den Blick für diese Wahrheit verstellen. Wo das Leiden im Moment übermäßig ist, da vermag der Hinweis auf die Schönheiten des Lebens kaum etwas auszurichten. Aber der Körper selbst sucht die Heilung. Gute Worte und Hinweise und praktische menschliche Zuwendung können helfen, die Augen für das Hilfreiche wieder zu öffnen und das Verlangen nach dem zu stärken, was die Freude am Leben wieder wachsen lässt.
Ich habe die Frau noch ein weiteres Mal getroffen, und sie ließ mich noch einmal teilhaben an ihren Lebenseinsichten. Sie sagte mir nach einigen Jahren der Trennung von ihrem Mann: „Inzwischen sind mir nicht nur die Augenblicke des Glücks in meinem Leben wichtig. Auch die schweren Zeiten bedeuten mir jetzt viel. Ich habe vor der Trennung und ich habe nach der Trennung gelitten. Aber mir ist, als hätte ich das Leben erst dadurch in seiner ganzen Größe und Schönheit erfahren. Am Anfang wollte ich das ganze Glück. Dann zählte für mich immerhin das kleine Glück. Aber jetzt weiß ich, dass auch der Schatten zur Vollständigkeit meines Lebens dazugehört. Ich wünsche mir natürlich nicht das Leiden und die Schmerzen. Aber im Nachhinein kann ich sagen: Auch das, was ich durchgemacht habe, hat mein Leben reich gemacht.“
Sie nahm dann noch einmal Bezug auf die unangekündigte Rückkehr des jungen Mädchens, das bei ihnen gewohnt hatte. „Damals, als sie so plötzlich vor mir stand, war ich völlig verwirrt. Der Besuch traf mich innerlich völlig unvorbereitet. Ich sah mit einem Schlag meine ganze Vergangenheit vor mir, das glückliche Jahr – auch die Zeit mit meinem Mann – und konnte mir in dem Augenblick nicht erklären, wie alles kaputt gegangen war. Und wie sie so vor mir stand – unsere Jahresstochter, diese Erinnerung an unser Glück, da hatte ich das Bedürfnis: Es muss alles wieder in Ordnung gebracht werden. Das ging aber ja nicht.
Aber dieser unerwartete Besuch war wie eine plötzliche unvermittelte Anfrage an mein Leben. Da war ich nicht drauf vorbereitet gewesen. Und seitdem habe ich mir Gedanken gemacht. Und ich habe mir gesagt: Stell dir vor, das Mädchen steht wieder plötzlich vor deiner Tür – wie stehst du dann da? Jetzt bin ich besser vorbereitet.“
Es ist ein langer Weg bis zu dem Punkt, dass einer sagen kann: Ich bin vorbereitet, ich kann Rede und Antwort stehen, ich kann Stellung beziehen zu meinem Leben. Wer diesen Punkt erreicht hat, der hat ihn aber vermutlich nicht ein für alle Mal erreicht, sondern nur zeitweise, bis eine neue Verunsicherung einsetzt, die alle Erklärungen, Deutungen und Vorsätze wieder infrage stellt.
Wir könnten uns selbst fragen, wo wir stehen mit unserem Leben, wie wir die Erfahrungen des Glücks und des Leids einordnen, wie weit wir überhaupt nachdenken über unser Leben und ob wir überhaupt schon durch nennenswerte Tiefen hindurchgegangen sind, ob wir uns vielleicht gerade jetzt am Boden befinden und es schwer haben uns wieder aufzuraffen, wie weit wir schon leidgeprüft und am Leiden gereift sind, oder wie weit wir kraftlos geworden sind durch übermächtige und häufige Erfahrungen des Schmerzes.
Wir können über unsere Befindlichkeit nur in sehr begrenztem Umfang verfügen. Wir können einander helfen, auch wenn das manchmal fast aussichtslos erscheint. Aber es gibt doch viele Momente, wo uns nichts bleibt als der Halt, den wir durch andere haben, wo wir selbst nicht mehr lieben, nicht mehr hoffen, nicht mehr glauben können. Da kommt dann alles darauf an, dass eine solche Phase durch die Hilfe guter Menschen überstanden wird, bis die eigene Kraft zum Leben wieder da ist.
Hier liegt auch eine wichtige Aufgabe der Gemeinde. Ich will nicht sagen, dass wir diese Aufgabe auch nur annähernd befriedigend erfüllen. Aber hier liegt eine Aufgabe der Gemeinde, und punktuell wird sie auch mit hilfreicher Wirkung wahrgenommen: dass wir also im Rahmen der Gemeinde untereinander Hilfestellung leisten, dass einer eine Krise heil übersteht, ein Lösungsweg aufgezeigt wird oder einfach die Gewissheit vermittelt wird, dass man nicht allein dasteht mit den eigenen Problemen.
Die Botschaft des heutigen Totensonntags, den wir in der Kirche ja vorzugsweise Ewigkeitssonntag nennen, besteht in der Verkündigung der Kraft des Lebens angesichts der Realität des Todes. Es geht bei der Verkündigung des ewigen Lebens nicht nur und vor allem um eine Fortsetzung des Lebens nach dem leiblichen Tod. Darüber können wir nichts Sicheres aussagen, und es käme einer Geringschätzung des Lebens hier und jetzt gleich, wollten wir das Eigentliche und die Erfüllung erst im Jenseitigen suchen.
„Christus ist unser Leben“ – das ist die Botschaft des Tages. Und Leben in diesem Sinne ist nicht in Tagen und Jahren zu messen. Erfülltes Leben im Sinne Jesu Christi ist die gelebte Liebe. Erfülltes Leben ist in seinem Sinne darum auch nicht ein problemloses, leidensfreies Glück. Wer die Gabe des Lebens als Liebesgabe anzunehmen weiß, der wird über dieses Geschenk hinaus nicht mehr erwarten, der wird es im besten Sinne zu gebrauchen und auszulegen versuchen.
Um noch einmal auf die mehrfach erwähnte Frau zurückzukommen: Sie hatte zunächst gemeint, nur das ungetrübte, dauerhafte Glück könnte ihrem Lebensanspruch genügen. Sie hat dann auch in den kleinen Freuden die Erfüllung ihres Lebens gefunden. Und schließlich hat sie das Leben in seiner Ganzheit angenommen, das Leben mit seinen Höhen und Tiefen, und hat auch dem Gang durch die Tiefen eine Bedeutung für ihr Leben abzugewinnen vermocht.
Wenn wir es so weit gebracht haben, dass wir für unser Leben hier und jetzt in seiner Ganzheit danken können, dann sind wir weit gekommen.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 24. November 1991)