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3. Advent (12.12.21)


Freispruch auf Bewährung

13. Dezember 2009

3. Advent

1. Korinther 4,1-5


„Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt“ – mit diesen Worten fasst Jochen Klepper die Aussage des Weihnachtsgeschehens zusammen. 

Paulus wendet das Thema „Richten“ in unserem heutigen Predigttext hin und her. Das ist eigentlich kein schönes Thema für die Adventszeit, wie wir sie gern hätten. Aber andererseits ist die Adventszeit eine Zeit der kritischen Selbstbesinnung. Also lassen wir uns einfach mal auf dieses Thema ein, zumal uns Jochen Klepper mit seiner Formulierung eine zum Nachdenken geradezu her-ausfordernde Variante anbietet. 

Die biblischen Texte sind von Anfang bis Ende gefüllt von der Frage: „Was tun mit dem Menschen, den der Schöpfer gut geschaffen hat, der aber immer wieder auf Abwege gerät, der oftmals mit seinem Verhalten weder dem Schöpfer die Ehre gibt noch sich selbst und seinen Mitgeschöpfen etwas Gutes tut?“

Eltern stehen täglich vor der Frage: „Was tun mit dem Kind?“ Erzieherinnen und Erzieher stehen vor dieser Frage. Und sie betrifft nicht nur die Kinder. Es geht um uns alle. „Was tun mit dem Menschen?“ Auch zweitausend Jahre christliche Verkündigung haben diese Frage nicht überflüssig machen können. 

Wie ist das zu bewerten, wie der Mensch ist und wie er sich verhält? Welche Maßnahmen sind die angemessenen Antworten auf seine Art und sein Verhalten?

Das ist auch immer wieder unter kriminologischen Gesichtspunkten interessant. Wer als Richter den Angeklagten vor sich hat, steht immer wieder vor der schwierigen Aufgabe, nicht nur den Sachverhalt zu erheben, sondern das Verhalten zu bewerten bezüglich der Person und der Umstände und dann eine Strafe zu finden, die dem Menschen in seiner besonderen schuldhaften Situation gerecht wird. 

Wir sind keine Kriminellen im Sinne des Strafrechts, wohl auch keine Kleinkriminellen. Aber wir sehen doch immer wieder Grund zur Kritik – zumindest am Verhalten der anderen. Es ist immer irgendetwas nicht richtig – an den anderen, aber auch an uns. Paulus sagt: „Urteilt nicht vorschnell übereinander! Überlasst das Richten dem  obersten Richter!“ Darauf können wir aber nicht immer warten. Wir sind es einander schuldig, uns gegenseitig zu beurteilen und uns gegenseitig zu ermahnen und auf den rechten Weg zu helfen – auch mit Bestrafung und Belohnung. Das sagt Paulus auch an anderer Stelle. 

Können wir von dem obersten Richter, dem himmlischen, aber vielleicht etwas lernen? Auf diese Frage bietet uns Jochen Klepper seine nachdenkenswerte Formulierung an: „Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.“ Jochen Klepper nimmt damit Bezug auf das Weihnachtsgeschehen, auf die Geburt Jesu Christi im Stall von Bethlehem. Er nimmt Bezug auf ein schönes Ereignis.

Kann denn etwas so Schönes wie das Weihnachtsgeschehen wirklich unserer ernsthaften kritischen Selbstbesinnung dienen?

Ja, das kann es. Auch im Schönen, im Guten, im Heilen können wir unser schuldhaftes Wesen erkennen. Und das kann sogar ziemlich schmerzlich sein – wie der Schmerz der Wehmut.

Mit dem Weihnachtsfest steht uns etwas Schönes bevor – im doppelten Sinn des Wortes. Das Schöne hat auch etwas Beunruhigendes. 

Zu Heiligabend geschieht etwas Heiliges, etwas Heiles. Im Angesicht des Heilen erleben wir das Unheil in unserer Welt und in uns selbst intensiver und schmerzlicher als sonst. Um so bemühter machen wir uns daran, selbst ein wenig Schönes und Heiles zu arrangieren für das Fest. Wir versuchen, alles besonders schön zu machen und nehmen uns vielleicht vor, uns am Heiligabend besonders freundlich und friedlich zu verhalten. Das ist gar nicht so einfach. 

Das Heile und Schöne des Festes setzt uns in gewisser Weise unter Druck. So mögen das manche empfinden. Und wenn Weihnachten vorbei ist, fühlt sich der eine oder andere vielleicht erleichtert, weil wir nun endlich wieder so sein können, wie wir wirklich sind. 

Vielleicht ist das jetzt ein bisschen übertrieben formuliert. Aber etwas Wahres ist doch daran. Eine deutliche, harte Kritik und eine richtige, schmerzhafte Strafe ist  eventuell leichter wegzustecken und kann erlösender sein als die Spiegelung unserer manchmal so verqueren Art im Bild des Reinen und Vollkommenen. 

Wenn alles schön ist und wir vielleicht „Stille Nacht, heilige Nacht“ singen, kann es einem doch das Herz zerreißen, wenn wir daran denken, dass in unserem Leben nicht alles so schön ist und dass wir daran nicht unerheblich selbst Schuld haben, dass wir im Streit liegen mit diesem und jenem, dass wir  etwas gesagt und getan haben, was wir lieber nicht hätten sagen oder tun sollen. Wir fragen uns wehmütig: „Warum sind wir, wie wir sind? Ginge es nicht auch anders?“ Ja, es müsste eigentlich auch anders gehen. Aber es geht irgendwie doch nicht so recht. Das schmerzt. 

„Warum nur haben wir das Christkind geschenkt bekommen? Das macht uns doch ein richtig schlechtes Gewissen mit seiner Vollkommenheit!“, könnte einer klagen, um sich aus seiner emotionalen Angespanntheit her-auszureißen. „Hätte der Allmächtige nicht zu uns kommen können als einer wie wir – mit all unseren Schwächen und Fehlern?! Dann hätten wir in Ruhe weitermachen können wie gehabt.“ 

Aber wozu wäre das gut gewesen? Uns soll doch geholfen werden. In unserer verqueren menschlichen Art soll uns geholfen werden. Darum geht es zu Weihnachten – auf ganz besondere Art. Zu Weihnachten gibt es keine Moralpredigt, es gibt keine Strafpredigt, es gibt kein hartes Urteil und keine angemessene Strafe. Statt dessen werden wir beschenkt.

Es gibt einfach etwas Schönes, etwas überirdisch Schönes, in ärmlichem Kontext zwar, aber doch etwas Reines, Vollkommenes, Himmlisches, Göttliches. Das bringt unsere Gefühle in Aufruhr, das schmerzt, aber dieser Schmerz hat auch etwas Schönes. Wenn uns Tränen in die Augen treten, können es Tränen der Erlösung sein.

Denn das spüren wir doch alle: Zu Weihnachten soll etwas Gutes an uns geschehen. Und darauf dürfen wir uns einlassen und unseren Gefühlen freien Lauf lassen. Der himmlische Vater legt uns das reine Kind nicht in die Krippe, damit wir uns alle ganz unrein und schlecht vorkommen. 

Die Botschaft lautet vielmehr: „Kommt herein in den himmlischen Stall, nehmt Anteil an dem himmlischen Kind. Es ist euer Kind. Nehmt es in euer Herz hinein. Seine Reinheit soll auch eure Reinheit sein, seine Vollkommenheit soll auch eure Vollkommenheit sein.“ 

Das Christkind soll uns kein schlechtes Gewissen machen. Es soll uns natürlich auch kein gutes Gewissen bereiten im Sinne von: „Bleibt, wie ihr seid, macht weiter wie gehabt.“

Es soll auf eine sehr anrührende, liebevolle und – im wahrsten Sinne des Wortes – sympathische Weise die guten Kräfte in uns frei machen und uns erlösen. 

Das Weihnachtsgeschehen deckt etwas auf von unserem Wesen und der Art unseres Verhaltens, aber nicht in der Weise eines Gerichtsprozesses, wo so lange nachgehakt wird, bis das letzte Detail der Schuld erhoben ist, oder wie im Enthüllungsjournalismus, wo das öffentliche Urteil den Betroffenen schließlich in die unentrinnbare Ecke getrieben hat. 

Das Weihnachtsgeschehen deckt etwas auf von der Art und Weise unseres Verhaltens, indem es in die Tiefe unseres Herzens eindringt und uns in unserer schuldhaften Substanz anrührt, mit einem Übermaß an Liebe allerdings. Im Spiegel der göttlichen Liebe erkennen wir uns selbst – als schuldig und geliebt zugleich. 

„Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.“ Auch diese Art von Urteil ist nicht leicht anzunehmen. Wenn wir es anzunehmen in der Lage sind, ist es wie ein Freispruch. Wir kommen frei auf Bewährung – unbefristet allerdings – und mit der Zusage, dass wir uns nach jedem Rückfall wieder neu bewähren dürfen. 

Ein solcher Freispruch dient unserem Leben nur, wenn wir die darin enthaltene Chance in aller Ernsthaftigkeit nutzen.

Nehmen wir also den weihnachtlichen Zuspruch als Anspruch ernst und besinnen wir uns auf unser Wesen und unser Verhalten! Schlagen wir neue Wege ein, wo wir uns auf Irrwegen sehen, und schauen wir nicht nur auf die anderen, sondern immer auch auf uns. Dann wird die Gnade Gottes ihr gutes Werk an uns verrichten.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 13. Dezember 2009)

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