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1. Weihnachtstag (25.12.19)


Gott ist menschlich

25. Dezember 2009 

1. Weihnachtstag 

Titus 3,4-7


Als ich vor knapp dreißig Jahren hier in der Gemeinde anfing, bekam ich von einem Kollegen ein Buch geschenkt mit dem Titel „Wenn Gott menschlich wäre“. Nach der heiligen Nacht dürfen wir wohl sagen: „Gott ist menschlich. Gott ist menschlich im besten Sinne des Wortes.“

Das Wort „menschlich“ ist zweideutig. Im guten Sinne verstehen wir „menschlich“ z. B. als Gegenteil von „unmenschlich“.

Um die andere Bedeutung auszudrücken, sagen wir manchmal „allzu menschlich“. In diesem Begriff sind all unsere menschlichen Schwächen enthalten - unsere typischen und geradezu unausweichlichen Schwächen.

Wir könnten sagen: „Gott ist menschlich und wir sind allzu menschlich.“ Der eine Mensch ohne die allzu menschlichen Schwächen ist der, der in der Christnacht geboren wurde. In ihm kam der Mensch in seiner reinen göttlichen Art zur Welt.

Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen abstrakt. Gestern haben wir das Weihnachtsgeschehen so schön anschaulich erlebt - mit der Weihnachtsgeschichte des Lukas: Maria und Josef, der Kaiser Augustus, die Herbergssuche, der Stall, die Engel, der Stern, die Hirten.

Aber nun sollen wir uns über all das Gedanken machen und nicht nur unser Herz hören lassen, sondern auch unser Hirn in Gang setzen. Was ist in der heiligen Nacht geschehen? Was hat das für uns zu bedeuten?

Unser Predigttext aus dem Titusbrief sagt: „Es ist erschienen die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes.“

Das sind schöne Worte. Vielleicht würde jemand sagen: „Zu schön, um wahr zu sein.“ Doch! Die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes ist erschienen.

Mit der Liebe zum Menschen ist es nicht so einfach. Da fühlen wir uns manchmal überfordert. Ich habe die Stimme einer von mir sehr geschätzten Dame im Ohr, die immer mal wieder sagt: „Das kann ich nicht. Ich kann nicht jeden lieben.“ Das ist ein ehrliches Wort, und das könnten wir vielleicht alle für uns selbst so ähnlich auch sagen.

Wenn wir z. B. vielleicht heute Nachmittag mit irgendjemandem beim Kaffeetrinken zusammensitzen - vom Stammtisch will ich gar nicht reden, und wir uns dann einmal selbst zuhören: wie wir so reden - über andere und über das Leben: Wie das dann wohl klingt? Ob unser Reden dann von Liebe erfüllt ist?

Aber es geht im Geschehen der Heiligen Nacht zunächst gar nicht um unsere Liebe zu den Menschen. Es geht um Gottes Liebe zu uns. Und die ist etwas sehr Erstaunliches und geradezu Unglaubliches. Erstaunlich und unglaublich, weil wir - oder zumindest die anderen - ja wirklich nicht immer so liebenswert sind.

Der Mensch ist schon ein sonderbares Wesen. Sie haben auf Urlaubsreisen sicherlich mal die eine oder andere Burg besichtigt. Wir als Familie haben das immer gern gemacht, besonders als unsere Kinder klein waren, weil eine Burg etwas Spannendes ist, bis unsere Kinder dann mal sagten: „Müssen wir denn jede Burg besichtigen?“ Nein, das müssen wir nicht. Und eigentlich ist eine Burg überhaupt etwas Schreckliches. Warum ist denn die Burg gebaut worden? Zum Schutz natürlich. Wieso zum Schutz? Weil es eben Menschen gibt, die so sind, dass man sich gegen sie schützen muss.

Verstehen Sie, was ich sagen will? Die schöne, interessante Burg ist eigentlich ein weithin sichtbares Symbol dafür, dass der Mensch wahrlich kein Engel ist. Und wenn Sie durch die Straßen gehen und einen Polizisten treffen, oder ein Polizeiauto fährt an Ihnen vorüber - ja, warum gibt es denn die Polizei? Nicht nur, um den Verkehr zu regeln, sondern weil im Menschen Kräfte stecken und eine Wesensart, die es einfach notwendig machen, dass es die Polizei gibt. Und warum gibt es Soldaten? Doch nicht, weil der Mensch ein so liebes Geschöpf ist!

Ich will den Menschen - und uns alle hier - jetzt nicht schlecht machen, sondern nur noch einmal ins Bewusstsein heben, was für uns die geradezu selbstverständliche tägliche Erfahrung ist: Der Mensch ist eine schillernde Gestalt, zwielichtig könnten wir manchmal auch sagen.

Auf diesem Hintergrund erscheint das Reden von der Liebe zum Menschen doch sehr speziell. Unsere Liebe zum Menschen bezieht sich vielleicht auf den einen oder die eine oder den begrenzten Kreis unserer Lieben. Aber darüber hinaus?

Die Botschaft von der Liebe Gottes zum Menschen allerdings bezieht sich eben nicht auf den einen auserlesenen Menschen oder auf einen auserwählten Personenkreis. Gott liebt den Menschen schlechthin - jeden Menschen. Und das ist extrem speziell.

Wir haben uns als Kirchenbesucher an solches Reden gewöhnt. Etwas fernerstehende Menschen schütteln vielleicht den Kopf oder zucken mit den Schultern, weil ihnen das kirchliche Reden eh etwas abgehoben und unrealistisch erscheint.

Aber wenden wir uns jetzt einmal den „Realisten“ zu und fragen wir sie, was wir denn nun mit dem Menschen machen sollen und wie wir denn nun umgehen sollen mit dem Tatbestand, dass wir alle keine Engel sind, sondern eher welche mit dem „B“ davor?

Sollen wir uns noch mehr in Burgen verschanzen, den anderen als potentiellen Bösewicht und Feind betrachten und die Liebe auf uns selbst und unsere Lieben begrenzen? Was wäre denn das für ein Leben?

Tragen wir nicht alle die Sehnsucht in uns, dass es auch anders gehen müsste? Wollen wir nicht eigentlich, dass wir uns alle verstehen, dass wir alle gut zueinander sind, dass wir alle in Frieden miteinander leben? Ja, aber irgendwie geht das nicht. Aber die Sehnsucht danach steckt doch tief in uns. Wollen wir denn diese Sehnsucht einfach begraben?

Nein, das wollen wir nicht. Zum Leben gehört das Wagnis der Liebe. Das möchte ich jetzt ganz dick unterstreichen: Das Wagnis der Liebe.

Der, dessen Geburt wir jetzt feiern, der ist das Wagnis der Liebe eingegangen. Er wurde später ans Kreuz gehängt. Das zeigt mehr als deutlich, wie es in dieser Welt mit der Liebe bestellt ist. Aber die Botschaft desjenigen, dessen Geburt wir heute feiern, lautet nicht: „Die Welt ist zu schlecht, der Mensch ist zu schlecht für die Liebe.“ Nein. Die Botschaft lautet: „Du, Mensch bist ein erbarmungswürdiges Geschöpf. Du willst, aber du kannst nicht. Nun soll dir geholfen werden.“

Und wie wird uns geholfen? Uns wird geholfen durch diesen einen Menschen, von dem die biblischen Texte sagen: „In ihm ist Gott erschienen. In ihm ist die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes erschienen.“ Er hat das Leben unter den realen Bedingungen mitgemacht. Er hat das ganze Maß an Lieblosigkeit am eigenen Leib erfahren. Aber er hat am Ende gesagt: „Dennoch. Dennoch, du, Mensch, bist ein liebenswertes Geschöpf. Du wirst geliebt.“ Darum sagte Christus vom Kreuz herab: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Und der zu Tode Gebrachte erschien noch einmal, um zu zeigen: „Die Liebe ist nicht tot. Sie lebt und sie bleibt.“

Die Liebe ist die Chance unseres Lebens, die vergebende Liebe. So, wie täglich die Sonne aufgeht, so geht auch täglich die Liebe Gottes über uns auf, über Gute und Böse, wie die Bibel sagt. Wir könnten auch sagen: „Die Liebe Gottes geht täglich über uns auf, egal, ob wir gerade mal eher lieb oder eher nicht so lieb waren.“

Wir dürfen uns in der Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes sonnen. Aber lassen Sie es uns dabei nicht belassen. Es wäre nicht gut, nur zu nehmen. Lassen Sie das, was uns geschenkt wird, als einen Ansporn nehmen, es auch selbst immer wieder mit der Liebe zu versuchen. Das wird für uns selbst gut sein, für unsere Mitmenschen, für unsere Gesellschaft, für die Welt. Und wir würden damit unserem Schöpfer die Ehre geben. 

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 25. Dezember 2009) 

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