Predigt, Predigten, Predigtsammlung, Bibelauslegung, Andachten, Morgenandachten, Wochenspruch, Wochensprüche, Hoheluft, Hamburg-Hoheluft, Wolfgang Nein, St. Markus

1. Advent (1.12.19)


Spiel der Hoffnung

1. Advent

3. Dezember 1995

Hebräer 10,23-25


Es ist eigentlich sonderbar, aber es ist so: Manche Dinge, die immer wiederkehren - von denen sollte man meinen, die kennt man. Aber da kann man sich täuschen. Das, was wir immer und immer wieder haben, kann uns - statt immer besser bekannt - zunehmend fremd und fragwürdig werden. Ich sage dies jetzt insbesondere mit Blick auf das bevorstehende Weihnachtsfest. „Alle Jahre wieder“, singen wir, und das schon fast mit ironischem Unterton. Irgendwas ist da wichtig am Weihnachtsfest - diese Ahnung tragen wir noch in uns. Aber was das nun ist und was das alles soll und ob wir das alles so richtig machen, das ist zunehmend - und auch „alle Jahre wieder“ eine große Frage.

Können wir Weihnachten nicht einfach ausfallen lassen? Ich gebe diese Frage nur weiter, weil ich in einer Diskussion der letzten Tage den Satz gehört habe: „Das ist doch alles künstlich erzeugt - diese Weihnachtsstimmung, diese Weihnachtsfreude, dieser Weihnachtsfriede.“ Da ist was Wahres dran. Aber ich möchte jetzt behaupten: Das hat auch seine Bedeutung, das hat seinen Wert und seinen Nutzen, darauf können und sollten wir nicht verzichten: auf das, was wir da so künstlich und vielfach geradezu krampfhaft zu erzeugen versuchen.

Ich nehme mal den Weihnachtsfrieden. Es wurde in der erwähnten Diskussion gesagt: „Wozu gerade am Heiligabend Frieden in der Familie erzeugen wollen?! Alle sollen plötzlich lieb und nett zueinander sein. Das ist doch ein Krampf, das kann doch nicht klappen, das entspricht doch nicht der Wirklichkeit, das verstärkt doch nur das Leiden und erzeugt Aggressionen!“ Ich glaube jeder von uns kennt das: Wir wollen es gerade am 24sten besonders gut machen. Alles soll schön und friedlich und fröhlich sein, und wenn das dann nicht so ist, dann fließen die Tränen um so reichlicher. 

Aber ich sage noch einmal: Dieses Risiko müssen wir eingehen, das lohnt sich, das ist wichtig und notwendig. Wir müssen uns in dem Strom der täglichen Fried- und Freudlosigkeit eine Auszeit nehmen. Wir müssen da - auf Weihnachten bezogen - im Jahresrhythmus eine Phase einbauen, in der wir die Dinge anders machen als sonst, eine Phase, in der wir für einen Augenblick aussteigen aus dem Fluss der Realitäten und zu gestalten versuchen, was wir gern hätten, was wir uns wünschen, wonach wir uns sehnen.  Wir unterbrechen die Kette des täglichen Unfriedens und richten einen alternativen Zeitabschnitt ein, eine Phase des Waffenstillstands - wohl wissend, dass dieser Zeitabschnitt begrenzt ist. 

Das ist wichtig - dass wir auch dem Raum in unserem Leben geben, was nicht gewohnte Realität ist, was aber doch Gegenstand unserer Wünsche, unserer Sehnsucht, was Gegenstand unserer Hoffnung ist. 

Wir wünschen uns - sagen wir - Frieden in der Familie: dass einer den anderen gelten lässt, dass einer auf den anderen Rücksicht nimmt, dass wir freundlich und zuvorkommend zueinander sind, dass wir einander helfen, geduldig miteinander sind, einander verzeihen ... Wenn wir das im täglichen Miteinander nicht schaffen, dann wollen wir das gelegentlich wenigstens - ich sag‘s mal salopp: spielen, dann wollen wir wenigstens für einen begrenzten Zeitraum gestalten, wie es auch sein könnte, wie es schön wäre ... 

Ein solches - in Anführungszeichen - „Spiel“ ist wichtig, denn von einer solchen Auszeit geht auch Kraft aus. Wir stecken da nicht nur Kraft rein, es kommt auch neue Kraft raus. Solange wir uns noch die Mühe machen, solche Phasen alternativen Lebens zu gestalten, ist noch Hoffnung da. Solche Auszeiten sind Zeichen dafür, dass wir uns nicht abfinden mit den unbefriedigenden Realitäten unseres täglichen Daseins. 

Solche Phasen bergen Risiken in sich, das ist wohl wahr. Gerade dann leiden wir an dem Unvollkommenen, an dem Unschönen, an den Verletzungen, an dem, was kaputt ist in unserem Leben. Aber es ist ein Leiden um der Hoffnung willen. Da stecken auch Verheißungen drin. Wir tragen ja auch viel Gutes in uns. Auch in unseren gestörten Beziehungen gibt es noch viele Ansatzpunkte für Verständigung, für ein Zusammenkommen. Die guten und heilenden Kräfte in uns brauchen nur auch gelegentlich die Chance, sich einmal zeigen und entfalten zu dürfen.

Um noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Die Weihnachtsstimmung, die Weihnachtsfreude, der Weihnachtsfriede - das alles hat etwas Künstliches an sich, etwas Gewolltes. Aber wir können und sollen nicht nur untätig darauf warten, dass selbstverständliche Realität wird, was wir da künstlich zu gestalten versuchen. Da werden wir nämlich wohl noch ziemlich lange warten müssen. Aber zwischendurch können wir das Noch-nicht schon mal spielerisch vorwegnehmen, damit uns die Ahnung davon nicht verloren geht, wie es auch sein könnte, und wie wir es uns in der Tiefe unseres Herzens wünschen.

Die orthodoxe Kirche feiert übrigens ihre Gottesdienste grundsätzlich in diesem Sinne: Jeder Gottesdienst ist wie die feierliche Vorwegnahme des Himmels auf Erden. Wir haben zwar noch keine himmlischen Zustände auf Erden, aber einen Zipfel des Himmels hätten wir doch gern irgendwo zu fassen. Auch in unseren Gottesdiensten versuchen wir das Noch-nicht zu gestalten - im Abendmahl beispielsweise. Wenn wir da im Kreis beieinander stehen, dann stellen wir eine Gemeinschaft dar, die nicht unbedingt dem tatsächlichen Miteinander entspricht. Vielleicht liegen wir mit jemandem, der auch im Kreis steht, im heftigen Streit. Aber für einen Augenblick stellen wir uns zueinander, lassen wir uns verbinden und stellen wir zurück, was uns trennt. Das Abendmahl ist insofern dreierlei: ein Abbild unserer Sehnsucht nach Frieden, ein Abbild der Verheißung des Friedens und ein Abbild unserer Hoffnung: dass wir der Verheißung vertrauen, dass wir ihr Raum in unserem Leben geben und sie uns Ziel und Leitbild sein lassen auf unserem Weg.

„Lasst uns festhalten am Bekenntnis der Hoffnung“, heißt es in unserem Predigttext. Es wäre doch schrecklich, wenn wir sagen würden: „Das hat doch keinen Sinn.“ Es heißt hier im Predigttext: „Lasst uns aufeinander Acht haben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken.“ Es wäre doch schrecklich, wenn wir sagen würden: „Unsinn, biblischer Unsinn, wahre Liebe gibt es eh nicht.“ Und wenn wir sagen würden: „Weihnachten abschaffen: diese Gefühlsduselei von Liebe unter den Menschen und Friede auf Erden - alles künstlich, alles unecht.“ Das wäre schrecklich und trostlos, wenn wir keine Hoffnung mehr hätten, keinen Glauben mehr an das, was uns verheißen ist.

Die Bibel ist ein Buch der Verheißungen. Es ist auch ein Buch der Erfüllungen. Es ist ein Buch von Menschen, die trotz aller Widrigkeiten des Lebens letztlich die Hoffnung nicht aufgegeben haben, und die tatsächlich auch immer wieder die Erfahrung der Erfüllung gemacht haben. Für uns als Christen ist insbesondere das Neue Testament ein Buch der Erfüllung geworden. In diesem einen Menschen, Jesus von Nazareth, hat sich erfüllt, was Menschen sich immer ersehnt haben - und wonach wir uns alle wohl weiter sehnen: dass sich der Mensch als schwaches, fehlerhaftes und sündhaftes Wesen dennoch als angenommen und geliebt verstehen darf. 

Dieser Jesus von Nazareth hätte nach seiner Lebenserfahrung wahrlich auch sagen können: „Das hat alles keinen Sinn. Liebe und Frieden - das sind keine Realitäten, das sind Hirngespinste, das lassen wir lieber.“ Nein, er hat an dem Glauben festgehalten und hat der Liebe und dem Frieden in seiner Person Gestalt gegeben. Er ist dadurch selbst zu einem Stück Wirklichkeit geworden. Das, was noch nicht ist, der Himmel auf Erden, das ist in ihm doch anschaubar geworden. In ihm haben wir einen Zipfel des Himmels zu fassen. Und den lassen wir nicht los. Den sollten wir nicht loslassen. 

Darum feiern wir weiter Weihnachten - feiern wir das Fest der Liebe und des Friedens als Zeichen unserer ungebrochenen Hoffnung. Wir machen das sicherlich alles nicht ganz richtig. Wir lassen uns ablenken und lassen uns in unserem Wunsch, es schön und gut zu machen, reinreißen in einen Kaufrausch, in eine Hektik, in einen Stress. Aber wir sagen deswegen nicht: „Das mit Weihnachten lassen wir, das ist alles künstlich, das ist aufgebauscht.“ Das können wir nicht sagen, das sollen wir nicht sagen und das wollen wir nicht sagen. Wir brauchen die Weihnachtszeit, wir brauchen das Leiden an unseren unbefriedigten Sehnsüchten, wir brauchen den Versuch, das zu gestalten und zu feiern, was uns fehlt, was noch nicht ist, was aber doch Gegenstand unserer Hoffnung bleibt - wozu uns der Hebräerbrief ermuntert: „Lasst uns festhalten am Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken.“

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 3. Dezember 1995)

wnein@hotmail.de    © Wolfgang Nein 2013