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3. Advent (15.12.19)


„Was sollen wir denn tun?"

14. Dezember 1980

3. Advent

Lukas 3,1-14


Es gab einmal eine glückliche Familie. Die Eltern verstanden sich. Mit den beiden Kindern, der Tochter und dem Sohn kamen sie gut zurecht. Und, was ja nicht immer so ist, auch die Kinder waren mit ihren Eltern ganz und gar einverstanden. Besonders die Tochter liebte ihre Eltern sehr. Es war eine glückliche Familie.

Als das Mädchen 17 Jahre alt war, lernte es einen Neuseeländer kennen, der hier in Deutschland studierte. Die beiden verliebten sich. Es entstand eine ernsthafte Beziehung. Als er nach zwei Jahren mit dem Studium fertig war, beschlossen die beiden zu heiraten. Sie wollte mit ihm nach Neuseeland gehen. Das war für den Rest der Familie, besonders für die Eltern, hart. Aber was konnten sie tun?! So gern sie ihre Tochter hatten, sie mussten sie loslassen. Es war allen Seiten klar, dass das ein Abschied auf lange sein würde. Denn die Entfernung ist groß. Und so wohlhabend waren weder die Eltern noch das frischgebackene junge Ehepaar, als dass sie diese Entfernung leicht hätten überbrücken können.

Die Jahre gingen ins Land. Briefe gingen hin und her. So blieb die Beziehung zwischen den Eltern und der Tochter erhalten. Die Tochter schrieb oftmals von ihren schönen Erinnerungen an Zuhause; vielleicht hatte sie ein wenig Heimweh, Sehnsucht nach der unbeschwerten Zeit in der Geborgenheit ihres Elternhauses.

Hier in Deutschland entwickelten sich die Dinge unterdessen in eine negative Richtung. Die Eltern, inzwischen Ende vierzig, verstanden sich nach 28jähriger Ehe plötzlich nicht mehr. Er kam oft spät nach Hause, mit fadenscheinigen Erklärungen. Sie konnte nicht mehr ungezwungen freundlich zu ihm sein. Die Beziehung kühlte sich ab. Es gab immer häufiger heftige Auseinandersetzungen. Die Eltern beschlossen, getrennt zu leben. Schließlich ließen sie sich scheiden. Um die Aufteilung ihres Hausstandes führten sie einen Prozess. Zu dieser ganzen Misere kam noch die Unglücksbotschaft, dass der Sohn durch Trunkenheit am Steuer einen Unfall mit beträchtlichem Personenschaden verursacht und dafür eine Gefängnisstrafe auferlegt bekommen hatte. Nach der Scheidung begann der Mann zu trinken. Das erfuhr sie durch Bekannte. Sie selbst war mit den Nerven ziemlich am Ende und begab sich in psychotherapeutische Behandlung.

Während dieser ganzen unruhigen Zeit des familiären Niedergangs schrieb die Tochter aus Neuseeland weiter nach Hause. Sie schrieb weiter davon, wie gern sie zurückdachte an die schönen Jahre damals, wie sehr sie ihre Familie vermisste. Die Mutter erhielt diese Briefe. Zuerst ließ sie sie über längere Zeit unbeantwortet liegen, weil sie nicht wusste, was sie schreiben sollte. Dann entschloss sie sich, die Tochter nichts merken zu lassen. Sie schrieb weiter so, als wenn zu Hause alles beim Alten geblieben wäre. Sie verheimlichte die Unstimmigkeiten, die zwischen ihr und ihrem Mann bestanden hatten, sie verheimlichte die Scheidung, sie verheimlichte den Prozess, sie verheimlichte den schuldhaften Unfall des Sohnes, sie verheimlichte, dass sie sich in psychotherapeutischer Behandlung befand.

Dann kam der Brief, der das Innere der Mutter in ein Chaos stürzte. "Ich komme euch besuchen", hatte die Tochter geschrieben. "Ich komme euch besuchen - im Winter zu Weihnachten. Ich möchte mal wieder Weihnachten mit euch feiern, deutsche Weihnachten, wenn draußen alles dunkel ist - und vielleicht sogar mit Schnee, Weihnachten mit euch, so wie früher. Mein Mann gibt mir frei. Ich freue mich schon wahnsinnig darauf. Es sind ja nur noch ein paar Monate."

Die Mutter war schockiert. Wie könnte sie ihrer Tochter gegenübertreten? Wie könnte sie ihr erklären, dass zu Hause alles in die Brüche gegangen ist? Wie sollte sie ihr erklären, dass sie ihr nichts von alledem geschrieben hatte?

Die Mutter spürte, wie sich ihr Herz bei diesen Gedanken zusammenzog. Sie war ratlos. Diesmal ließ sie den Brief noch länger liegen als sonst. Sie musste nachdenken: Für meine Tochter wird eine Welt zusammenbrechen, wenn sie das hier alles sieht! Ihre heile Welt ist zerstört. Sie wird enttäuscht sein, enttäuscht über ihre Mutter, über ihren Vater, über ihren Bruder. Das wird furchtbar sein. Sie wird sich fragen: "Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt? Warum hast du mir etwas vorgemacht?" Und sie wird fragen: "Warum musste das überhaupt alles so kommen, mit der Scheidung, mit dem Bruder?" Sie wird zornig sein. Nein, zornig wird sie nicht sein. Zornig ist sie nie gewesen. Aber traurig wird sie sein, unendlich traurig. Leiden wird sie, in ihrem Innersten wird sie leiden, unendlich leiden.

Ja, warum musste das alles so kommen, und warum habe ich ihr nichts gesagt? Aber wie hätte ich als Mutter dagestanden?! Und die Tochter wäre doch nur schon früher enttäuscht gewesen! Aber jetzt, jetzt wird das noch schlimmer. Wo wird sie sich nun noch zuhause fühlen können? In einem fremden Land lebt sie seit Jahren. Und wenn sie nun nach Hause zurückkehrt, wird ihr auch hier alles fremd geworden sein. Was sollte sie nur machen? Was sollte sie ihrer Tochter schreiben? Vielleicht könnte sie die Tochter noch davon abhalten, überhaupt nach Deutschland zu kommen. Aber wenn sie doch kommt - einfach nach Unbekannt verziehen? Das wäre grausam. Oder jetzt im Brief doch alles zugeben, alles erklären? Das wäre bestimmt ein Schock für die Tochter. Und sie würde dann doch kommen, um alles persönlich zu erfahren. Oder sollte sie nur Andeutungen machen im Brief: dass in Deutschland nicht mehr alles so ist wie früher - und dass sich auch in der Familie einiges verändert hat. Und dann alles persönlich erklären, wenn die Tochter da ist?

Warum bloß hat sie nie jemanden gehabt, der ihr einen Rat hätte geben können?! Das ist doch voraussehbar gewesen, dass eines Tages alles ans Licht kommen würde. Aber sie hatte alles selbst entscheiden müssen.

Und jetzt musste sie noch einmal entscheiden. Sie entschloss sich, im Brief nur Andeutungen zu machen und der Tochter dann alles persönlich zu erklären. Sie wollte sich auf den Besuch gut vorbereiten. Die kleine Wohnung, die sie damals nach der Scheidung bezogen hatte, wollte sie gemütlich herrichten. Sie wollte auch ihren geschiedenen Mann unterrichten. Vielleicht könnte die Tochter ihn besuchen. Und der Sohn - vielleicht würde er zu Weihnachten frei bekommen. Aber sie würde nichts mehr verheimlichen. Sie würde alles erzählen. Sie hatte sich zur Offenheit entschlossen. Aber sie hatte doch Angst, unwahrscheinliche Angst.

Die Tochter kam. Sie sah erwachsen aus. Das war nicht mehr die Kleine. Eine junge, reife Frau, so wirkte sie. Fast dreißig war sie. Und ganz herzlich, ganz ausgeglichen und zufrieden und fröhlich. Der Mutter tat es, wie sie ihre Tochter so glücklich auf sich zukommen sah, im Herzen noch mehr weh, dass die bittere Offenbarung nun unmittelbar bevorstand. Die Tochter nahm die Mutter in den Arm. Sie fragte nichts Verfängliches, fragte nicht: „Wo ist Vater, wo ist der Bruder?“

Erst als sie zu Hause waren, in der kleinen Wohnung, sah die Tochter ihre Mutter erwartungsvoll an. Und dann erzählte die Mutter alles.

Und beim Erzählen spürte sie, dass die Tochter nicht mehr das kleine unschuldige, naive Kind von damals war. Ganz ruhig war die Tochter und hörte zu. Kein Zorn war spürbar, keine heftige, vorwurfsvolle Reaktion, nein, liebevoll hörte sie zu.

Und als die Mutter alles erzählt hatte, nahm die Tochter sie in den Arm. Und sie weinten beide. Aber die Mutter hatte keine Angst mehr. Im Gegenteil. Sie wurde innerlich immer ruhiger. Irgendwie würde es jetzt weitergehen - im Guten. Wie, das wusste sie auch noch nicht. Aber sie würde jetzt mehr Kraft haben.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 14. Dezember 1980)

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