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4. Advent (22.12.19)


Zart und gewaltig

21. Dezember 2008

4. Advent

Lukas 1,39-56


Weihnachten hat mit Zweierlei zu tun: mit etwas sehr Zartem und mit etwas ganz Gewaltigem. Der Evangelist Lukas hat beides zusammengebracht in der Person der schwangeren Maria. Das wirkt schon sehr speziell. Im sog. Magnifikat, dem Lobgesang der Maria im Evangelium des Lukas 1,46-55, sagt Maria:

„Gott übt Gewalt mit seinem Arm. Er zerstreut, die hochmütig sind in ihrem Sinn. Die Gewaltigen stößt er vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat zu unseren Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.“

So redet normalerweise keine Frau, die gerade ein Kind erwartet. So wird auch Maria nicht wirklich geredet haben. Das ist nicht ihr O-Ton. Dies ist ein Bibeltext. Wenn ein Mensch in der Bibel etwas sagt, dann muss das nicht wirklich das ganz persönliche Wort des betreffenden Menschen gewesen sein. 

Hier hat der Schreiber des Bibeltextes, der Evangelist Lukas, Maria Worte in den Mund gelegt, große Worte, Worte der Tradition, Worte aus den Psalmen, Worte, in denen sich religiöse Vorstellungen des jüdischen Volkes zum Ausdruck bringen. 

Maria ist schwanger. Das ist etwas sehr Persönliches. In ihrem Körper vollziehen sich Vorgänge ungewohnter Art. Es soll ihr erstes Kind werden. Maria wird jetzt ganz viel mit sich selbst beschäftigt sein, mit ihren Gefühlen, mit Freude, Vorfreude, mit Fragen, bangen Fragen, der Sorge, ob alles gut gehen wird. Neue Anforderungen werden sie in ihrem täglichen Leben in Anspruch nehmen.

Als Schwangere wird sie aber zugleich spüren, dass sich in ihr etwas vollzieht, was weit über sie selbst hinausgeht. Das, was sie zum einen als etwas ganz Persönliches erlebt, ist zugleich ein biologischer Vorgang, etwas sehr Existentielles, das seine letzte Quelle in einer geheimnisvollen Schöpferkraft hat, durch die immer wieder neues Leben entsteht. Je nach Gemütslage wird Maria als Schwangere das, was da über sie gekommen ist, was sie erfasst hat, als wunderbares persönliches Geschenk empfinden oder als die Bürde einer großen, vielleicht übergroßen Aufgabe und Verantwortung. 

Es sind die überpersönlichen Anteile der Schwangerschaft, die im Lobsang der Maria formuliert sind, und zwar nicht nur die überpersönlichen Anteile der Schwangerschaft, wie sie für jede Schwangerschaft gelten würden, sondern zudem noch die überpersönliche Bedeutung des Kindes, das Maria noch in ihrem Leib trägt.

Das Kind in ihrem Leib ist nicht nur ihr ganz persönliches Kind, ihr Jesus. Mit ihren Worten greift Maria auf das Leben und Wirken ihres Kindes voraus, das auch der Christus für alle Menschen werden soll. In den Worten der Maria sind die Verheißungen der jüdischen Tradition wiederholt, wie sie nun in dem noch zu gebärenden Kind in Erfüllung gehen sollen.  

Der Evangelist Lukas legt nicht nur Maria große Worte in den Mund. Maria hatte sich auf den Weg zu einer Verwandten gemacht, zu Elisabeth, die ebenfalls gerade schwanger war und deren Schwangerschaft uns auch als ein überpersönliches Geschehen geschildert wird. 

Elisabeth war schon betagt und hatte schon nicht mehr wirklich daran geglaubt, dass ihr noch ein Kind geschenkt würde. Auf wunderbare Weise ist dies dann doch geschehen. Ihrem Mann Zacharias, der als Priester im Tempel in Jerusalem arbeitete, war - ähnlich wie bei Maria - durch einen Engel die Botschaft überbracht worden, dass seine Frau demnächst ein Kind bekommen würde. 

Nun also besucht die jüngere Schwangere, Maria, die ältere Schwangere, Elisabeth. Wir können uns ausmalen, worüber sich die beiden wohl unterhalten haben. Vermutlich haben sie auch über das gesprochen, worüber sich zwei Schwangere üblicherweise unterhalten. Von diesem persönlichen Gesprächsanteil berichtet uns Lukas aber nichts. 

Er legt auch Elisabeth Worte in den Mund, die nicht auf das demnächst zur Welt kommende Jesuskind von Maria, sondern auf den verheißenen Christus bezogen sind. „Gepriesen bist du unter den Frauen und gepriesen ist die Frucht deines Leibes“, lässt Lukas Elisabeth sagen. „Und wie geschieht mir das, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Selig bist du, die du geglaubt hast. Es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn.“ 

Auch in den Worten von Elisabeth ist bereits vorweggenommen, was noch kommen wird: dass durch Maria ein Kind geboren werden wird, dessen Bedeutung weit über das ganz Persönliche von Maria hinausgehen wird, ein Kind zum Wohl und Seelenheil von Menschen in aller Welt.

Die Worte der beiden schwangeren Frauen sind also nicht wirklich die Worte der beiden schwangeren Frauen. Aus ihren Mündern hören wir vielmehr die Worte der jüdischen Verheißung und die Worte der Erfüllung dieser Verheißung in jenem Jesus von Nazareth, in dem einige in Israel und dann viele auch in anderen Teilen der Welt den Messias, den Christus, den Heiland erkannt haben. 

Das Kind von Elisabeth sollte Johannes werden, der Johannes, der Jesus mit den Worten „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ als den Christus ankündigte und der Jesus im Jordan taufte. 

Lassen wir uns nun einmal auf den Lobgesang der Maria, auf das Magnifikat ein - auf die großen Worte, die von dieser einfachen jungen Frau gesprochen werden. Sie beginnt ihre kleine große Rede mit einem Lobpreis Gottes, mit dem Ausdruck ihrer großen Freude und Dankbarkeit: „Meine Seele erhebt den Herrn, mein Geist freut sich Gottes.“ 

Das - oder so ähnlich - könnten noch wirklich die Worte einer schwangeren Frau sein. Denn überhaupt schwanger geworden zu sein, kann für eine Frau, die gern ein Kind haben möchte, ein so großes wunderbares Geschenk sein - und wem kann sie dafür danken? Wenn wir diese Frage recht bedenken, werden wir uns letztlich dem geheimnisvollen göttlichen Schöpfer allen Lebens zuwenden. Denn unser menschlicher Anteil an der Erschaffung neuen Lebens ist verschwindend gering.

„Gott hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen“, sagt Maria dann weiter. Von dieser Formulierung hat das Magnifikat seinen Namen. Denn magnificare heißt - wörtlich übersetzt  „groß machen“. Gott hat die kleine Maria groß gemacht - damit, dass sie die Mutter eines Kindes werden darf, das bald weltweite Bedeutung erlangen wird.

Es kann aber, auch abgesehen von Maria und ihrem ganz besonders bedeutenden Kind, für jede schwangere Frau ein im wahrsten Sinne des Wortes „erhebendes“ Gefühl sein, einem Kind das Leben schenken zu dürfen. Denn neues Leben zu erschaffen und für neues Leben verantwortlich zu sein - das ist eine große und großartige Aufgabe. Wenn wir uns dessen einmal bewusst werden, dann können wir uns fast nur erstaunt an den obersten Schöpfer allen Lebens wenden mit den Worten: „Danke, Gott, für dieses große Vertrauen. Danke, Gott, für den Zuspruch dieser großen Würde.“

Dann aber steigert sich der Lobpreis der Maria in eine Beschreibung des göttlichen Wirkens, das fast wie ein gesellschaftspolitisches Programm klingt. „Die Mächtigen werden gestürzt, die Schwachen erhoben, die Hungrigen werden gespeist, die Reichen gehen leer aus.“

In diesen Worten spricht sich die jahrhundertelange bittere Erfahrung von gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten aus, die im Volk Israel zur Herausbildung der Hoffnung auf einen Messias, auf einen Retter mit übermenschlichen Fähigkeiten geführt hatte.

Das Kind, das Maria zur Welt bringen sollte, wurde dann nicht in genau der Weise zu dem Messias, wie die alttestamentlichen Verheißungen es formuliert haben. Aber es hat gleichwohl auf seine Art - über die Herzen der Menschen - einen enormen Einfluss ausgeübt, der zu weltweiten gesellschaftlichen Veränderungen geführt hat. 

Die Barmherzigkeit, das Eintreten für die Schwachen, die Hungrigen, die Unterdrückten, die Verfolgten ist für Millionen von Menschen zu einem selbstverständlichen Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten geworden. 

Jesus hat sich an die Herzen der Menschen gewandt und hat über die Herzen Vieles in der Welt zum Guten und Menschlicheren verändert.

Auf unserem Erdball liegt zwar weiterhin Vieles im Argen, was die gesellschaftlichen Verhältnisse anbetrifft. Aber das Kind, das Maria in ihrem Leib trug und das in der heiligen Nacht geboren wird, hat etwas in die Welt gebracht, was kraftvoller und beständiger wirkt als jedes konkret formulierte politische Programm. Jesus, der Christus, hat die Liebe zum Kern seiner Botschaft gemacht. Sie ist die Saat, die unzerstörbar immer und überall wieder aufgehen wird. 

Maria hatte Grund, Gott den Schöpfer allen Lebens, mit den höchsten Worten zu loben und zu preisen. Wir stimmen dankbar in ihren Lobpreis ein.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 21. Dezember 2008)

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