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1. Sonntag der Passionszeit (10.3.19)


Christus – Priester und Opfer zugleich

1. März 1998

Invokavit

(1. Sonntag der Passionszeit)

Hebräer 4,14-16


Hier vorn auf dem Falt­blatt über un­se­re Ge­mein­de steht: St. Mar­kus – so alt wie der Stadt­teil Ho­he­luft, aber nicht von ge­stern. „St. Mar­kus ist nicht von ge­stern“ – über die­se For­mu­lie­rung ha­ben wir uns kürz­lich im klei­nen Kreis ein we­nig un­ter­hal­ten. „Wir sind nicht von ge­stern, zu­min­dest wol­len wir auf der Hö­he der Zeit sein mit dem, was wir in un­se­rer Ge­mein­de sa­gen und tun. Das ist zum ei­nen wohl wahr.

Aber das an­de­re lässt sich doch auch nicht leug­nen und wol­len wir auch gar nicht leug­nen: Wir ha­ben an uns und in uns auch viel, sehr viel so­gar, von ge­stern – wir als Kir­che und als Ge­mein­de. Die Tra­di­tion spielt für uns ei­ne gro­ße Rol­le. Ja, un­se­re Wur­zeln stecken tief in der Ge­schich­te, die Grund­la­ge un­se­res Den­kens und Han­delns hat sich in der weit zu­rück­lie­gen­den Ver­gan­gen­heit ge­formt – vor 2-3000 Jah­ren.

Und wenn wir die In­hal­te un­se­res Glau­bens be­trach­ten, kön­nen wir noch hin­zu­fü­gen: Auch die fer­ne Zu­kunft spielt für un­ser Den­ken und Glau­ben ei­ne ganz we­sent­li­che Rol­le. Al­so: Ge­stern, heu­te und mor­gen – das fügt sich in Kir­che zu ei­nem zu­sam­men­hän­gen­den Gan­zen zu­sam­men, und zwar als ei­ne gro­ße Be­we­gung.

Das möch­te ich in Ver­bin­dung mit dem heu­ti­gen Pre­digt­text aus dem He­bräer­brief deut­lich zu ma­chen ver­su­chen. Da geht es um „den gro­ßen Ho­heprie­ster Je­sus Chri­stus, den Sohn Got­tes, der die Him­mel durch­schrit­ten hat, der als Mensch zur Er­de ge­kom­men ist, der hier mit­ge­fühlt und mit­ge­lit­ten hat und der zum Ur­he­ber des ewi­gen Heils ge­wor­den ist“. So in et­wa for­mu­liert es der He­bräer­brief in Sprach­bil­dern, die der Über­set­zung be­dür­fen.

Wor­um geht es? Ich bit­te Sie, für ei­nen Au­gen­blick den Al­tar in die Mit­te Ih­res Den­kens zu stel­len. Der Al­tar ist ja das hei­li­ge Zen­trum des Kirch­raums. Wenn er auch nicht im räum­li­chen Sin­ne in der Mit­te steht, so hat er doch ei­ne zen­tra­le Be­deu­tung. Der Al­tar ist nicht ir­gend­ein Tisch. Der Al­tar ist der Ort, an den wir in­ner­halb die­ses Kirch­raums die Be­geg­nung mit Gott hin­den­ken und wo wir die Ri­tu­a­le vor­neh­men, die un­se­re Be­geg­nung mit Gott im got­tes­dienst­li­chen Sin­ne ge­stal­ten.

Die­se zen­tra­le Be­deu­tung und Funk­tion hat der Al­tar in der re­li­gi­ö­sen Ge­schich­te im­mer ge­habt. Auch im Tem­pel in Je­ru­sa­lem und auch schon viel frü­her.

Als da­mals die re­li­gi­ö­sen Din­ge ei­ne or­ga­ni­sa­to­ri­sche Form be­ka­men, wa­ren es die Prie­ster, die am Al­tar tä­tig wer­den durf­ten. Es war in Je­ru­sa­lem der Ho­he­prie­ster, der sich die be­son­ders wich­ti­gen Hand­lun­gen am Al­tar vor­be­hielt. Ein­mal im Jahr zum Bei­spiel brach­te er das Ver­söh­nungs­op­fer dar als Be­frei­ung des Vol­kes von al­ler Schuld, die sich im Lau­fe des Jah­res an­ge­häuft hat­te. Der Sün­den­bock ist Ih­nen ein Be­griff: Auf dem Al­tar wur­de ein Bock als Schul­dopfer dar­ge­bracht. Ei­nen zwei­ten le­ben­den Bock fass­te der Prie­ster bei den Hör­nern, sprach die Schuld des Vol­kes auf ihn und schick­te ihn in die Wü­ste.

Das war wirk­lich aus heu­ti­ger Sicht ein ziem­lich al­ter­tüm­li­ches Ver­fah­ren. Das Pro­blem, das da­mit ge­löst wer­den soll­te, war al­ler­dings kein al­ter­tüm­li­ches. Es ist durch die Jahr­tau­sen­de hin­durch bis auf den heu­ti­gen Tag höchst ak­tuell ge­blie­ben. Auch heu­te und täg­lich neu macht sich je­der von uns in klei­ne­ren oder auch grö­ße­ren Din­gen schul­dig. Und wir kön­nen auch wei­ter­hin da­von spre­chen, dass sich ein gan­zes Volk schul­dig ma­chen kann – den­ken wir das das Drit­te Reich. An­de­re Bei­spie­le lie­ßen sich leicht an­fü­gen.

Es ist wei­ter­hin so, dass wohl je­der Mensch das Be­dürf­nis hat, von der Last der Schuld frei zu wer­den. Wir ent­schul­di­gen uns, wir bit­ten je­man­den um Ver­zei­hung, und manch­mal brau­chen wir eben auch die Ent­la­stung von hö­he­rer Stel­le. Der Buß- und Bettag hat in die­ser Hin­sicht sei­ne blei­ben­de Funk­tion, auch wenn er kein ge­setz­li­cher Feier­tag mehr ist. Eben­so bleibt die ri­tuel­le Ver­ge­bung im Rah­men des Got­tes­dien­stes wei­ter­hin von Be­deu­tung.

Aber wenn wir jetzt hier auf dem Al­tar ei­nen Bock als Sünd­op­fer dar­brin­gen wür­den, und wenn ich in prie­ster­li­cher Funk­tion ei­nem zwei­ten Bock un­ser al­ler Sün­den zu­spre­chen wür­de und ihn in die Hei­de schicken wür­de oder sonst­wo­hin, dann wür­den Sie wohl sa­gen: „So geht das ir­gend­wie heu­te nicht mehr.“ Das geht nach un­serm Ver­ständ­nis aus ver­schie­de­nen Grün­den nicht, von dem ganz prak­ti­schen Pro­blem ein­mal ab­ge­se­hen.

Wir kön­nen ein­fach kei­ne Tier­op­fer mehr dar­brin­gen. Es wi­der­spricht un­se­rer Vor­stel­lung, dass Gott es nö­tig hät­te, sich in sei­nem Zorn über un­ser viel­fäl­ti­ges Fehl­ver­hal­ten durch ein Op­fer be­sänf­ti­gen zu las­sen. Und das mit dem Sünd­op­fer muss uns sehr pro­ble­ma­tisch er­schei­nen, da es so gar nicht mit der Ar­beit an uns selbst zu tun hat. In uns muss Reue da sein und die Be­reit­schaft zur Bes­se­rung. Die Ver­la­ge­rung un­se­rer Schuld nach au­ßen auf Sün­den­böcke al­ler Art hat schon so viel Un­heil an­ge­rich­tet.

Aber nicht nur uns er­füllt der Ge­dan­ke an den al­ter­tüm­li­chen Op­fer­kult und an die Ver­ge­bung mit­tels ei­nes Sün­den­bocks mit Un­be­ha­gen. Auch da­mals schon wur­den die­se Ver­fah­rens­wei­sen kri­tisch ge­se­hen. Je­sus hat mit ih­nen Schluss ge­macht. Er hat mit gött­li­cher Au­to­ri­tät dem Op­fer­kult ein En­de be­rei­tet. Er hat den Sün­den­bock ein für al­le ­Mal in die Wü­ste ge­schickt.

Und wie hat er das ge­macht? In­dem er sich selbst zum Prie­ster und zum Op­fer er­klärt hat und ein letz­tes Mal die Op­fer­hand­lung voll­zo­gen hat – an sich selbst – als Prie­ster und Op­fer zu­gleich, so sieht es der Sch­rei­ber des He­bräer­brie­fes. In­dem Je­sus das tat, woll­te er den Op­fer­kult nicht be­stä­ti­gen, son­dern ihn in­ner­halb sei­ner ei­ge­nen Struk­tur zum En­de füh­ren.

Bei sei­nem letz­ten Abend­es­sen sagt und zeigt Je­sus den ir­ri­tier­ten Jün­gern, was er vor­hat. Sie kön­nen ihn in dem Au­gen­blick al­ler­dings noch nicht ver­ste­hen. Je­sus nimmt das Brot und bricht es mit den Wor­ten: „Dies ist mein Leib.“ Und er reicht ih­nen den Kelch mit den Wor­ten: „Dies ist mein Blut.“ Brot und Wein ver­kör­pern sei­nen Leib, den er kurz dar­auf am Kreuz als Op­fer dar­brin­gen wird. Je­sus wird sich selbst als Op­fer dar­brin­gen. Die­se Op­fe­rung nimmt er beim Abend­es­sen in der Ge­gen­wart sei­ner Jün­ger vor­weg. Der Tisch des Abend­es­sens ver­wan­delt sich für ei­nen Au­gen­blick in ei­nen Al­tar. Brot und Wein neh­men die Stel­le des Op­fers ein. Und da­mit klar ist, wel­che Funk­tion die­se zei­chen­haf­te Op­fe­rung ha­ben soll, fügt Je­sus hin­zu: „Dies ge­schieht zur Ver­ge­bung der Sün­den.“ Künf­tig soll kein wei­te­res Op­fer nö­tig sein. Was die Jün­ger nur zu tun brau­chen, ist, sich an die­ses ei­ne letz­te Mahl zu er­in­nern und sich die Ver­ge­bung zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, die in die­sem letz­ten Op­fer al­len Men­schen ein für al­le­ Mal zu­ge­spro­chen ist.

Eben dies tun wir in der got­tes­dienst­li­chen Abend­mahls­feier, wie wir sie bis heu­te be­ge­hen. Sie ist ein Ge­dächt­nis­mahl zur Ver­ge­gen­wär­ti­gung des­sen, was da­mals ge­sche­hen ist. In wel­cher Form wir das Abend­mahl feiern, ist letzt­lich un­be­deu­tend. Wich­tig ist, dass wir uns des­sen ver­ge­gen­wär­ti­gen, dass uns die Ver­ge­bung Got­tes un­aus­lösch­lich zur Ver­fü­gung steht. Wir brau­chen sie nur in An­spruch zu neh­men. Sie wird ih­ren Se­gen al­ler­dings nur ent­fal­ten, wenn wir es mit der Um­kehr, mit un­se­rem Wil­len zur Bes­se­rung ernst mei­nen. Erst dann kann die Be­frei­ung zu ei­nem ech­ten Neu­an­fang im Gu­ten werden und sei­ne se­gens­rei­che Wir­kung ent­fal­ten.

Um noch ein­mal auf den Aus­gangs­punkt zu­rück­zu­kom­men: Ist St. Mar­kus von ge­stern – oder sind wir hier ganz zeit­ge­mäß? Wir sind in­so­fern von ge­stern, als wir ganz be­wusst an al­te Tra­di­tio­nen an­knüp­fen, wie Je­sus selbst es auch tat. Aber das Al­te be­kommt ei­ne neue Form und auch ei­ne neue In­ter­pre­ta­tion. Der Al­tar ist ein Ge­gen­stand, wie er schon in vor­christ­li­cher Zeit exi­stier­te. Aber wie – in wel­cher Weise - im Zu­sam­men­hang mit dem Al­tar das ur­mensch­li­che The­ma von Schuld und Ver­ge­bung an­ge­gan­gen wird, das hat sich mit Je­sus Chri­stus ver­än­dert, und das dür­fen auch wir, wenn es uns denn sinn­voll er­scheint, in neue For­men brin­gen. Dies­be­züg­lich sind wir übri­gens im Got­tes­dienst­aus­schuss gerade am Nach­den­ken.

Das The­ma von Schuld und Ver­ge­bung, von Ver­su­chung und Wi­der­stand, von dem Be­mü­hen um Bes­se­rung und dem un­aus­weich­li­chen Ver­sa­gen – die­ses The­ma ist ein ewi­ges The­ma. Wenn wir uns da­mit be­fas­sen, sind wir im­mer auf der Hö­he der Zeit. Es war ein The­ma, es ist ein The­ma und es wird ein The­ma blei­ben.

Al­ler­dings brau­chen wir nicht mehr den alt­te­sta­ment­li­chen Op­fer­kult, um mit dem Pro­blem der Schuld fer­tig zu wer­den. Im Ge­gen­teil hat­te sich der Op­fer­kult in sei­nen Ein­zel­hei­ten so sehr ver­selbstst­än­digt, dass sich sein ei­gent­li­cher Sinn und Zweck ins Un­kennt­li­che ver­zerr­te.

Je­sus hat an die al­ten For­men an­ge­knüpft. Er hat sie ver­än­dert und neu in­ter­pre­tiert. Er hat das Neue aus dem Al­ten ent­fal­tet und wei­ter­ge­führt. Er hat an­ge­knüpft bei dem, was die Men­schen kann­ten und ver­stan­den und hat sie von dort aus zu ei­nem neu­en Ver­ständ­nis ge­führt. Das war klug und mensch­lich.

Vor eben die­ser Auf­ga­be ste­hen auch wir: dass wir von dort aus wei­ter­ge­hen, wo wir ste­hen, und dass wir Men­schen dort ab­ho­len und ge­mein­sam wei­ter­ge­hen. So geht das Ge­stern in das Heu­te über und wei­ter in die Zu­kunft.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 1. März 1989)

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