Christus – Priester und Opfer zugleich
1. März 1998
Invokavit
(1. Sonntag der Passionszeit)
Hebräer 4,14-16
Hier vorn auf dem Faltblatt über unsere Gemeinde steht: St. Markus – so alt wie der Stadtteil Hoheluft, aber nicht von gestern. „St. Markus ist nicht von gestern“ – über diese Formulierung haben wir uns kürzlich im kleinen Kreis ein wenig unterhalten. „Wir sind nicht von gestern, zumindest wollen wir auf der Höhe der Zeit sein mit dem, was wir in unserer Gemeinde sagen und tun. Das ist zum einen wohl wahr.
Aber das andere lässt sich doch auch nicht leugnen und wollen wir auch gar nicht leugnen: Wir haben an uns und in uns auch viel, sehr viel sogar, von gestern – wir als Kirche und als Gemeinde. Die Tradition spielt für uns eine große Rolle. Ja, unsere Wurzeln stecken tief in der Geschichte, die Grundlage unseres Denkens und Handelns hat sich in der weit zurückliegenden Vergangenheit geformt – vor 2-3000 Jahren.
Und wenn wir die Inhalte unseres Glaubens betrachten, können wir noch hinzufügen: Auch die ferne Zukunft spielt für unser Denken und Glauben eine ganz wesentliche Rolle. Also: Gestern, heute und morgen – das fügt sich in Kirche zu einem zusammenhängenden Ganzen zusammen, und zwar als eine große Bewegung.
Das möchte ich in Verbindung mit dem heutigen Predigttext aus dem Hebräerbrief deutlich zu machen versuchen. Da geht es um „den großen Hohepriester Jesus Christus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, der als Mensch zur Erde gekommen ist, der hier mitgefühlt und mitgelitten hat und der zum Urheber des ewigen Heils geworden ist“. So in etwa formuliert es der Hebräerbrief in Sprachbildern, die der Übersetzung bedürfen.
Worum geht es? Ich bitte Sie, für einen Augenblick den Altar in die Mitte Ihres Denkens zu stellen. Der Altar ist ja das heilige Zentrum des Kirchraums. Wenn er auch nicht im räumlichen Sinne in der Mitte steht, so hat er doch eine zentrale Bedeutung. Der Altar ist nicht irgendein Tisch. Der Altar ist der Ort, an den wir innerhalb dieses Kirchraums die Begegnung mit Gott hindenken und wo wir die Rituale vornehmen, die unsere Begegnung mit Gott im gottesdienstlichen Sinne gestalten.
Diese zentrale Bedeutung und Funktion hat der Altar in der religiösen Geschichte immer gehabt. Auch im Tempel in Jerusalem und auch schon viel früher.
Als damals die religiösen Dinge eine organisatorische Form bekamen, waren es die Priester, die am Altar tätig werden durften. Es war in Jerusalem der Hohepriester, der sich die besonders wichtigen Handlungen am Altar vorbehielt. Einmal im Jahr zum Beispiel brachte er das Versöhnungsopfer dar als Befreiung des Volkes von aller Schuld, die sich im Laufe des Jahres angehäuft hatte. Der Sündenbock ist Ihnen ein Begriff: Auf dem Altar wurde ein Bock als Schuldopfer dargebracht. Einen zweiten lebenden Bock fasste der Priester bei den Hörnern, sprach die Schuld des Volkes auf ihn und schickte ihn in die Wüste.
Das war wirklich aus heutiger Sicht ein ziemlich altertümliches Verfahren. Das Problem, das damit gelöst werden sollte, war allerdings kein altertümliches. Es ist durch die Jahrtausende hindurch bis auf den heutigen Tag höchst aktuell geblieben. Auch heute und täglich neu macht sich jeder von uns in kleineren oder auch größeren Dingen schuldig. Und wir können auch weiterhin davon sprechen, dass sich ein ganzes Volk schuldig machen kann – denken wir das das Dritte Reich. Andere Beispiele ließen sich leicht anfügen.
Es ist weiterhin so, dass wohl jeder Mensch das Bedürfnis hat, von der Last der Schuld frei zu werden. Wir entschuldigen uns, wir bitten jemanden um Verzeihung, und manchmal brauchen wir eben auch die Entlastung von höherer Stelle. Der Buß- und Bettag hat in dieser Hinsicht seine bleibende Funktion, auch wenn er kein gesetzlicher Feiertag mehr ist. Ebenso bleibt die rituelle Vergebung im Rahmen des Gottesdienstes weiterhin von Bedeutung.
Aber wenn wir jetzt hier auf dem Altar einen Bock als Sündopfer darbringen würden, und wenn ich in priesterlicher Funktion einem zweiten Bock unser aller Sünden zusprechen würde und ihn in die Heide schicken würde oder sonstwohin, dann würden Sie wohl sagen: „So geht das irgendwie heute nicht mehr.“ Das geht nach unserm Verständnis aus verschiedenen Gründen nicht, von dem ganz praktischen Problem einmal abgesehen.
Wir können einfach keine Tieropfer mehr darbringen. Es widerspricht unserer Vorstellung, dass Gott es nötig hätte, sich in seinem Zorn über unser vielfältiges Fehlverhalten durch ein Opfer besänftigen zu lassen. Und das mit dem Sündopfer muss uns sehr problematisch erscheinen, da es so gar nicht mit der Arbeit an uns selbst zu tun hat. In uns muss Reue da sein und die Bereitschaft zur Besserung. Die Verlagerung unserer Schuld nach außen auf Sündenböcke aller Art hat schon so viel Unheil angerichtet.
Aber nicht nur uns erfüllt der Gedanke an den altertümlichen Opferkult und an die Vergebung mittels eines Sündenbocks mit Unbehagen. Auch damals schon wurden diese Verfahrensweisen kritisch gesehen. Jesus hat mit ihnen Schluss gemacht. Er hat mit göttlicher Autorität dem Opferkult ein Ende bereitet. Er hat den Sündenbock ein für alle Mal in die Wüste geschickt.
Und wie hat er das gemacht? Indem er sich selbst zum Priester und zum Opfer erklärt hat und ein letztes Mal die Opferhandlung vollzogen hat – an sich selbst – als Priester und Opfer zugleich, so sieht es der Schreiber des Hebräerbriefes. Indem Jesus das tat, wollte er den Opferkult nicht bestätigen, sondern ihn innerhalb seiner eigenen Struktur zum Ende führen.
Bei seinem letzten Abendessen sagt und zeigt Jesus den irritierten Jüngern, was er vorhat. Sie können ihn in dem Augenblick allerdings noch nicht verstehen. Jesus nimmt das Brot und bricht es mit den Worten: „Dies ist mein Leib.“ Und er reicht ihnen den Kelch mit den Worten: „Dies ist mein Blut.“ Brot und Wein verkörpern seinen Leib, den er kurz darauf am Kreuz als Opfer darbringen wird. Jesus wird sich selbst als Opfer darbringen. Diese Opferung nimmt er beim Abendessen in der Gegenwart seiner Jünger vorweg. Der Tisch des Abendessens verwandelt sich für einen Augenblick in einen Altar. Brot und Wein nehmen die Stelle des Opfers ein. Und damit klar ist, welche Funktion diese zeichenhafte Opferung haben soll, fügt Jesus hinzu: „Dies geschieht zur Vergebung der Sünden.“ Künftig soll kein weiteres Opfer nötig sein. Was die Jünger nur zu tun brauchen, ist, sich an dieses eine letzte Mahl zu erinnern und sich die Vergebung zu vergegenwärtigen, die in diesem letzten Opfer allen Menschen ein für alle Mal zugesprochen ist.
Eben dies tun wir in der gottesdienstlichen Abendmahlsfeier, wie wir sie bis heute begehen. Sie ist ein Gedächtnismahl zur Vergegenwärtigung dessen, was damals geschehen ist. In welcher Form wir das Abendmahl feiern, ist letztlich unbedeutend. Wichtig ist, dass wir uns dessen vergegenwärtigen, dass uns die Vergebung Gottes unauslöschlich zur Verfügung steht. Wir brauchen sie nur in Anspruch zu nehmen. Sie wird ihren Segen allerdings nur entfalten, wenn wir es mit der Umkehr, mit unserem Willen zur Besserung ernst meinen. Erst dann kann die Befreiung zu einem echten Neuanfang im Guten werden und seine segensreiche Wirkung entfalten.
Um noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Ist St. Markus von gestern – oder sind wir hier ganz zeitgemäß? Wir sind insofern von gestern, als wir ganz bewusst an alte Traditionen anknüpfen, wie Jesus selbst es auch tat. Aber das Alte bekommt eine neue Form und auch eine neue Interpretation. Der Altar ist ein Gegenstand, wie er schon in vorchristlicher Zeit existierte. Aber wie – in welcher Weise - im Zusammenhang mit dem Altar das urmenschliche Thema von Schuld und Vergebung angegangen wird, das hat sich mit Jesus Christus verändert, und das dürfen auch wir, wenn es uns denn sinnvoll erscheint, in neue Formen bringen. Diesbezüglich sind wir übrigens im Gottesdienstausschuss gerade am Nachdenken.
Das Thema von Schuld und Vergebung, von Versuchung und Widerstand, von dem Bemühen um Besserung und dem unausweichlichen Versagen – dieses Thema ist ein ewiges Thema. Wenn wir uns damit befassen, sind wir immer auf der Höhe der Zeit. Es war ein Thema, es ist ein Thema und es wird ein Thema bleiben.
Allerdings brauchen wir nicht mehr den alttestamentlichen Opferkult, um mit dem Problem der Schuld fertig zu werden. Im Gegenteil hatte sich der Opferkult in seinen Einzelheiten so sehr verselbstständigt, dass sich sein eigentlicher Sinn und Zweck ins Unkenntliche verzerrte.
Jesus hat an die alten Formen angeknüpft. Er hat sie verändert und neu interpretiert. Er hat das Neue aus dem Alten entfaltet und weitergeführt. Er hat angeknüpft bei dem, was die Menschen kannten und verstanden und hat sie von dort aus zu einem neuen Verständnis geführt. Das war klug und menschlich.
Vor eben dieser Aufgabe stehen auch wir: dass wir von dort aus weitergehen, wo wir stehen, und dass wir Menschen dort abholen und gemeinsam weitergehen. So geht das Gestern in das Heute über und weiter in die Zukunft.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 1. März 1989)