Eine Gemeinschaft, die noch keine ist
Gründonnerstag
Wir feiern in diesem Gottesdienst das Abendmahl. Dazu einige Worte. Das Abendmahl hat mit der Vergangenheit, mit der Gegenwart und mit der Zukunft zu tun.
Mit der Vergangenheit, weil es uns erinnert an das letzte gemeinsame Abendessen Jesu mit seinen Jüngern. Auch für Jesus und seine Jünger bedeutete das gemeinsame Abendessen schon einen Rückblick in die Vergangenheit. Es war ja das Passahmahl, die Erinnerung an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten.
Jesus knüpft an die Elemente des Passahmahls an. Er bezieht sie auf seine Person und gibt ihnen damit eine neue Bedeutung. Er selbst wird das Passahlamm: „Christe, du Lamm Gottes“, singen wir darum in der Abendmahlsliturgie. So, wie das in Ägypten an die Türpfosten gestrichene Blut des Lammes die Israeliten vor dem Tod bewahrte, so soll das Blut Christi ein für alle Mal den sündhaften Menschen vor der verdienten Strafe schützen.
Für unser Denken mag diese Opfertheologie fremdartig erscheinen, wenn sie in Wirklichkeit auch kreatürlich in uns, vielleicht in jedem von uns, angelegt ist. Das Opfer Christi ist aber, das sei uns zum Trost gesagt, die Überwindung, das Ende der Opfertheologie. Kein weiteres Opfer ist nötig. Christus ist ein für alle Mal für uns gestorben.
Jesus sitzt mit seinen Jüngern beim Passahmahl. Er teilt Brot und Wein aus mit den Worten: „Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut. Solches tut zu meinem Gedächtnis.“ Die Elemente, die im Passahmahl an die Befreiung aus Ägypten erinnerten, werden so zu Trägern der Erinnerung an die Befreiung und Erlösung durch Christus. Indem wir heute Brot und Wein im Namen Christi zu uns nehmen, wird das damalige Geschehen Gegenwart: Wir werden befreit, wir werden erlöst, hier und heute.
Um welche Art von Befreiung und Erlösung handelt es sich? Um diese Frage zu beantworten, hilft wieder der Blick zurück in die Vergangenheit. Jesus war umgeben von Feinden, die auf seinen Tod aus waren. Er war aber auch umgeben von Freunden, deren Freundschaft allerdings nicht sehr tragfähig war. Judas war die Freundschaft zu Jesus weniger wert als das Geld, das ihm die Hohepriester für den Verrat Jesu anboten. Petrus verleugnete seine Freundschaft zu Jesus, als er Gefahr für sein eigen Leib und Leben befürchtete. Johannes und Jakobus hatten aus der Freundschaft zu Jesus Vorteile für sich auf Kosten der anderen Jünger zu erlangen versucht. Alle hatten sie Jesus immer wieder missverstanden. Und alle ließen sie Jesus im Stich, als er gefangen genommen wurde.
Mit diesen – fast sollten wir sagen: in Anführungszeichen –„Freunden“ saß Jesus am Vorabend seines Todes zum letzten Mahl beisammen. Er kannte seine Jünger wohl, ihre Schwächen eingeschlossen. Sie waren ihm dennoch das Festessen wert. Sie waren ihm lieb. Er war ihnen in Zuneigung verbunden. Diese Zuneigung galt nun jedoch nicht nur seinen etwas zweifelhaften Freunden. Diese Zuneigung galt auch denen, die in blinder Verirrung seinen Tod suchten. Vom Kreuz herab lässt der Evangelist den Sterbenden sprechen: „Gott, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Jesus hatte, auch wenn es seine Jünger waren, Unwürdige an seinem Tisch zu Gast. Dies sei vor allem denen unter uns gesagt, die vielleicht Zweifel daran haben, des Abendmahls würdig zu sein. Christus lädt jeden von uns ein, nicht, weil wir gut wären, sondern weil er uns seine Güte schenken will.
Die Befreiung und die Erlösung, um die es im Abendmahl geht, ist diejenige der Vergebung, der unerschütterlichen Liebe. Zerbrochene Beziehungen führen in die Isolierung. Sie werfen uns auf uns selbst zurück. Aus dieser Gefangenschaft ruft uns Christus heraus.
Wenn Jesus einen hohen Anspruch an die Beziehung der Jünger zu ihm gestellt hätte, dann hätte er etliche Anlässe gehabt, sich von ihnen zu trennen. Er trennte sich jedoch nicht von ihnen. Er akzeptierte das allzu Menschliche in seinen Jüngern. Er nahm es hin, dass er – auch er selbst – von ihnen gelegentlich schäbig behandelt wurde. Er erwartete von seinen Freunden nicht das Beste. Er wollte ihnen aber das Beste geben: seine unerschütterliche Treue. Das ist das im guten Sinne Menschliche an Jesus. Und das gehört zum Göttlichen an ihm, dass er so uneingeschränkt menschlich ist.
Uns mag der Umgang Jesu mit den Schwächen seiner Freunde ein Fingerzeig sein. Wir mögen uns fragen, wie viel wir von unseren Freundinnen und Freunden erwarten, ob wir vielleicht zu viel erwarten. Wir mögen uns fragen, wie viel wir auszuhalten bereit sind an Unstimmigkeiten, an unkameradschaftlichem Verhalten, an Verhaltensweisen, die einer guten Freundschaft eigentlich nicht entsprechen.
Wir erwarten viel von zwischenmenschlichen Beziehungen. Enttäuschungen und mangelnde Frustrationstoleranz werfen uns auf uns selbst zurück. Wir brauchen aber die Gemeinschaft, auch die Gemeinschaft – ich sage es theologisch – die Gemeinschaft der Sünder.
Christus ruft uns mit dem Angebot des Abendmahls aus der Isolation, eben auch aus der Selbstisolation heraus und stellt uns in eine Gemeinschaft hinein. Er stiftet eine Gemeinschaft auch unter denen, deren Beziehungen zueinander vielleicht brüchig, wenig tragfähig oder gar zerbrochen sind.
Wenn wir uns zum Abendmahl um den Altar herum versammeln, dann versammeln wir uns um Christus, dann laufen die Fäden von ihm zu jedem Einzelnen von uns. Durch ihn sind wir auch untereinander verbunden, auch wenn es unter uns vielleicht keine direkten Verbindungen gibt, noch nicht gibt oder vielleicht nicht mehr gibt.
Die Liebe Gottes hat heilende Kraft. Christus, unser Heiland, kann unsere zerbrochenen Beziehungen heilen und immer wieder neu heilen. Die vollkommene Gemeinschaft ist aber noch nicht gegenwärtig. Dass wir alle untereinander in Zuneigung und Liebe verbunden und von unserer Seite aus mit Gott und Christus eins sind, das ist noch nicht Gegenwart, das ist Gegenstand unserer Sehnsucht, das ist Inhalt unserer Hoffnung. Insofern ist im Abendmahl auch abgebildet, was uns verheißen ist, was noch der Erfüllung hart. In diesem Sinne nennt unsere Agende das Abendmahl der Kirche einen „Vorgeschmack des himmlischen Freudenmahls“.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kommen so im Abendmahl zusammen: Wir erinnern uns, wir lassen uns stärken und wir hoffen auf die Vollendung.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 31. März 1994)