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Palmsonntag (14.4.19)


Er hat sich nicht verhärten lassen

27. März 1988

Palmsonntag

(Letzter Sonntag der Passionszeit)

Jesaja 50,4-9 


Am heutigen Palmsonntag bedenken wir den Einzug Jesu in Jerusalem. Jesus hat sein Wirken in Galiläa, sein Heilen und Predigen abgeschlossen; nun beginnt ein neuer und letzter Abschnitt seines Lebens. Er betritt Jerusalem, und das bedeutet: Er begibt sich in den unmittelbaren Herrschaftsbereich derjenigen, von denen er weiß, dass sie ihm nach dem Leben trachten.

Man kann sich fragen – und diese Frage ist uns heute aufgegeben –, warum Jesus diesen Weg geht. Er hätte doch Jerusalem meiden können. Warum sucht er die direkte Konfrontation mit seinen schärfsten Gegnern? Diese Frage lässt sich noch grundsätzlicher stellen: Warum und wofür setzt Jesus sein Leben aufs Spiel? Warum bringt er sich überhaupt in Gefahr? Hätte er nicht von vornherein einen anderen Weg einschlagen können, einen weniger gefährlichen, weniger problembeladenen?

Schon beim Aussprechen dieser Frage spüren wir wohl, dass sie sich fast von selbst verneint. Für Jesus konnte es keinen bequemen und sicheren Weg geben, nicht, weil er es absichtlich auf Konfrontation bis zum Äußersten angelegt hätte. Vielmehr setzt sich derjenige geradezu unausweichlich Anfeindungen aus, der sich öffentlich für das Wohl seiner Mitmenschen engagiert, umso mehr, wenn er dies mit einem so umfassenden Anspruch tut wie im Falle Jesu.

Auf die Person Jesu wollen wir heute auf einem Umweg zu sprechen kommen, auf dem Umweg über das Alte Testament nämlich. Aus dem Propheten Jesaja haben wir einen Abschnitt gehört, ein Lied über den sogenannten Knecht Gottes, eine Gestalt aus dem 6. Jahrhundert vor Christus, einen Menschen, der in seinen Wesensmerkmalen sehr an Jesus Christus erinnert. Denn von diesem Menschen wird gesagt, dass er die Leiden seiner Mitmenschen auf sich genommen habe.

Lassen Sie uns diesen „leidenden Gottesknecht“ anhand unseres Predigttextes einmal näher betrachten.

„Gott, der Herr, gab mir eine gelehrige Zunge, damit ich die Müden stärken kann durch ein aufmunterndes Wort. Jeden Morgen weckt er mein Ohr, damit ich auf ihn höre wie ein Schüler. Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Ich wehrte mich nicht und wich nicht zurück.“

Zweierlei wird hier gesagt: Dieser Mann hört, und er redet. Gott hat ihm das Ohr geöffnet. Gottes Wort hört er – das soll doch wohl in unsere weltliche Sprache übersetzt heißen: Dieser Mann hat etwas gehört, was wohl nicht jeder hört, Worte von besonderer Bedeutung, die mehr enthalten, als was uns so einfällt, Worte, die mit der Tiefe unseres Lebens, dem Geheimnis unseres Daseins, dem Undurchschaubaren der Geschichte zu tun haben.

Es gibt Menschen, die sind empfindsamer für die Tiefendimensionen unseres Lebens, die nehmen mehr wahr als die Mehrzahl von uns, die blicken weiter und erkennen Zusammenhänge, die anderen verborgen bleiben. In der Zeit des Alten Testaments wurden solche Menschen Propheten genannt, wenn sie das, was sie in ihrem Inneren hörten und sahen, weitergaben, wenn sie öffentlich auftraten und aussprachen, was sie gehört und gesehen hatten.

Nicht jeder gibt sein besonderes Wissen preis. Nicht jeder sensible Mensch will überhaupt das Besondere hören und sehen. Denn es ist auch eine Last, mehr wahrzunehmen als andere, Fehlentscheidungen zu erkennen, während andere noch meinen, auf dem richtigen Weg zu sein, oder unheilvolle Entwicklungen vorauszuahnen, während andere unbeschwert in die Zukunft blicken, oder umgekehrt Zeichen der Hoffnung zu sehen, die keiner zu glauben vermag, oder Problemlösungen zu entdecken, die andere nicht zu begreifen vermögen.

Es kann sehr belastend sein, mehr wahrzunehmen als andere. Wer diese besondere Wahrnehmungsfähigkeit hat, möchte vielleicht gern die Ohren und Augen verschließen, so, wie wir alle geneigt sind, nur zu hören und zu sehen, was wir hören und sehen wollen. Der Mann unseres Predigttextes hat hingehört, er hat bereitwillig hingehört auf das Wort Gottes. „Ich wehre mich nicht und weiche ich nicht zurück“, sagt er. Und er hörte nicht nur hin, sondern er sprach das Gehörte dann auch aus, Trostreiches nämlich, um die Müden, die Mutlosen, die Resignierten zu stärken.

Das ist das Zweite, was gar nicht selbstverständlich ist. Nicht nur, dass manchem schlicht die Sprache fehlt sich auszudrücken. Mancher ist voller Wissen und voller Ahnungen, aber er kann sein Innerstes nicht in Worte fassen. Nicht nur die Sprachfähigkeit, sondern auch die Sprechbereitschaft ist keine Selbstverständlichkeit. Mancher behält sein Wissen und seine Ahnungen lieber für sich, um sich keinen Ärger und keine Umstände einzuhandeln. Vielleicht vertraut er sich einem anderen Menschen an mit der Bitte, die Aufgabe des Redens, der Ansprache, des Bekanntmachens zu übernehmen und auch die Folgen zu tragen.

Wer sich öffentlich äußert, macht sich selbst das Leben schwer. Der muss schon zum Kampf bereit sein. Der muss mit Anfeindungen rechnen, ob er nun eine frohe Botschaft zu verkünden oder Kritik zu üben hat. Denn nicht nur Zustimmung und Dankbarkeit wird er erfahren, sondern auch Unverständnis, Missverständnisse und Ablehnung bis hin zu Versuchen, ihm das Reden zu verbieten, ihn mundtot zu machen.

Wer sich zu öffentlichen Fragen kritisch äußert – mag er auch das allgemeine Wohl zum Ziel haben –, muss, je nach Gegenstand und Art der Äußerung, damit rechnen, als Nestbeschmutzer, Nörgler, Wehrkraftzersetzer oder auch als naiver Träumer und Spinner oder Ähnliches diffamiert zu werden.

Dem Mann unseres Predigttextes gegenüber ist man sogar handgreiflich geworden. Er hat das alles auf sich genommen: „Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen, und denen, die mir den Bart ausrissen, mein Kinn. Mein Gesicht verbarg ich nicht, als sie mich verhöhnten und bespuckten.“

Es stellt sich dann die Frage, warum einer dies alles auf sich nimmt, so, wie sich manchen von uns vielleicht gelegentlich die Frage stellt, wie es überhaupt Menschen auf sich nehmen können, in die Politik zu gehen; denn das ist ja ein Ort, an dem solche öffentliche Auseinandersetzung stattfindet. Wenn wir vom Geldverdienen, dem Streben nach Macht und Anerkennung absehen, kommen wir auch dann zu der Frage: „Warum nehmen Menschen dieses schwierige und – wie manche mit Blick auf den Charakter mancher Auseinandersetzungen auch sagen – schmutzige Geschäft, auf sich. Es kann ja kein Zweifel daran bestehen, dass wir solche Menschen brauchen, die sich öffentlich engagieren für das Wohl aller und die die öffentliche Auseinandersetzung austragen, stellvertretend für uns alle, die wir es in der Mehrzahl vorziehen, uns auf den privaten Bereich zu beschränken.

Mancher weiß sich zu öffentlichen Aufgaben berufen – und das gilt ganz gewiss für den Mann unseres Textes; er weiß sich von Gott berufen: „Gott, der Herr, gab mir diese gelehrige Zunge, Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet, und Gott, der Herr, wird mir helfen.“ Es stellt sich die Frage, ob dieser Mann die Berufung angenommen hat aus bloßem Gehorsam gegenüber dem Auftrag Gottes, ob er vielleicht auch durchdrungen ist von einer tiefen Überzeugung, die er weitergeben muss, von einer Wahrheit, die er nicht für sich behalten kann, vielleicht auch von einer Liebe zu seinen Mitmenschen, zu seinem Volk, um dessentwillen er nicht schweigen kann.

Dieser Mann spricht aus dem babylonischen Exil heraus. Er will seinem Volk eine gute Botschaft bringen, Worte der Hoffnung, und nicht nur seinem eigenen Volk, sondern den Menschen schlechthin.

Er hat seinen göttlichen Auftrag bereitwillig angenommen, aber den Auftrag auszuführen, ist ihm zu einer schweren Aufgabe geworden. Um Kraft zu bekommen, besinnt er sich auf die Größe und Macht und den Beistand dessen, von dem er sich berufen weiß: „Gott, der Herr, wird mir helfen, darum werde ich nicht in Schanden enden. Gott, der Herr, wird mir helfen, wer kann mich für schuldig erklären?“ Allen Anfeindungen und Anklagen zum Trotz weiß er sich im Recht und Gott auf seiner Seite. Er ist sich sicher, für die rechte Sache einzutreten. Aber es wird ihm doch schwer, die Angriffe auszuhalten: „Ich mache mein Gesicht hart wie einen Kiesel; ich weiß, dass ich nicht unterliege.

Aus diesen Worten spricht schon fast ein wenig Verhärtung, Verbitterung, eine Distanz gegenüber den Mitmenschen, die nicht verstehen, die nicht begreifen wollen oder können, die ihm mit Ablehnung und Anfeindung begegnen. Seine Worte wirken wie eine Mauer des Schutzes gegenüber denen, um derentwillen er die Mühsal auf sich nimmt. Er weiß sich zwar weiterhin berufen und ist sich seiner Sache sicher, doch er scheint kaum noch Freude zu haben an denen, um derentwillen er leidet: „Sie alle werden zerfallen wie ein Gewand, das die Motten zerfressen.“

Vielleicht liegt hier ein bedeutsamer Unterschied zu der Weise, wie Jesus Christus seinen Auftrag bis zuletzt erfüllte. Wir fragten eingangs: „Warum und wofür setzte Jesus sein Leben aufs Spiel?“ Er wusste sich von Gott berufen. Er liebte seinen Auftraggeber, aber er war auch durchdrungen von einer gleichen Liebe zu den Menschen, an denen er seinen Auftrag erfüllen sollte. Er hörte das Wort Gottes, er redete in der Öffentlichkeit, er wurde – wie zu erwarten – angefeindet, aber er wurde nicht hart. Er errichtete keinen inneren Schutzwall, um sich ein Stück Unverletzlichkeit im Inneren zu bewahren. Er öffnete sich ganz und gab sich ganz preis. Warum? Weil seine Liebe zu den Menschen mit der Liebe zu seinem göttlichen Auftraggeber identisch war; dies wollte er bis in die tiefste Schmach hinein leibhaftig bezeugen.

Um die Einheit der Liebe zu Gott und zu den Menschen zu bezeugen, dafür gab es keinen bequemen und sicheren Weg. Dieses Zeugnis konnte nur in einer extremsten Situation gegeben werden – in den Worten des ans Kreuz Genagelten: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Dieser gottgleiche Mensch ist bei seinem Einzug in Jerusalem zurecht mit dem Jubelruf begrüßt worden: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herren!“

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 27. März 1988)

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