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2. Sonntag der Passionszeit (17.3.19)


Der Mensch

28. Februar 2010

Reminiszere

(2. Sonntag der Passionszeit)

Römer 5,1-8


Der Mensch - was ist der Mensch? Die Krönung der Schöpfung, sagen einige. Und wer wollte leugnen, dass der Mensch Qualitäten hat, die ihn weit über die Tier- und Pflanzenwelt hinausheben!

Es ist die graue Masse hier oben, die uns zu etwas Besonderem macht, unser Hirn. Sie lässt uns geradezu Unglaubliches schaffen: Wir sprechen z. B. in einen kleinen Apparat hinein, und zehntausend Kilometer weiter werden wir gehört. Das ist doch fantastisch. Auf eine solche Leistung können wir stolz sein. 

Allerdings: Wer viel kann und viel weiß, der hat auch ein Problem. Mit unseren Fähigkeiten könnten wir dafür sorgen, dass alle Menschen ausreichend zu essen haben. Aber es verhungern viele Millionen. Das ist beschämend. 

Die enorme Leistungsfähigkeit unseres Hirns belastet uns auch mit einer enormen Verantwortung. 

Unser Hirn lässt uns dessen bewusst werden, dass wir dieser Verantwortung nicht gerecht werden. Diese Einsicht bereitet uns ein schlechtes Gewissen. Damit können wir nur schwer leben.

Unser Bedürfnis, ein reines Gewissen zu haben, ist sehr stark. Und unsere Techniken, unser Gewissen reinzuwaschen, sind vielfältig. 

Manche behaupten: Das schlechte Gewissen kommt von der Erziehung. Uns würde sozusagen ein schlechtes Gewissen gemacht, uns würde Schuld eingeredet. Da ist sicherlich auch etwas Richtiges dran. 

Aber ebenso richtig ist wohl, dass es die Fähigkeiten unseres Hirns sind, die uns quasi automatisch und unausweichlich mit einem schlechten Gewissen belasten. 

Wer etwas kann, von dem wird auch erwartet, dass er etwas leistet. So lässt uns unser Hirn denken, und so fühlen und reden wir auch. 

Wenn Gott allmächtig ist, dann weiß und kann er doch auch alles: „Warum lässt er dann das Leid zu?“,  fragen wir zum Beispiel. „Wenn der Mensch dafür sorgen könnte, dass alle Menschen zu essen haben, warum lässt er dann Millionen verhungern?“, könnten wir entsprechend fragen. 

Das ist aber eine unangenehme Frage, weil die Antwort darauf eine peinliche ist: Wir schaffen das einfach nicht, den Hunger in der Welt zu beseitigen, obwohl wir es eigentlich können müssten. 

Unsere großartigen Fähigkeiten sind irgendwie gepaart mit einer Unfähigkeit. Wir schaffen es vielfach nicht zu tun, was wir tun könnten und was wir für gut und wichtig erkannt haben und was wir eigentlich tun wollen. 

Mit unseren grandiosen Fähigkeiten sind wir letztlich überfordert. Und das wird immer schlimmer. Je mehr wir können, desto höher werden die Anforderungen an uns und desto mehr sind wir auch ethisch belastet.

Mittels Gentechnik z. B. können wir in die Bausteine des Lebens eingreifen. Vor welch große Verantwortung stellt uns allein diese Fähigkeit! Wer viel kann, kann auch an vielem schuldig werden. Wie viel Schreckliches hat der Mensch z. B. schon dadurch angerichtet, dass er mit der Energie umzugehen versteht, die in den Atomen steckt!

Der göttliche Schöpfer hat uns nach seinem Ebenbild geschaffen, sagt uns der biblische Text. Und der göttliche Schöpfer hat dem Menschen gesagt: „Macht euch die Erde untertan. Herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“

Das ehrt uns sehr, dass uns der göttliche Schöpfer zu Mitschöpfern gemacht und uns mit einem so großen Auftrag ausgestattet hat. Aber es hat sich doch bald herausgestellt, dass der Schöpfer sein Geschöpf Mensch überfordert hat. 

Er hat den Menschen damit auch in die unangenehme Situation gebracht, sich rechtfertigen zu müssen für sein permanentes Versagen. 

Es ist wirklich sehr unangenehm zu sagen: „Ich habe keine Schuld. Ich konnte nicht anders. Ich kann nichts dafür.“ Oder: „Der andere hat Schuld“ – oder wie auch immer. 

Es kam dann endlich die erlösende Botschaft: Der göttliche Schöpfer hat eingesehen, dass er seinem Geschöpf Mensch zu viel zugetraut und zugemutet und auferlegt hat. Er sagt uns: „Mensch, du brauchst nicht die ganze Last der Welt zu tragen. Denke nicht, du müsstest alles können und verantworten. Gib dein Bestes. Wenn du versagst, will ich gnädig mit dir sein. Wenn du sagst, es tut mir leid, gebe ich dir eine neue Chance. Was zu viel für dich ist, leg in meine Hand. Lass es meine Sache sein.“ So spricht der Schöpfer.

Diese Botschaft der neutestamentlichen Autoren ist eine wahre Erlösung. Sie schenkt uns die Freiheit, unsere großen Qualitäten freudig und dankbar zu würdigen. Sie entlastet uns zugleich von der Vorstellung, wir müssten die Verantwortung für alles in der Welt selbst übernehmen. 

Die biblischen Autoren rücken die Proportionen zurecht: Wir dürfen uns dazu bekennen, dass wir als Menschen Geschöpfe sind und nicht der Schöpfer selbst. Und wir dürfen darauf vertrauen, dass der Schöpfer mit seinem Geschöpf Mensch barmherzig umgeht. Wir brauchen uns nicht immer und immer wieder zu rechtfertigen. Er kennt uns und unsere Schwächen. Er mag uns trotzdem. Und wir sind ihm trotzdem unendlich viel wert. 

Von dieser Barmherzigkeit Gottes sagt uns eigentlich nicht erst das Neue Testament etwas. Auch die alttestamentlichen Autoren beschreiben vielfach, wie Gott sich seines Geschöpfes Mensch in seiner Schwachheit immer wieder erbarmt hat und dem Menschen immer wieder verziehen hat und ihn auch immer wieder mit großen Aufgaben betraut hat, auch wenn klar war, dass das nächste Versagen nicht lange auf sich warten lassen würde.

Wenn wir nur einmal an die großen Gestalten des Alten Testaments denken: an Abraham z. B., den Vater des Glaubens. Als Abraham wegen einer Hungersnot mit seiner Frau Sara in Ägypten war und feststellte, dass der Pharao Sara sehr schön fand, bekam Abraham Angst um sein Leben. Er sagte zu Sara: „Tu so, als wärest du meine Schwester.“ So überließ er seine Frau Sara dem Pharao als Geliebte. Das ist nicht die feine Art und eigentlich eines Menschen nicht würdig, der uns als Vorbild im Glauben dienen soll. Aber die biblischen Autoren scheuen sich nicht, uns eine solche Geschichte zu überliefern. Sie wollen uns deutlich machen: Die menschliche Schwachheit ist für den Schöpfer kein Grund, den Menschen gering zu achten. 

Oder denken wir an Jakob. Jakob erschlich sich mit Lug und Trug die Erbschaft. Von seinem um einige Momente älteren Zwillingsbruder Esau lässt er sich gegen ein Linsengericht das Erstgeburtsrecht abtreten. Und von seinem altersschwachen, fast blinden und schwerhörigen Vater Isaak lässt er sich den Erstgeburtssegen erteilen, indem er sich als Esau ausgibt. Das ist auch nicht die feine Art. Trotzdem gibt Gott ihm im weiteren Verlauf den Namen „Israel“ und macht Jakob so zum Urahn seines auserwählten Volkes. Das ist doch sehr bemerkenswert.

Und denken wir schließlich auch noch an David, den großen, mutigen, erfolgreichen, Harfe spielenden König Israels, den Vorfahren Jesu, der aus dem Haus Davids stammt. David war längst verheiratet und hatte Kinder. Da sah er eines Abends vom Dach seines Königshauses eine schöne Frau beim Baden am Fluss. Diese Frau wollte er haben. Da auch sie verheiratet war, schickte David ihren Mann in den Krieg und ließ ihn in die vorderste Reihe der Front stellen. Dort starb er, wie von David gewünscht. So nahm sich David die schöne Batseba zur Zweitfrau. Auch das war nicht die feine Art. 

Dies sind nur Beispiele dafür, wie sich die biblischen Autoren nicht scheuen, den Menschen mit all seinen Schwächen zu schildern. Sie können die menschlichen Schwächen so ungeschminkt beschreiben, weil sie davon überzeugt sind, dass der Schöpfer mit seinem Geschöpf Mensch gnädig verfährt. Zwar missbilligt der Schöpfer das menschliche Fehlverhalten, aber er lässt letztlich doch immer wieder Gnade vor Recht ergehen. Der Mensch ist und bleibt dem göttlichen Herzen ganz nah. 

Der Gipfel der göttlichen Liebe zum Menschen ist im Neuen Testament beschrieben. Gott erscheint selbst in der Gestalt eines Menschen, so schreiben es die neutestamentlichen Autoren und beschreiben diesen Menschen als Gottes Sohn. In diesem Menschen, Jesus von Nazareth, Jesus Christus, erleidet Gott selbst die Schwachheit des Menschen in allen Variationen, indem er missverstanden, gering geschätzt, verachtet, verfolgt, verspottet, verraten, verleugnet, verurteilt, misshandelt und schließlich hingerichtet wird.

Am Ende lautet die Botschaft: „Die Liebe ist stärker als der Tod.“ Die Liebe Gottes zu seinem Geschöpf Mensch kann durch den Menschen nicht zerstört werden, durch keine Art von Fehlverhalten, nicht einmal dadurch, dass der Mensch Gott selbst in der Gestalt seines Sohnes Jesus Christus umbringt.

Diese Botschaft ist schon fast zu hoch für uns. Wie kann Gott den Menschen noch lieben, nachdem er in Christus am Kreuz selbst von Menschenhand zu Tode gebracht worden ist? 

Die christliche Botschaft ist fast unglaublich. Aber es ist gut und hilfreich und wohltuend, an sie zu glauben. Sie gibt uns den Mut, die Demut, uns ehrlich und wahrhaftig anzuschauen. Sie befreit uns vom zwanghaften Bedürfnis, uns mit Ausflüchten zu rechtfertigen. Sie gibt uns eine große Würde trotz unserer Schwachheit. Sie stärkt uns mit Trost in allen betrüblichen Erfahrungen und hält die Hoffnung in uns wach, dass wir aus Krisen gestärkt hervorgehen können. 

„Die Barmherzigkeit Gottes hat noch kein Ende, sie ist jeden Tag neu“, sagt uns ein Klagelied des Jeremia.

Der Glaube an die Liebe Gottes zu seinem Geschöpf Mensch kann uns einen Frieden schenken, den wir uns selbst nicht geben können. 

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 28. Februar 2010)

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