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16. Sonntag nach Trinitatis (16.9.18)


Das Unglaubliche für möglich halten

23. September 2012

16. Sonntag nach Trinitatis

Apostelgeschichte 12,1-11


Dies ist eine Mutmachgeschichte. So jedenfalls sollen wir sie lesen. „Habt keine Angst, gebt niemals auf - auch nicht in einer ausweglosen Situation. Haltet auch Unglaubliches für möglich. Gebt niemals die Hoffnung auf.“

Als Überschrift über diese Geschichte könnten wir den Satz aus der heutigen Epistel nehmen: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“

Petrus ist ins Gefängnis gesteckt worden. Vier Soldaten bewachen ihn, zwei stehen vor der Tür, zwischen zweien schläft er. Er ist mit Ketten gefesselt. Ein Entkommen ist eigentlich nicht möglich. Aber - wie wir lesen und eben gehört haben: Auf wundersame Weise kommt er doch frei. Unmögliches ist möglich geworden. Unglaubliches ist geschehen. „Glaubt an die Möglichkeit des Unglaublichen.“ Das ist die Botschaft an uns.

Das ist eine ganze wichtige Botschaft, allerdings - so ganz einfach anzunehmen ist sie nicht. Denn es gibt auch ganz andere Erfahrungen. Nicht jede Geschichte hat ein Happy End. Das verschweigt auch der Schreiber unseres Textes nicht. Denn bevor er uns seine Mutmachgeschichte erzählt, berichtet er: „Jakobus wurde mit dem Schwert getötet.“ Dieser Hinweis ist gar nicht ermutigend. 

Wenn wir hier mal eben verharren - bei Jakobus. Er war der Bruder von Johannes. Beide waren - wie Petrus - Jünger Jesu. Sie waren dabei, den Glauben an Christus zu verbreiten, ein, wie wir hier lesen, lebensgefährliches Unterfangen.

Was wird denn nun Johannes - als Angehöriger des eben ermordeten Jakobus - fühlen, denken, glauben? Es wäre nicht verwunderlich, wenn er auf die Ermordung seines Bruders so reagieren würde, wie oftmals Menschen reagieren, denen Schlimmes widerfahren ist, und wie vielleicht auch wir reagieren würden: Sie fallen vom Glauben ab oder geraten doch in erhebliche Zweifel: „Wie kann Gott das zulassen? Wenn es denn einen Gott gibt und wenn er allmächtig ist, warum hat er dieses schreckliche Ereignis nicht verhindert?“ 

Jakobus ist definitiv zu Tode gebracht worden - auf grausame Weise durch das Schwert. Und er ist nicht gleich wieder zum Leben erweckt worden wie Lazarus, von dem wir eben in der Evangelienlesung gehört haben. Jakobus war tot und blieb tot. Es blieb die Aussicht auf das ewige - himmlische - Leben. Aber das wäre ein anderes Thema. Denn im Falle von Lazarus und im Falle von Petrus hat sich die Errettung im irdischen Leben vollzogen. Und die Botschaft unserer heutigen Geschichte lautet: „Glaubt daran, dass das Unglaubliche hier und jetzt geschehen kann.“

Hier und jetzt hat sich für Johannes mit der Tötung seines Bruders nun gerade nichts Ermutigendes ereignet. Ganz im Gegenteil. Er mag sich im Moment der Trauer zurückgeworfen fühlen auf den Moment, als schon ein anderer umgebracht worden war, in dessen Namen und in dessen Auftrag sie nun durchs Land zogen und dessen Botschaft zu verbreiten sie sich zur Aufgabe gemacht hatten. „Ist vielleicht doch alles ein großer Irrtum gewesen?“, mag sich Johannes in seiner Trauer um seinen Bruder gefragt haben. 

Es ist gut, dass unser Predigttext das bittere Ende von Jakobus nicht unterschlägt. Denn so sind wir geradezu genötigt, uns zu fragen: „Wie passt das zusammen: Die anschließende wundersame Mutmachgeschichte und der Hinweis auf die brutale Realität? Wie passt das zusammen?“ 

Es passt nicht in dem Sinne zusammen, dass wir schlussfolgern könnten: „Am Ende wird stets alles gut.“ Das Ende war für Jakobus nicht gut. Wir müssen hier hinzufügen: Das irdische Ende war für Jakobus nicht gut. Was nach seinem irdischen Dasein kommt, dafür bieten uns die biblischen Texte Bilder an, die trostreich sein können: „Wir kehren zurück in die liebevoll geöffneten Arme Gottes.“ Wenn Johannes dieses Bild in seinem Herzen vor Augen hat: „Sein Bruder in den Armen Gottes“, kann das sehr trostreich sein. 

Was aber sein eigenes weiteres irdisches Dasein anbetrifft, wird sich Johannes vielleicht fragen: „Bin ich nun der nächste, der mit dem Schwert hingerichtet wird - oder durch Steinigung oder auf andere grausame Art?“ Diese Frage werden sich alle Jünger gestellt haben, die durch die Lande zogen, um den Glauben an Christus zu verbreiten. Als Christen - und als aktive Christen insbesondere - wurden sie verfolgt und waren beständig mit dem Tod bedroht.

Aber dennoch - und um dieses Dennoch geht es heute. Dennoch, trotz aller Gefahren und aller realen Schrecklichkeiten der damaligen Christenverfolgungen sollten alle, die sich zum Glauben an Christus bekehrt hatten, an ihrem Glauben festhalten. Und alle, die diesen Glauben für wert befunden hatten, ihn weiterzugeben an andere - sie alle sollten sich nicht abschrecken lassen von ihrem Glauben und von ihrem Vorhaben. Sie sollten all ihren Mut zusammennehmen und sich Mut machen lassen, und zwar nicht nur durch einen Hinweis auf den himmlischen Frieden. Sie sollten auch darauf vertrauen, dass sie hier und jetzt - trotz aller Bedrohungen - ihren Glauben weitersagen und ihr Leben in ihrem neuen Glauben gestalten könnten. 

Es geht um dieses Dennoch. Es kann zwar immer etwas Schlimmes passieren. Davor können und sollen wir die Augen nicht verschließen. Aber das Schlimme darf nicht zum Leitbild unseres Lebens werden. Für das Leben hier und jetzt brauchen wir Lebenskraft - und Quelle der Lebenskraft sind gute Worte und gute Bilder, das Schöne und die Liebe, die Erfahrung von Bewahrung und Errettung, die Hoffnung und alles, was Mut macht. 

Darum die heutige Mutmachgeschichte. Sie will denen, die damals in ihrem Christsein bedroht waren, mit einer Geschichte Mut machen, die besagt: „Selbst in einer Extremsituation kann Rettung noch möglich sein. Haltet das Unmögliche für möglich. Glaubt an die Möglichkeit des Unglaublichen. Gebt die Hoffnung niemals auf.“ 

Unsere heutige Mutmachgeschichte ist sehr wundersam: Da kommt ein Engel ins bewachte Gefängnis, die Ketten fallen Petrus von den Händen, die beiden kommen unbemerkt an den Wachen vorbei und schließlich geht auch noch das eiserne Tor, das zur Stadt führt, von allein auf. 

Manch einer wird vielleicht sagen: „So geht es in der Wirklichkeit wirklich nicht zu!“ Wer mit der Art dieser Geschichte ein Problem hat, muss sie aber gar nicht so wörtlich nehmen. Der kann einfach die Zeitung aufschlagen. Auch da lesen wir immer wieder von den kleinen und großen Wundern der Wirklichkeit.

Das kann z. B. Spektakuläres sein: Ein unheilbar Kranker wird doch wieder gesund. Ein Gelähmter kann entgegen allen Prognosen doch wieder gehen. Ein mehr als zwei Jahrzehnte lang zu Unrecht im Gefängnis Eingekerkerter kommt wieder frei und wird zum Präsidenten seines Landes und bringt Versöhnung zwischen Schwarzen und Weißen. Eine zarte Frau kehrt nach fünfzehnjährigem Hausarrest ins politische Leben zurück und setzt sich nun ohne Verbitterung für das Wohl ihres Landes ein. Und hautnah miterlebt haben wir, wie ein politisches Unrechtssystem nach vierzig Jahren zu einem friedlichen Ende gekommen ist.

Wunder müssen aber nicht spektakulär sein. Das tägliche Leben ist voller Wunder. Der Volksmund sagt: „Es kommt immer alles anders, als man denkt.“ Das gilt auch im positiven Sinne. Auch das Gute und Schöne kann sich ereignen, obwohl wir gar nicht mehr damit gerechnet hatten. „Wunder gibt es immer wieder“ - das ist keine Illusion, das ist die Realität. Und recht betrachtet ist jede kleine Blume, jedes neugeborene Kind, ja, das Leben überhaupt, ein einziges großes Wunder.

Es ist, wie gesagt, immer richtig zu sagen: „Es gibt viel Schreckliches.“ Ja, das ist wahr. Aber das andere ist eben auch wahr: Es gibt viel Schönes und Gutes und Wunderbares. Auch das ist die Realität. Es gibt eben beides. Und es wird uns nicht gelingen, dies auf einen Nenner zu bringen. Wir können uns, verzeihen Sie, wenn ich das einmal etwas salopp formuliere: Wir können uns letztlich auf dieses Leben mit seinen so unterschiedlichen Erscheinungen keinen Reim machen. Das Leben ist und bleibt ein Geheimnis, ein wundersames und wunderbares Geheimnis. 

Das kann manchmal sehr irritierend und schwer erträglich sein. Wenn in einem Unglücksfall einer bewahrt worden ist, kann dieser glücklich und dankbar sagen: „Ich habe einen Schutzengel gehabt.“ Aber was soll der andere sagen, der im selben Unglücksfall zu Schaden gekommen ist? „Wo ist mein Schutzengel geblieben? Bin ich denn weniger wert?“ Es ist wichtig, dass wir in solchen Irritationen mit liebevollem menschlichem Beistand einander ganz nahe sind. Liebevolle Zuwendung kann ein Ende dann vielleicht doch noch in einen neuen Anfang verwandeln.

Wenn wir bei mancherlei Schrecklichem die Frage stellen: „Warum?“ und wir darauf keine Antwort wissen, dann brauchen wir uns nicht zu schämen. Wir müssen auch nicht verzweifelt an der Vorstellung festhalten, es müsse doch eine Antwort und eine Erklärung geben. Wir dürfen uns eingestehen, dass dieses ganze Dasein - Gottes Schöpfung - mehr ist, als wir mit unserem kleinen Ver-stand begreifen können.  

Das gilt aber nicht nur für die schlimmen Dinge. Das gilt auch für all das Schöne und Gute. 

Hätte sich Johannes damals, als er seinen Bruder verlor, vorstellen können, dass der Glaube, zu dem er und wenige andere sich unter Lebensgefahr bekannten, dass sich dieser Glaube eines Tages über den ganzen Erdball verbreiten würde? (Von einem Erdball wusste er eh noch nichts.) Aber ist es nicht wirklich ein Wunder, was aus diesen kleinen, zerbrechlichen Anfängen geworden ist? Das ist ein Wunder! Da können wir nur staunen, froh und dankbar staunen.

Es ist gut, sich dessen zu vergegenwärtigen: Die Bemühungen der einfachen Menschen damals, der ersten Anhänger Jesu, sind nicht vergebens gewesen. Sie haben durch alle Gefährdungen und Rückschläge hindurch letztlich mit Gottes Hilfe Großartiges in Gang gesetzt. Sie haben die Botschaft von der Liebe Gottes zu den Menschen unter Einsatz ihres Lebens weitergetragen. 

Für uns, die wir hier sitzen, und überhaupt in unserem Land, ist das Bekenntnis zum Glauben an Christus nicht mit Gefahr für Leib und Leben verbunden. Mutmachgeschichten wie die heutige sind für uns dennoch wichtig: Sie können uns helfen, durch alle widrigen Erfahrungen hindurch festzuhalten am Glauben an die Kraft der Liebe, an die Größe und Schönheit der Schöpfung, an den guten Sinn unseres Lebens und am Glauben daran, dass Gott das Unglaubliche möglich machen kann.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 23. September 2012)

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