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Erntedanktag (07.10.18)


Dank dem Geheimnis des Seins

5. Oktober 2008

Erntedanktag

Hebräer 13,15-16


Das Leben ist ein Geheimnis. Dass wir geboren sind, ist ein Geheimnis. Dass wir aus fast nichts zu diesen wunderbaren komplexen Gestalten geworden sind, ist ein Geheimnis. Dass es Milliarden von Menschen gibt, die zum einen so gleich, zum anderen so verschieden sind, ist sehr geheimnisvoll. Wir haben alle unsere je eigene Art, wir haben unsere Begabungen - und von uns können wir sagen: „Wir haben zu essen und zu trinken, wir haben ein Dach über dem Kopf, wir haben ein Lebensumfeld, in dem wir einigermaßen behütet unser Leben führen können.“ Das ist alles insofern sehr geheimnisvoll, weil der menschliche Anteil daran, dass alles so ist, wie es ist, ziemlich gering ist. Das Unverfügbare macht den weit überwiegenden Teil unseres Seins aus. 

Und wenn, wie am heutigen Tag besonders, wir uns all dessen vergegenwärtigen, was wir an Gutem haben, und uns danach zumute ist, einmal Dankeschön zu sagen, dann ist ja die Frage: An wen richten wir den Dank für all das, was wir uns nicht selbst beschert haben? Für uns, die wir hier sitzen, ist dies eigentlich nicht wirklich eine Frage, denn wir haben uns daran gewöhnt, mit den Worten der biblischen Tradition das Geheimnis des Seins als ein persönliches Gegenüber anzunehmen und es mit einem Namen anzureden, im Deutschen mit den vier Buchstaben, die sich zusammmenfügen zum Namen „Gott“. An ihn, Gott, richten wir unseren Dank. Er ist für uns die Quelle allen Seins, die Quelle unseres Lebens und all der Gaben, die wir zum Leben brauchen. 

Uns ist wohl klar, dass nicht alle Menschen zu essen und zu trinken haben, dass im Gegenteil täglich viele Tausend Menschen verhungern und verdursten. Und dass viele kein festes Zuhause haben, keine Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt durch ihrer eigenen Hände Arbeit zu sichern, dass viele ohne medizinische Betreuung sind und überhaupt auch ohne menschlichen Beistand. Dass also vielen Menschen gar nicht zum Danken zumute ist. 

Es ist für uns schmerzlich zu wissen, dass viele Menschen all das entbehren müssen, wofür wir heute danken. Nicht wenige von uns fragen sich: Wie passt das zusammen - wenn doch alle der einen und selben Quelle des Lebens entsprungen sind, der wir uns so persönlich verbunden fühlen?! Hier tauchen Fragen auf, die wir nicht beantworten können. Und wir müssen eingestehen, dass das Geheimnis des Seins ein Geheimnis bleibt, ein schönes und in mancher Hinsicht schreckliches zugleich. 

Uns hilft die biblische Tradition, auch damit umzugehen, dass wir das Schöne und das Schlimme nicht zusammenkriegen. All das, was wir an Ungereimtheiten erleben, an Ungerechtigkeit, an Not und Elend, all das, was wir weder verstehen noch mit unseren eigenen Kräften zum Guten verändern können, all das legen wir in die Hand desjenigen, der der Urgrund allen Seins ist und bitten ihn um seinen Beistand: dass er es möglich machen möge, dass alle Menschen zu essen haben und in Wohlergehen und in Frieden leben mögen. 

Das Geheimnis des Seins bleibt ein Geheimnis. Wir werden es nicht lüften. Aber wir müssen damit leben. Die biblische Tradition hilft uns, damit in einer guten Weise zu leben, die uns Menschen angesichts unserer menschlichen Begrenzungen angemessen ist.

Ein Tag wie heute ist ein Tag, an dem wir unsere menschlichen Begrenzungen zum Ausdruck bringen, indem wir danken - demjenigen, der unendlich viel mehr ist als wir, der unendlich viel größer ist als wir, der unbegreiflich ist und unbegreiflich bleiben wird. 

Es ist auch gut, dass wir nicht alles wissen und nicht alles zu erkennen vermögen. Die Grenzen unseres Wahrnehmungsvermögens sind in mancher Hinsicht ein wahrer Segen. Zu viel Wissen kann beunruhigen und verstören. Wenn wir z. B. einmal ins Trinkwasser schauen, das für unser Leben und Überleben so fundamental wichtig ist und dessen Reinheit so grundlegend wichtig ist, wenn wir da einmal mit dem Mikroskop hineinschauen und feststellen, was da alles für Tierchen drin herumschwimmen - verzeihen Sie wenn ich das so banal sage, wie es ist, dann würden wir uns vielleicht wünschen, wir hätte lieber nicht so genau hineingeschaut.

Oder wenn wir irgendein kleines Tierchen nehmen, eine gewöhnliche Stubenfliege, und betrachten auch diese unter einem Mikroskop, dann tun sich da Formen auf, die uns fremdartig und bedrohlich erscheinen mögen und uns vielleicht erschrecken können. 

Wir nehmen mit unseren Sinnesorganen nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit wahr - und das ist auch gut so. Der Blick in den Mikrokosmos und der Blick in den Makrokosmos können uns erschaudern lassen. 

Es hat etwas geradezu Lebenerhaltendes, dass wir nicht alles sehen, nicht alles wissen, dass wir z. B. nicht wirklich in die Zukunft schauen können, dass wir vielmehr in unserer kleinen gegenwärtigen überschaubaren Welt leben, in der wir uns ganz gemütlich eingerichtet haben, in der die Fragen ihre Antworten haben - und in der wir für die unbeantwortbaren Fragen auch eine Weise haben, so damit umzugehen, dass sie uns nicht dauerhaft belästigen. 

Dies sage ich alles an einem Tag wie dem heutigen, an dem wir unserer Dankbarkeit Ausdruck geben wollen, unserer Dankbarkeit demjenigen gegenüber, der der Inbegriff dieses ganzen geheimnisvollen Seins ist. 

Mit unserem eigenen Leben geht es ja auch auf und nieder. Und manche von Ihnen haben Zeiten erlebt, in denen Sie selbst Hunger gelitten haben, in denen Sie nicht wussten, wie Sie den nächsten Tag würden überstehen können. Da waren Sie vielleicht - aus dieser ganz persönlichen Betroffenheit heraus - irritiert von dem, zu dem Sie als den „lieben“ Gott zu beten gelernt hatten. 

Auch da wird Ihnen vielleicht geholfen haben, was die biblische Tradition uns nahelegt: dass wir das Geheimnis Gottes Geheimnis sein lassen, dass wir nicht den Anspruch stellen, die Ungereimtheiten des Seins auflösen zu können. 

Wir kommen nur zurecht, wenn wir Gott Gott sein lassen - und wenn wir als Menschen, als seine Geschöpfe, ihm mit unseren menschlichen Begrenzungen Dank sagen für das, was wir von ihm an Segensreichem empfangen - und wenn wir in seine Hand legen, was unsere eigenen Möglichkeiten übersteigt. 

Das muss alles nicht ohne Emotionen geschehen. Unseren Dank können wir in überschwenglicher Freude vorbringen. In unserer Not können wir heftig klagen. Wir können unseren Schmerz hinausschreien und gar den Schöpfer anklagen. Wir können zornig sein über Ungerechtigkeiten und zutiefst traurig über unser Leid und das Leiden unserer Mitmenschen.

In allem bleiben wir die Geschöpfe des geheimnisvollen Schöpfers. Wir bleiben ihm vertrauensvoll verbunden und kehren immer wieder zu ihm zurück, wenn wir uns denn einmal von ihm entfernt haben. Wohin sollten wir sonst gehen? 

Es ist Christus mit seiner lebensbejahenden, liebevollen Art, der uns besonders nachdrücklich hilft, dem Unvollkommenen, dem Schwierigen, dem Unbegreiflichen, dem Irritierenden, auch dem Gemeinen und Hässlichen und Brutalen so zu begegnen, dass es sich nicht vermehrt und vergrößert und verstärkt. 

Christus hat in allem noch das Gute und Liebenswerte und Dankenswerte gefunden - und sich davon leiten lassen.

Auch nach einer schlechten Ernte wird es noch einiges geben, wofür zu danken sich lohnt. Auch in der Krankheit wird es noch einiges geben, was des Dankes wert ist - die medizinische Hilfe, der menschliche Beistand. Auch an einem Menschen, der uns gemein behandelt, wird sich noch etwas Gutes finden lassen, und sei es, dass auch er als Ebenbild Gottes in die Welt hineinkam. Auch das Scheitern einer Beziehung kann die Tage des Glücks nicht zunichtemachen. Und selbst wenn ein Leben ein frühes Ende nimmt, bleibt jeder Tag des gelebten Lebens ein dankenswertes Geschenk. 

So sind wir also heute hier, um unseren Dank zu sagen dem geheimnisvollen Urgrund allen Seins, der Quelle allen Lebens, dem Erschaffer der Natur, der Pflanzen und Tiere, dem Schöpfer, der auch uns Menschen erschaffen hat. Ihm sagen wir Dank, dass er uns das Leben geschenkt hat und es erhalten hat bis auf den heutigen Tag. In seine Hand legen wir all das, was wir nicht verstehen können, was wir gern zum Besseren verändert hätten: dass er Hilfe schaffe, dass er zum Guten wende, was nicht gut ist, und dass er helfe, das Unvollkommene anzunehmen und das Schwere zu tragen. 

Wenn wir uns an Gott, den Schöpfer, mit unserem Dank und unserer Bitte wenden, dann wissen wir, dass wir zur Mitverantwortung berufen sind. Was wir selbst tun können, das sollen wir tun - in der Nachfolge seines Sohnes und mit Blick auf die Verheißung, die uns allen gegeben ist. 

Gott helfe uns, dass unser ganzes Leben ein Dank sei für seine Güte.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 5. Oktober 2008)

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