Es gibt ein schönes Kinderlied, das geht im Text folgendermaßen:
„Mein Gott, das muss anderes werden, das gefällt uns nicht. Hilf uns, das besser machen, mein Gott, erbarme dich!“
„Das muss anders werden“, ja, während ich an meinem Computer sitze und an der Predigt schreibe und auf den Bildschirm schaue und ich mich ein weiteres Mal darüber ärgere, dass dieses Gerät von Tag zu Tag offenbar immer langsamer wird und immer mal wieder hakt und nicht weiter will, spüre ich mein inneres „Ja“ zu diesem Kinderlied: „Mein Gott, ja, das muss anders werden. Dieses Gerät bringt mich zur Verzweiflung.“
Irgendwo auf meinem Schreibtisch liegt doch ein Prospekt mit neuen Geräten. Eigentlich müsste ich mal wieder ein neues kaufen. Die Dinger veralten eh in immer kürzerer Zeit. Worauf man den einen Tag noch stolz ist, da stellt sich wenig später schon Unzufriedenheit ein. Was einem an dem einen Tag noch als Stärke erschien, das erscheint angesichts der neuen schnellen Entwicklung schon bald als Schwäche. „Den Alten wegschmeißen, einen Neuen kaufen“ - irgendwie stört mich dieser Gedanke aber auch. Nicht nur weil das ja auch immer wieder Geld kostet. Das ist natürlich auch ein Problem. Ich meine dieses Verfahren überhaupt. Dieser Umgang mit dem, was alt und schwach und fehlerhaft geworden ist und den höchsten Ansprüchen nicht mehr genügt. „Gefällt mir nicht mehr, also weg damit, was Neues her!“ Da sträubt sich doch was in mir.
Zwei alte Geräte habe ich in der Ecke schon stehen, die nicht mehr so recht funktionieren. Reparieren ist heute ja auch nicht mehr angesagt. Wozu ein altes Gerät reparieren? Das lohnt sich kaum, heißt es. Aber zum Wegschmeißen konnte ich mich noch nicht entschließen. Man entwickelt doch auch so eine Art persönlicher Beziehung zu seinem Gerät und führt Zwiegespräche mit ihm: „Komm Alter, nun lauf schon!“ Oder: „Verflixt noch mal, was ist denn los mit dir heute!“ Oder: „Ah, wunderbar, das hast du fein gemacht.“ Kann man denn so einen im Grunde doch fleißigen und nützlichen „Mitarbeiter“ so einfach dem Müll zuführen, nur weil er meinen höchsten Ansprüchen nicht mehr genügt?
Vielleicht muss das so sein. Aber wo ich gerade an der Predigt schreibe, sträubt sich etwas in mir. Diese Art der Beziehung gefällt mir nicht - jedenfalls nicht, wenn dieses „Ex und Hopp“ sich vielleicht untergründig auch in unsere sonstigen Beziehungen einschleicht, wenn sie womöglich in den menschlichen Bereich hineinwirkt.
Mir fällt bei der Gelegenheit noch mein alter Gartenpullover ein. Den habe ich vor kurzem tatsächlich wegschmeißen müssen. Aber der hatte auch wirklich das Zeitliche gesegnet. Sie werden es nicht glauben, aber der hatte etwa dreißig Jahre auf dem Buckel gehabt. Den hatte ich bereits als ausrangiert geschenkt bekommen und dann lange als guten Pullover getragen. Als er dann nicht mehr so gut war, konnte er mir immerhin als Gartenpullover noch gute Dienste leisten. Mit kleinen Reparaturen ließ er sich immer noch wieder brauchbar machen.
Das gute Stück hatte mich über drei Jahrzehnte an alte Zeiten erinnert - immer wenn ich in den Garten ging. Mit dem Pullover habe ich ein Stück Biographie weiter mit mir getragen, Erinnerungen an Beziehungen von damals, die ja Teil meines Lebens geblieben sind. Gut, jetzt kürzlich war er wirklich nicht mehr zu retten. Aber dieser Abschied war dann in Ordnung.
Der Computer und der Pullover - zwei Beziehungen, zwei Lebenseinstellungen.
Es geht ja heute um Reformation - und ich frage mich: Hat die Reformation mehr mit dem Computer oder mehr mit dem Pullover zu tun?
Vielleicht beides. Es hat ja damals - durch Luther ausgelöst - rasante Entwicklungen gegeben, wirkliche Neuerungen, wo das Alte dann eben keinen Bestand mehr hatte. Allein dadurch, dass er die Bibel ins Deutsche übersetzt hatte, war eine alte Zeit ans Ende gekommen. Jetzt konnten die Leute mitreden, selbst lesen, was in der Bibel steht, und also mitdenken, mitentscheiden. Das führte zu einer geradezu revolutionären Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es entstanden daraus heftigste Auseinandersetzungen, auch Kriege. In diesen Tagen wird gerade der 350. Jahrestag des Westfälischen Friedens gefeiert, der Abschluss des Dreißigjährigen Krieges, der ja auch eine Folge der konfessionellen Auseinandersetzungen war.
Diese rasanten Neuerungen, in denen eben auch viele Beziehungen kaputt gingen und durch neue ersetzt wurden und die durchaus viel Fortschritt im positiven Sinn gebracht haben, diese Veränderungen der Reformationszeit setzen sich in gewisser Weise vielleicht in dem Computer und der damit verbundenen Philosophie fort. In dem Demokratisierungseffekt zum Beispiel, den Luther mit seiner Übersetzung der Bibel ins Deutsche und seiner Betonung des allgemeinen Priestertums in Gang gesetzt hat. Wenn man sich einmal vorstellt, dass sich heute Schüler selbständig Informationen aus aller Welt auf ihren eigenen PC-Bildschirm holen können. Das ist doch fast unglaublich. Wenn ich unseren zwölfjährigen Lukas frage, wie denn das Wetter im Augenblick gerade in Südafrika ist, dann wird er mir das dank der - geradezu kinderleichten - Technik in wenigen Augenblicken sagen können.
Aber die Reformation hat nicht nur mit dem Computer, sie hat auch mit meinem alten Pullover zu tun. Und das ist das für unser Anliegen hier in der Kirche vielleicht noch das Wichtigere.
Wie gehen wir mit dem um, was uns nicht mehr so gefällt, was vielleicht alt und unansehnlich geworden ist, was kaputt ist, was wir als schwach und fehlerhaft erkannt haben? Ja, vielleicht werden wir es wegschmeißen. Aber das sollten wir gewiss nicht in jedem Fall tun, jedenfalls dann nicht, wenn das, was uns nicht mehr gefällt, mit menschlichen Beziehungen zu tun hat.
Es gibt eine schreckliche Geschichte im Alten Testament, die eigentlich sehr beliebt ist, weil sie mit vielen Tieren zu tun hat und sich so schön für Aufführungen und für Anmalbilder eignet. Die Geschichte von der Arche Noah. Das, wie ich finde, Schreckliche an dieser Geschichte ist der Umgang mit der Unvollkommenheit des Menschen. Gott sah, dass die Menschen von Grund auf böse waren, heißt es da. Und es gereute Gott, dass er die Menschen gemacht hatte. Und er ertränkte sie alle in einer großen Sintflut und fing mit einer Familie noch mal neu an.
Diese Art der Problemlösung ist doch schrecklich: Taugt nichts mehr, also weg damit! Und mit neuen Leuten nochmal von vorn anfangen. Das geht so - zumindest im menschlichen Bereich - nicht. Und so kann Gott das auch nicht gemeint haben. Das haben die biblischen Erzähler der Noahgeschichte dann ja auch deutlich gemacht. insofern ist die Noahgeschichte dann schließlich doch wieder gut. Die biblischen Autoren sagen: Künftig wird Gott an seinen Menschen auch in ihren Unvollkommenheiten festhalten. Der Regenbogen soll uns an die dauerhafte Güte und Barmherzigkeit Gottes stets erinnern.
Nein, den Menschen kann man nicht wegschmeißen, wenn er nichts mehr taugt oder wenn wir mit ihm unzufrieden sind. Das ist das Frohe an der frohen Botschaft, an dem Evangelium, dass ganz klar gemacht wird: Der Mensch ist zwar unvollkommen, fehlerhaft und tut immer wieder das, was er nicht tun soll, und ist auch immer wieder so, wie er nicht sein sollte. Aber der Mensch ist und bleibt dennoch ein geliebtes Kind Gottes, ein liebenswertes Geschöpf. Und wir sind dazu aufgerufen, den Menschen in eben diesem Sinne zu behandeln.
Es ist ja nicht nur der Mitmensch unvollkommen. Wir selbst sind ja auch nicht besser. Auch wir selbst sind darauf angewiesen, dass man uns so nimmt, wie wir sind - mit unseren Fehlern und Schwächen, dass man geduldig mit uns ist, dass man uns immer wieder verzeiht und dass man weitermacht mit uns, auch wenn wir den Ansprüchen der anderen nicht genügen.
Als Martin Luther im Kloster Zeit hatte, über sich selbst nachzudenken, war ihm das auch klargeworden, wie schwach und unvollkommen und fehlerhaft und in gewisser Weise auch unverbesserlich er in seinem Wesen doch war.
Ihm war auch klar geworden, dass er irgendwie keine Möglichkeit hatte, so zu sein und so zu werden, wie ihn sein Schöpfer wohl eigentlich gern gehabt hätte. Martin Luther wäre fast an sich selbst verzweifelt, bis er dann beim Bibelstudium, beim Lesen des Neuen Testaments auf die Stelle stieß: „Gott liebt dich, Mensch, auch wenn du Sünder bist. Gott vergibt dir aus freien Stücken. Gott ist ein barmherziger und liebender Gott. Gott gibt auch den Sünder nicht auf.“
Christus hätte wahrlich Grund gehabt, vom Kreuz herab noch einen letzten Fluch auf die Mensch herabzustoßen, die ihn so schändlich behandelt hatten. Er hätte sie in den Abgrund wünschen können. Aber nein, er hält an seiner Liebe zu den Menschen fest: „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Was im Alten Testament der Regenbogen gewesen ist, das wurde im Neuen Testament das Kreuz: Zeichen der grenzenlose Liebe Gottes.
Es ist klar, dass Luther sich in seinen 95 Thesen gegen den Ablasshandel des Tetzel wandte. Die Liebe Gottes ist nicht käuflich. Sie ist ein Geschenk. Und wenn die Kirche daraus ein Geschäft machen will, dann ist das unanständig. An dem Punkt ist Martin Luther dann sehr kämpferisch geworden. Das haben wir seinem Lied am Anfang abgespürt: „Ein feste Burg ist unser Gott ... und wenn die Welt voll Teufel wäre ...“
Gewiss, da wollte er was klar machen, und solche Deutlichkeit muss manchmal auch wohl sein. Auch der Epistellesung, in der es um die Waffenrüstung Gott geht, spüren wir das Kämpferische ab. Auch die ersten Christen mussten für ihre Positionen kämpfen.
Aber die drastischen Bilder und Ausdrücke passen eigentlich nicht so gut zu dem Wesen der christlichen Botschaft. Da ist mir der Text des Evangeliums lieber, der Abschnitt aus der Bergpredigt: „Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ Und: „Liebt eure Feinde, und bittet für die, die euch verfolgen.“
Manche sagen: „Das ist nichts für diese Welt.“ Doch, ich meine schon. Diese Verhaltensweisen haben da ihren realen Sinn, wo Menschen einander gern haben und in Liebe miteinander umgehen. Und da, wo das geschieht, da ist ein Stück Himmel auf Erden.
Nehmen wir einander an mit unseren Schwächen und Fehlern. Ertragen wir einander in Geduld und Liebe. Ein jeder möge zunächst an sich selbst arbeiten und sehen, wie weit er kommt auf dem Weg zu dem „Traum-Ich“, wie wir es in unseren zehn Thesen beschrieben haben. Aber wir wollen einander auch zubilligen, einander zu kritisieren, und einander helfen, den Weg der Besserung zu beschreiten - aber immer so, dass wir aneinander festhalten in Geduld, mit Nachsicht und in Hoffnung – so, wie wir es umgekehrt für uns selbst ja auch wünschen. So werden wir - mit Gottes Hilfe - gemeinsam vorankommen. Und so geben wir Gott, unserem Schöpfer, die Ehre.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 1. November 1998)