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Reformationstag (31.10.18)


Einfach wegwerfen?

1. November 1998

Reformationsfest

Römer 3,21-28


Es gibt ein schö­nes Kin­der­lied, das geht im Text fol­gen­der­ma­ßen:

„Mein Gott, das muss an­de­res wer­den, das ge­fällt uns nicht. Hilf uns, das bes­ser ma­chen, mein Gott, er­bar­me dich!“

„Das muss an­ders wer­den“, ja, wäh­rend ich an mei­nem Com­pu­ter sit­ze und an der Pre­digt schrei­be und auf den Bild­schirm schaue und ich mich ein wei­te­res Mal dar­ü­ber är­ge­re, dass die­ses Ge­rät von Tag zu Tag of­fen­bar im­mer lang­sa­mer wird und im­mer mal wie­der hakt und nicht wei­ter will, spü­re ich mein in­ne­res „Ja“ zu die­sem Kin­der­lied: „Mein Gott, ja, das muss an­ders wer­den. Die­ses Ge­rät bringt mich zur Ver­zweif­lung.“

Ir­gend­wo auf mei­nem Schreib­tisch liegt doch ein Pro­spekt mit neu­en Ge­rä­ten. Ei­gent­lich müss­te ich mal wie­der ein neu­es kau­fen. Die Din­ger ver­al­ten eh in im­mer kür­ze­rer Zeit. Wor­auf man den ei­nen Tag noch stolz ist, da stellt sich we­nig spä­ter schon Un­zu­frie­den­heit ein. Was ei­nem an dem ei­nen Tag noch als Stär­ke er­schien, das er­scheint an­ge­sichts der neu­en schnel­len Ent­wick­lung s­chon bald als Schwä­che. „Den Al­ten weg­schmei­ßen, ei­nen Neu­en kau­fen“ - ir­gend­wie stört mich die­ser Ge­dan­ke aber auch. Nicht nur weil das ja auch im­mer wie­der Geld kos­tet. Das ist na­tür­lich auch ein Pro­blem. Ich mei­ne die­ses Ver­fah­ren über­haupt. Die­ser Um­gang mit dem, was alt und schwach und feh­ler­haft ge­wor­den ist und den höch­sten An­sprü­chen nicht mehr ge­nügt. „Ge­fällt mir nicht mehr, al­so weg da­mit, was Neu­es her!“ Da sträubt sich doch was in mir.

Zwei al­te Ge­rä­te ha­be ich in der Ecke schon ste­hen, die nicht mehr so recht funk­tio­nie­ren. Re­pa­rie­ren ist heu­te ja auch nicht mehr an­ge­sagt. Wo­zu ein al­tes Ge­rät re­pa­rie­ren? Das lohnt sich kaum, heißt es. Aber zum Weg­schmei­ßen konn­te ich mich noch nicht ent­schlie­ßen. Man ent­wickelt doch auch so ei­ne Art per­sön­li­cher Be­zie­hung zu sei­nem Ge­rät und führt Zwie­ge­sprä­che mit ihm: „Komm Al­ter, nun lauf schon!“ Oder: „Ver­flixt noch mal, was ist denn los mit dir heu­te!“ Oder: „Ah, wun­der­bar, das hast du fein ge­macht.“ Kann man denn so ei­nen im Grun­de doch flei­ßi­gen und nütz­li­chen „Mit­ar­bei­ter“ so ein­fach dem Müll zu­füh­ren, nur weil er mei­nen höch­sten An­sprü­chen nicht mehr ge­nügt?

Viel­leicht muss das so sein. Aber wo ich ge­ra­de an der Pre­digt schrei­be, sträubt sich et­was in mir. Die­se Art der Be­zie­hung ge­fällt mir nicht - je­den­falls nicht, wenn die­ses „Ex und Hopp“ sich viel­leicht un­ter­grün­dig auch in un­se­re son­sti­gen Be­zie­hun­gen ein­schleicht, wenn sie wo­mög­lich in den mensch­li­chen Be­reich hin­ein­wirkt.

Mir fällt bei der Ge­le­gen­heit noch mein al­ter Gar­ten­pul­lo­ver ein. Den ha­be ich vor kur­zem tat­säch­lich weg­schmei­ßen müs­sen. Aber der hat­te auch wirk­lich das Zeit­li­che ge­segnet. Sie wer­den es nicht glau­ben, aber der hat­te etwa drei­ßig Jah­re auf dem Buckel ge­habt. Den hat­te ich be­reits als aus­ran­giert ge­schenkt be­kom­men und dann lan­ge als gu­ten Pull­o­ver ge­tra­gen. Als er dann nicht mehr so gut war, konn­te er mir im­mer­hin als Gar­ten­pul­lo­ver noch gu­te Dien­ste lei­sten. Mit klei­nen Re­pa­ra­tu­ren ließ er sich im­mer noch wie­der brauch­bar ma­chen.

Das gu­te Stück hat­te mich über drei Jahr­zehn­te an al­te Zei­ten er­in­nert - im­mer wenn ich in den Gar­ten ging. Mit dem Pull­o­ver ha­be ich ein Stück Bi­o­gra­phie wei­ter mit mir ge­tra­gen, Er­in­ne­run­gen an Be­zie­hun­gen von da­mals, die ja Teil mei­nes Le­bens ge­blie­ben sind. Gut, jetzt kürz­lich war er wirk­lich nicht mehr zu ret­ten. Aber die­ser Ab­schied war dann in Ord­nung.

Der Com­pu­ter und der Pull­o­ver - zwei Be­zie­hun­gen, zwei Le­bens­ein­stel­lun­gen.

Es geht ja heu­te um Re­for­ma­tion - und ich fra­ge mich: Hat die Re­for­ma­tion mehr mit dem Com­pu­ter oder mehr mit dem Pull­o­ver zu tun?

Viel­leicht bei­des. Es hat ja da­mals - durch Lu­ther aus­ge­löst - ra­san­te Ent­wick­lun­gen ge­ge­ben, wirk­li­che Neu­e­run­gen, wo das Al­te dann eben kei­nen Be­stand mehr hat­te. Al­lein da­durch, dass er die Bi­bel ins Deut­sche über­setzt hat­te, war ei­ne al­te Zeit ans En­de ge­kom­men. Jetzt konn­ten die Leu­te mit­re­den, selbst le­sen, was in der Bi­bel steht, und al­so mit­den­ken, mit­ent­schei­den. Das führ­te zu ei­ner ge­ra­de­zu re­vo­lu­tio­nä­ren Ver­än­de­rung der ge­sell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se. Es ent­stan­den dar­aus hef­tig­ste Aus­ein­an­der­set­zun­gen, auch Krie­ge. In die­sen Ta­gen wird ge­ra­de der 350. Jah­res­tag des West­fä­li­schen Frie­dens ge­feiert, der Ab­schluss des Dreißigjährigen Krie­ges, der ja auch ei­ne Fol­ge der kon­fes­sio­nel­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen war.

Die­se ra­san­ten Neu­e­run­gen, in denen eben auch vie­le Be­zie­hun­gen ka­putt gin­gen und durch neue er­setzt wur­den und die durch­aus viel Fort­schritt im po­si­ti­ven Sinn ge­bracht ha­ben, die­se Ver­än­de­run­gen der Re­for­ma­tions­zeit set­zen sich in­ ge­wis­ser Wei­se viel­leicht in dem Com­pu­ter und der da­mit ver­bun­de­nen Phi­lo­so­phie fort. In dem De­mo­kra­ti­sie­rungs­ef­fekt zum Beispiel, den Lu­ther mit sei­ner Über­set­zung der Bi­bel ins Deut­sche und sei­ner Be­to­nung des all­ge­mei­nen Prie­ster­tums in Gang ge­setzt hat. Wenn man sich einmal vor­stellt, dass sich heu­te Schü­ler selb­stän­dig In­for­ma­tio­nen aus al­ler Welt auf ih­ren ei­ge­nen PC-Bild­schirm ho­len kön­nen. Das ist doch fast un­glaub­lich. Wenn ich un­se­ren zwölfjährigen Lu­kas fra­ge, wie denn das Wet­ter im Au­gen­blick ge­ra­de in Süd­a­fri­ka ist, dann wird er mir das dank der - ge­ra­de­zu kin­der­leich­ten - Tech­nik in we­ni­gen Augenblicken sa­gen kön­nen.

Aber die Re­for­ma­tion hat nicht nur mit dem Com­pu­ter, sie hat auch mit mei­nem al­ten Pull­o­ver zu tun. Und das ist das für un­ser An­lie­gen hier in der Kir­che viel­leicht noch das Wich­ti­ge­re.

Wie ge­hen wir mit dem um, was uns nicht mehr so ge­fällt, was viel­leicht alt und un­an­sehn­lich ge­wor­den ist, was ka­putt ist, was wir als schwach und feh­ler­haft er­kannt ha­ben? Ja, viel­leicht wer­den wir es weg­schmei­ßen. Aber das soll­ten wir ge­wiss nicht in je­dem Fall tun, je­den­falls dann nicht, wenn das, was uns nicht mehr ge­fällt, mit mensch­li­chen Be­zie­hun­gen zu tun hat.

Es gibt ei­ne schreck­li­che Ge­schich­te im Al­ten Te­sta­ment, die ei­gent­lich sehr be­liebt ist, weil sie mit vie­len Tie­ren zu tun hat und sich so schön für Auf­füh­run­gen und für An­mal­bil­der eignet. Die Ge­schich­te von der Ar­che No­ah. Das, wie ich fin­de, Schreck­li­che an die­ser Ge­schich­te ist der Um­gang mit der Un­voll­kom­men­heit des Men­schen. Gott sah, dass die Men­schen von Grund auf bö­se wa­ren, heißt es da. Und es ge­reu­te Gott, dass er die Men­schen ge­macht hat­te. Und er er­tränk­te sie al­le in ei­ner gro­ßen Sint­flut und fing mit ei­ner Fa­mi­lie noch mal neu an.

Die­se Art der Pro­blem­lö­sung ist doch schreck­lich: Taugt nichts mehr, al­so weg da­mit! Und mit neu­en Leu­ten noch­mal von vorn an­fan­gen. Das geht so - zu­min­dest im mensch­li­chen Be­reich - nicht. Und so kann Gott das auch nicht ge­meint ha­ben. Das ha­ben die bi­bli­schen Er­zäh­ler der No­ah­ge­schich­te dann ja auch deut­lich ge­macht. in­so­fern ist die No­ah­ge­schich­te dann schließlich doch wie­der gut. Die bi­bli­schen Au­to­ren sa­gen: Künf­tig wird Gott an sei­nen Men­schen auch in ih­ren Un­voll­kom­men­hei­ten fest­hal­ten. Der Re­gen­bo­gen soll uns an die dau­er­haf­te Gü­te und Barm­her­zig­keit Got­tes stets er­in­nern.

Nein, den Men­schen kann man nicht weg­schmei­ßen, wenn er nichts mehr taugt oder wenn wir mit ihm un­zu­frie­den sind. Das ist das Fro­he an der fro­hen Bot­schaft, an dem Evan­ge­li­um, dass ganz klar ge­macht wird: Der Mensch ist zwar un­voll­kom­men, feh­ler­haft und tut im­mer wie­der das, was er nicht tun soll, und ist auch im­mer wie­der so, wie er nicht sein soll­te. Aber der Mensch ist und bleibt den­noch ein ge­lieb­tes Kind Got­tes, ein lie­bens­wer­tes Ge­schöpf. Und wir sind da­zu auf­ge­ru­fen, den Men­schen in eben die­sem Sin­ne zu be­han­deln.

Es ist ja nicht nur der Mit­mensch un­voll­kom­men. Wir selbst sind ja auch nicht bes­ser. Auch wir selbst sind dar­auf an­ge­wie­sen, dass man uns so nimmt, wie wir sind - mit un­se­ren Feh­lern und Schwä­chen, dass man ge­dul­dig mit uns ist, dass man uns im­mer wie­der ver­zeiht und dass man wei­ter­macht mit uns, auch wenn wir den An­sprü­chen der an­de­ren nicht ge­nü­gen.

Als Mar­tin Lu­ther im Klo­ster Zeit hat­te, über sich selbst nach­zu­den­ken, war ihm das auch klar­ge­wor­den, wie schwach und un­voll­kom­men und feh­ler­haft und in ge­wis­ser Wei­se auch un­ver­bes­ser­lich er in sei­nem We­sen doch war.

Ihm war auch klar ge­wor­den, dass er ir­gend­wie kei­ne Mög­lich­keit hat­te, so zu sein und so zu wer­den, wie ihn sein Schöp­fer wohl ei­gent­lich gern ge­habt hät­te. Mar­tin Lu­ther wä­re fast an sich selbst ver­zwei­felt, bis er dann beim Bi­bel­stu­di­um, beim Le­sen des Neu­en Te­sta­ments auf die Stel­le stieß: „Gott liebt dich, Mensch, auch wenn du Sün­der bist. Gott ver­gibt dir aus freien Stücken. Gott ist ein barm­her­zi­ger und lie­ben­der Gott. Gott gibt auch den Sün­der nicht auf.“

Chri­stus hät­te wahr­lich Grund ge­habt, vom Kreuz her­ab noch einen letz­ten Fluch auf die Mensch her­abzu­sto­ßen, die ihn so schänd­lich be­han­delt hat­ten. Er hät­te sie in den Ab­grund wün­schen kön­nen. Aber nein, er hält an sei­ner Lie­be zu den Men­schen fest: „Herr, ver­gib ih­nen, denn sie wis­sen nicht, was sie tun.“ Was im Al­ten Te­sta­ment der Re­gen­bo­gen ge­we­sen ist, das wur­de im Neu­en Te­sta­ment das Kreuz: Zei­chen der gren­zen­lo­se Lie­be Got­tes.

Es ist klar, dass Lu­ther sich in sei­nen 95 The­sen ge­gen den Ab­lass­han­del des Tet­zel wand­te. Die Lie­be Got­tes ist nicht käuf­lich. Sie ist ein Ge­schenk. Und wenn die Kir­che dar­aus ein Ge­schäft ma­chen will, dann ist das un­an­stän­dig. An dem Punkt ist Mar­tin Lu­ther dann sehr kämp­fer­isch ge­wor­den. Das ha­ben wir sei­nem Lied am An­fang ab­ge­spürt: „Ein feste Burg ist un­ser Gott ... und wenn die Welt voll Teu­fel wä­re ...“

Ge­wiss, da woll­te er was klar ma­chen, und sol­che Deut­lich­keit muss manch­mal auch wohl sein. Auch der Epi­stel­le­sung, in der es um die Waf­fen­rü­stung Gott geht, spü­ren wir das Kämp­fe­ri­sche ab. Auch die er­sten Chri­sten muss­ten für ih­re Po­si­tio­nen kämp­fen.

Aber die dra­sti­schen Bil­der und Aus­drücke pas­sen ei­gent­lich nicht so gut zu dem We­sen der christ­li­chen Bot­schaft. Da ist mir der Text des Evan­ge­li­ums lie­ber, der Ab­schnitt aus der Berg­pre­digt: „Wenn dich jemand auf die rech­te Backe schlägt, dem bie­te die an­de­re auch dar.“ Und: „Liebt eu­re Fein­de, und bit­tet für die, die euch ver­fol­gen.“

Man­che sa­gen: „Das ist nichts für die­se Welt.“ Doch, ich mei­ne schon. Die­se Ver­hal­tens­wei­sen ha­ben da ih­ren re­a­len Sinn, wo Men­schen ein­an­der gern ha­ben und in Lie­be mit­ein­an­der um­ge­hen. Und da, wo das ge­schieht, da ist ein Stück Him­mel auf Er­den.

Neh­men wir ein­an­der an mit un­se­ren Schwä­chen und Feh­lern. Er­tra­gen wir ein­an­der in Ge­duld und Lie­be. Ein je­der mö­ge zu­nächst an sich selbst ar­bei­ten und se­hen, wie weit er kommt auf dem Weg zu dem „Traum-Ich“, wie wir es in un­se­ren zehn The­sen be­schrie­ben ha­ben. Aber wir wol­len ein­an­der auch zu­bil­li­gen, ein­an­der zu kri­ti­sie­ren, und ein­an­der hel­fen, den Weg der Bes­se­rung zu be­schrei­ten - aber im­mer so, dass wir an­ein­an­der fest­hal­ten in Ge­duld, mit Nach­sicht und in Hoff­nung – so, wie wir es um­ge­kehrt für uns selbst ja auch wün­schen. So wer­den wir - mit Got­tes Hil­fe - ge­mein­sam vor­an­kom­men. Und so ge­ben wir Gott, un­se­rem Schöp­fer, die Eh­re.

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 1. November 1998)

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