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17. So. nach Trinitatis (13.10.19)


Grenzen überschreitender Glaube

21. September 1997 

17. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 15,21-28


Die Kirche ist eine weltumspannende Einrichtung. Von Israel aus hat sich der Glaube an Jesus, den Christus, Schritt für Schritt in praktisch alle Länder der Welt ausgebreitet. Aus einer jüdischen Sekte - als solche kann man wohl die erste christliche Gruppierung in Israel bezeichnen - ist eine neue Weltreligion geworden. Das war kein einfacher Prozess. Da, wo Grenzen überschritten werden, wo sich unterschiedliche Kulturen begegnen, da gibt es auch Probleme. Das ist uns nicht unbekannt. Das Grenzüberschreitende, das Menschen-Verbindende ist aber geradezu Wesensmerkmal unseres christlichen Glaubens. Damit ist dann auch ein Auftrag an uns verbunden, der bleibende Auftrag nämlich, das gesellschaftliche Miteinander von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft freundlich und friedlich zu gestalten. 

Im Predigttext aus dem Matthäusevangelium wird uns die Begegnung zwischen Jesus und einer Frau aus Syro-Phönizien geschildert, einer Ausländerin von Israel aus betrachtet. Was uns dieser Text bezüglich der kulturellen Grenzüberschreitung sagen will, möchte ich Ihnen heute einmal etwas werkstattmäßig darzulegen versuchen - durch einen kleinen Einblick in die mögliche Entstehungsgeschichte des Textes.

Die Begegnung zwischen Jesus und der Frau aus Syro-Phönizien ist uns im Neuen Testament zweimal überliefert, bei Markus und bei Matthäus. Die beiden Evangelisten bieten uns den Text in etwas unterschiedlicher Form an. Das liegt an der unterschiedlichen Herkunft dieser beiden Persönlichkeiten - Matthäus war jüdischer, Markus war vermutlich nicht-jüdischer, ursprünglich also, wie man sagte, „heidnischer“ Herkunft. Ebenso waren die Gemeinden, in denen sie lebten und für die sie zunächst schrieben, die Adressaten ihrer Texte also, auch unterschiedlicher Herkunft.

Wir können uns die Entstehung unseres Predigttextes etwa folgendermaßen vorstellen: 

Irgendwo im Römischen Reich - in der Gegend des heutigen Syrien vermutlich - um das Jahr 70 herum - setzte sich Markus hin und schrieb. Markus konnte schreiben. Das konnten zu jener Zeit die wenigsten. 

Wenn jemand einem anderen etwas mitteilen wollte, dann erzählte er es ihm. Und wenn das Gehörte interessant und wichtig war, wurde es weitererzählt. So waren Geschichten im Umlauf, die einer dem anderen mündlich weitergab. Dabei kam es, wie man sich denken kann, durchaus vor, dass beim Weitererzählen der eine etwas hinzufügte und der andere etwas wegließ.

Markus kannte viele solche Geschichten, und er sammelte sie. Er sammelte nicht alles. Ihn interessierten vor allem all die Geschichten, die man von jenem Jesus von Nazareth erzählte, der einige Jahrzehnte zuvor in Palästina gelebt hatte - in der Gegend um Jerusalem herum, in der Heimat der Juden, wo man Aramäisch sprach und die Sitten und Gepflogenheiten der alten Israeliten fortführte. 

Markus war mit der griechischen Sprache aufgewachsen. Die Leute um ihn herum sprachen ebenfalls Griechisch. Mit einigen von ihnen, einigen Familien und Einzelnen, fühlte er sich besonders eng verbunden. Sie trafen sich - mal bei dem einen, mal bei dem anderen - und feierten Gottesdienst. Sie nahmen das Abendmahl ein und erzählten dabei die Geschichten, die ihnen über jenen Jesus von Nazareth überliefert waren, in dessen Namen sie zusammenkamen.

Eine jener Geschichten handelte von einer Frau. Immer wenn jemand diese Geschichte vorbrachte, hörten die Frauen, die ja auch an den gottesdienstlichen Versammlungen teilnahmen, besonders aufmerksam zu.

Diese Geschichte fanden die Frauen in der Versammlung aus zwei Gründen besonders schön und wichtig für sie selbst: Es ging nämlich zum einen eben um eine Frau, zum anderen war diese Frau noch dazu eine Nichtjüdin, eine Frau aus der Gegend um Tyrus und Sidon, die aus der Sicht Israels schon immer als heidnisches Gebiet galt. Mit dieser Frau fühlten sich viele in der gottesdienstlichen Versammlung innerlich verbunden. Denn sie selbst, ja die meisten von ihnen, waren sog. Heiden gewesen, bevor sie von Jesus von Nazareth gehört hatten und sich zu ihm bekannten.

Es war für sie ein schwieriger Schritt gewesen, sich den Christusgläubigen anzuschließen, zumal es Juden gewesen waren, die von jenem Jesus berichtet hatten, der ja auch Jude gewesen war. Und sie selbst waren doch in einer ganz anderen Religion aufgewachsen, der römischen Religion - mit vielen Göttern und Gebräuchen, die - wie gesagt - von den anderen als heidnisch bezeichnet wurden. Es hatte immer eine gewisse Spannung gegeben zwischen denen, die als Juden zu Christus gefunden hatten, und ihnen, die sie einen ganz anderen religiösen Hintergrund gehabt hatten. In dieser  Gemeinde in Syrien waren sie zwar in der Mehrheit. Aber es war doch zu merken, dass es in der damaligen noch kleinen Christenheit eben zwei verschiedene Gruppen gab: die Christen jüdischer Herkunft und die Christen nichtjüdischer Herkunft, also sog. Judenchristen einerseits und Heidenchristen andererseits. 

Da fanden es vor allem die Frauen in der syrischen Gemeinde doch ganz angenehm, dass immerhin eine Geschichte im Umlauf war, die von einer der ihren handelte. Zwar erweckte diese Geschichte zuerst immer den Eindruck, als wäre Jesus nur auf Seiten der Juden. Doch dann kam ja immer die schöne Wende in der Geschichte, die deutlich machte: Eine Heidin kann den Juden geradezu ein Vorbild im Glauben sein.

Es war Markus klar, dass er diese Geschichte nicht auslassen dürfte, wenn er über jenen Jesus von Nazareth schreiben würde.

Markus hatte schon viele Geschichten gesammelt. Er musste sich nun überlegen, wie er das Ganze so zusammenstellen könnte, dass die frohe Botschaft, wie er sie verstand, auch von den anderen, seinen zukünftigen Lesern und Hörern, angenommen werden könnte. Er musste sich einen Aufbau für sein Evangelium überlegen, ein sinnvolles Konzept. Und an irgendeiner Stelle müsste dann diese Geschichte von der Frau aus der Gegend von Tyrus und Sidon kommen. Er müsste sie am besten so platzieren, dass klar würde: Auch Menschen mit nichtjüdischem Hintergrund können die Bedeutung Jesu erkennen und den Wunsch haben anzunehmen, was er zu geben hat. Auch Nichtjuden können ernstzunehmende Christen sein. Das würde er deutlich machen wollen.

Unter seinen Aufzeichnungen fand Markus auch kritische Bemerkungen über die jüdischen Pharisäer und Schriftgelehrten, über die Reinlichkeitsvorschriften, die sie so ernst nahmen, weil es für sie als Juden unumstößliche religiöse Vorschriften waren. Nach ihrem Verständnis verunreinigten sie sich als Juden durch den Kontakt mit Andersgläubigen. Markus hatte einige Sätze gesammelt, die diese Anschauung kritisierten - in dem Sinne etwa: Unrein ist nicht, was wir berühren, sondern unrein sind unsere bösen Gedanken.

Markus entschloss sich, bei der Zusammenstellung seiner Aufzeichnungen die Geschichte von der Begegnung zwischen Jesus und der Frau aus Syro-Phönizien an den Abschnitt über Reinheit und Unreinheit anzuhängen. Dann würde vielleicht deutlich werden, so war seine Überlegung, dass Jesus als Jude jedenfalls keine Scheu vor dem Kontakt mit einer nichtjüdischen Frau gehabt hat, obwohl er sich selbst doch als Jude verstand und seine Aufgabe vorrangig an den Juden sah. 

Mehr als zehn Jahre später, Anfang der 80er Jahre unserer Zeitrechnung, saß ein anderer Mann an seinem Schreibtisch, an einem anderen Ort, aber auch im Römischen Reich, und wohl auch im Gebiet des heutigen Syrien. Es war Matthäus. Matthäus hatte eine ähnliche Absicht wie Markus. Auch er wollte einmal alles aufschreiben, was über diesen Jesus von Nazareth überliefert war. 

Auch Matthäus hatte viel Material gesammelt. Geschichten, die er gehört hatte, hatte er aufgeschrieben. Er hatte aber auch schon zwei wertvolle Schriftstücke von anderen vor sich liegen, eine Zusammenstellung von Aussprüchen Jesu und dann ein Schriftstück, das in etwa dem entsprach, was er nun selbst erschaffen wollte: Er hatte das Markusevangelium vor sich liegen. Das war nämlich schon fertig. 

Matthäus hatte sich dieses Werk mehrfach sorgfältig durchgelesen. Ihm war klar: Dies ist eine überaus wertvolle Quelle. Die würde er für sein eigenes Werk voll ausschöpfen. Allerdings würde er eigene Akzente setzen. Beim Lesen des Markusevangeliums war es für ihn unschwer erkennbar geworden, dass die Gemeinde des Markus eine andere als seine eigene gewesen sein musste. Er konnte erkennen, dass die Gemeinde des Markus hauptsächlich aus Menschen nichtjüdischer Herkunft zusammengesetzt gewesen sein musste. Warum sonst hätte Markus in seinem Evangelium die jüdischen Gebräuche immer mit Erklärungen versehen! 

„Meine Gemeinde ist anders“, sagte sich Matthäus. „In meiner Gemeinde sind die meisten Menschen jüdischer Herkunft. Und hier ist die Problemlage etwas anders.“ Sein Grundthema und Grundproblem war, dass die jüdischen Christusgläubigen aus der jüdischen Religionsgemeinschaft hinausgedrängt worden waren. „Wir müssen gegenüber den jüdischen Pharisäern und Schriftgelehrten deutlich machen“, so Matthäus, „dass wir mit unserem Glauben an Jesus Christus voll in der jüdischen Tradition stehen und dass die Pharisäer und Schriftgelehrten diejenigen sind, die sich irrten, als sie Jesus Christus verfolgten und ihn hinrichten ließen.“

Im Sinne seiner Absicht bearbeitete Matthäus also die Geschichte von der Frau aus der Gegend von Tyrus und Sidon. Zunächst einmal wollte er unzweideutig klar machen, dass Jesus auf dem Boden der jüdischen Religion stand und sich dem jüdischen Volk gegenüber zur Erfüllung seines Auftrags berufen wußte. Deshalb fügt Matthäus das Wort Jesu ein: „Nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel bin ich gesandt.“ Mit diesem Satz war Jesus fest in die jüdische Tradition eingefügt.

Aber dann wollte Matthäus noch die Schwäche des pharisäischen Glaubens hervorheben. Zu diesem Zweck hob er den Glauben der Frau hervor. Er kennzeichnete die Frau nun über die regionale Herkunft hinaus als kanaanäische Frau. Damit griff er eine alttestamentliche Bezeichnung auf, die unmissverständlich klarmachte, dass es sich hier um die Angehörige einer von den Juden traditionell als heidnisch bezeichnete Religion handelte.                     

Kanaan, das war wie ein Schimpfwort - das war gleichbedeutend mit Heidentum.

Und: Um den Glauben der Frau noch weiter hervorzuheben, legte Matthäus ihr eine Anrede in den Mund, die eigentlich nur von einem Juden hätte kommen können. Er lässt die Frau Jesus anreden mit den Worten: „Herr, du Sohn Davids.“ „Herr, du Sohn Davids, erbarm dich meiner.“

Und die Antwort Jesu, nachdem die Frau sich von seiner ersten schroffen Ablehnung nicht hat beirren lassen: „Dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst.“

„Dein Glaube ist groß“ - auch diesen Satz hat Matthäus in diese Geschichte hineinkomponiert, um ganz deutlich zu machen: Dieser Jesus von Nazareth, der zwar eigentlich zur Erfüllung einer jüdischen Verheißung angetreten war, vermochte doch in einer Person nichtjüdischer Herkunft einen großen Glauben zu entdecken. 

Wir sehen also: Dieser Text hat einen durchaus kämpferischen Hintergrund, was gerade aus der Entstehungszeit heraus verstehbar ist. Die Auseinandersetzung über die Frage: „Wer war dieser Jesus Christus - was bedeutet er uns?“ ist bis heute nicht abgeschlossen und kann auch gar nicht abgeschlossen werden. Sie wird aus den unterschiedlichen Kulturen heraus - und letztlich auch von Mensch zu Mensch - immer wieder neu und auch ein wenig anders beantwortet werden. Das ist auch in Ordnung so. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 21. September 1997)

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