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18. So. nach Trinitatis (20.10.19)


Ethik für den Frieden

14. Oktober 2001

18. Sonntag nach Trinitatis

2. Mose 20,1-17


Es ist ganz gut, dass wir in diesen Tagen die 10 Gebote einmal insgesamt betrachten sollen. Die schrecklichen Ereignisse vom 11. September sind ein Anlass, grundsätzlich nachzudenken über die ethischen Grundlagen unseres Zusammenlebens als weltweite menschliche Gemeinschaft. 

Die Menschen des Alten Testaments haben sicherlich nicht ganz so global gedacht, wie wir das heute infolge der Medien und der technischen Möglichkeiten gewohnt sind. Die alttestamentlichen Autoren befassen sich vor allem mit dem Volk Israel. Aber ihr Denken richtete sich doch auch auf den Menschen schlechthin - in der Schöpfungsgeschichte z. B. geht es um den Beginn der Menschheit insgesamt, in der Paradiesesgeschichte mit dem Sündenfall, in der Erzählung von Kain und Abel, in der Sintflutgeschichte, in der vom Turmbau zu Babel - da geht es immer wieder um das Wesen des Menschen ganz grundsätzlich. 

Und schließlich die 10 Gebote - sie sind zwar dem Mose für sein Volk gegeben, aber sie richten sich doch letztlich an den Menschen überhaupt. 

Eine Konfirmandenmutter hatte das vor Jahren einmal ganz schlicht und persönlich so formuliert: „Ich möchte, dass Sie meinem Sohn die 10 Gebote beibringen, damit aus ihm ein anständiger Mensch wird.“

Die 10 Gebote enthalten einen ethischen Leitfaden für unser Verhalten - immer mit Blick auf unser Miteinander in der menschlichen Gemeinschaft.  

Dass Gebote überhaupt nötig sind, machen die ersten Seiten der Bibel recht deutlich. Das wird uns aber auch täglich immer wieder auf’s Neue klar, wenn wir die Ereignisse um uns herum - im näheren und weiteren Umkreis - beobachten, und auch wenn wir uns selbst betrachten. Ohne Gebote, ohne Gesetze ginge es nicht. Chaos würde ausbrechen. Die Gebote haben eine geradezu lebenserhaltende Funktion. Das Volk Israel hat darum die Gebote als ein großes göttliches Geschenk empfunden und hat sie in etlichen Psalmen dankbar und fröhlich besungen. 

Was dürfen wir, was dürfen wir nicht? Auf diese Fragen geben die Gebote eine Antwort. Sie bieten insofern eine ethische Orientierung und einen Halt. Allerdings sind sie auslegungsbedürftig. Sie können nicht immer als konkrete Handlungsanweisung dienen. Auch das fundamentale Gebot „Du sollst nicht töten“ z. B. versteht sich nicht von selbst - es lässt die Frage offen, ob es vielleicht doch Ausnahmen gibt, z. B. im Fall der Selbstverteidigung oder überhaupt im Fall der Verteidigung - auch eines anderen Menschen oder eines ganzen Volkes. 

Wegen ihrer Uneindeutigkeit können die Gebote auch leicht missbraucht werden. Sehr beliebt ist z. B., anderen die Gebote vorzuhalten und ihnen deutlich zu machen, was sie alles für Unrecht begangen haben. Ebenso beliebt ist es umgekehrt, die Gebote dazu zu benutzen klarzustellen, wie rechtschaffen man selbst ist - im Sinne von: „Ich habe mir nie etwas zu schulden kommen lassen.“

Wir müssen also auch die Grenzen der Gebote sehen. Gebote sind gut und wichtig. Aber sie reichen für sich genommen noch nicht aus, das menschliche Miteinander im Kleinen und im Großen zu gestalten. Hinzukommen muss ein Geist der Verantwortung, sie vernünftig und sinnentsprechend anzuwenden. Und es muss ein Geist der Menschlichkeit hinzukommen, z. B. für den Fall des Scheiterns. Wir scheitern an den Geboten täglich. Neben der Strafe muss auch die Bereitschaft zum Verzeihen und Vergeben hinzukommen. Der Geist der Menschlichkeit ist auch als Korrektiv z. B. für den Fall nötig, dass die Gebote mehr Schaden als Nutzen bringen. 

Wenn z .B. das Ruhegebot am Feiertag dazu führt, dass einem Menschen nicht geholfen wird, dann schadet das Gebot. Jesus hat darum gesagt: „Der Mensch ist nicht für die Gebote da, sondern die Gebote sind für den Menschen da.“ Ggf. muss ein Gebot um der Menschlichkeit willen auch einmal gebrochen werden. 

Aber insgesamt und grundsätzlich und recht ausgelegt und angewandt sind die Gebote ein ganz großer Segen. Wie gesagt, das Volk Israel hat die Gebote als ein großes Geschenk Gottes mit Dankbarkeit angenommen. Und Jesus hat die Bedeutung der Gebote bestätigt. Auf die Frage, welches denn das größte Gebot sei, hat er die Gebote in einem Doppelgebot zusammengefasst und hat sie dabei mit dem Aspekt der Verantwortung und der Menschlichkeit verbunden, als er sagte: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Und das andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Gott lieben und den Menschen lieben - das ist der Leitfaden, nach dem wir die Gebote für das konkrete Leben auslegen und anwenden sollen. Wenn wir nun noch fragen, was das heißt: „Den Menschen lieben“, dann können wir noch die Goldene Regel Jesu zur Erklärung hinzunehmen, die besagt: „Was du willst, dass man dir tut, das tue auch den anderen.“ Für uns selbst hätten wir gern das Beste, und eben dies sollen wir auch dem Nächsten zukommen lassen. 

Die Goldene Regel ist, wie ich finde, eine sehr geschickte und effektive Handlungsanweisung. Sie fordert uns zunächst zu einem gedanklichen Rollentausch auf: Wir sollen uns in die Situation des anderen versetzen und dann aus dessen Position heraus überlegen: Was hätte ich gern? Wenn wir das jetzt einmal an einem Beispiel durchprobieren, dann merken wir, wie wirksam die goldene Regel uns die Augen öffnen kann. Versetzen wir uns mal für einen Augenblick in die Situation eines hungernden Menschen in Somalia - was würden wir uns dann wohl wünschen? Klar: dass uns jemand zu essen und zu trinken geben möge. Dieser Mensch in Somalia wird aber verhungern. Wir also, wenn wir nicht nur gedanklich, sondern tatsächlich an seiner Stelle wären, wir würden verhungern, zusammen mit tausend weiteren Menschen in dieser Stunde, in der wir hier Gottesdienst feiern, weil uns niemand zu essen geben würde, obwohl es auf diesem Erdball reichlich zu essen und reichlich Geld gibt ...

Ich nenne jetzt gerade dieses Beispiel, weil die furchtbaren Ereignisse vom 11. September unseren Blick wieder geweitet haben und wir wieder den ganzen Globus in den Blick nehmen. Ich sage wieder, weil wir uns 20 Jahre lang mehr und vielleicht allzu sehr um unsere innere Befindlichkeit gekümmert haben. Die gesellschaftlichen Probleme weltweit sind aber dringlich. Jetzt, wo wir uns selbst bedroht sehen, werden wir vielleicht wieder die Kraft haben, uns Gedanken zu machen und Maßnahmen zu überlegen, wie wir unserer mitmenschlichen Verantwortung im weltweiten Sinne gerecht zu werden versuchen können. 

Es wäre jedenfalls nicht gut, wenn wir die globalen Belange allein denjenigen überlassen würden, die vor allem auf technische und militärische Lösungen setzen. Die Probleme selbst müssen gelöst werden. Das ist das eine. Und das andere ist dies: Eine langfristige und nachhaltige Lösung kann es nur geben, wenn wir die Herzen der Menschen gewinnen. Das ist unser Auftrag.

Die Kirche ist ein weltweiter Organismus. Sie hat einen weltumspannenden Auftrag: nämlich die Liebe Gottes zu allen Menschen zu verkündigen und erfahrbar werden zu lassen. Es ist an der Zeit, dass wir uns auf die weltweite Dimension dieses Auftrags wieder in aller Intensität besinnen. Damit meine ich nicht, dass wir wieder verstärkt Mission im Stile früherer Jahrhunderte betreiben sollten. 

Die Mission früherer Jahrhunderte hatte, wenn ich das einmal etwas vereinfacht sagen darf, allzu sehr einfach die Platzierung des eigenen Glaubens in anderen Teilen der Welt zum Ziel. Jetzt muss viel stärker die Kommunikation mit anderen Glaubensformen, mit anderen Religionen, Denkstrukturen, Lebensweisen, Kulturen hinzukommen. Jetzt ist interkulturelle, interreligiöse Kommunikation vonnöten mit dem vorrangigen Ziel, Gemeinsamkeiten herauszufinden, gegenseitigen Respekt zu bekunden und gemeinsame Anliegen zum Wohle aller zu realisieren. 

Der katholische Theologe Hans Küng beschäftigt sich seit gut zehn Jahren mit dem „Projekt Weltethos“ und hat auch ein Buch mit diesem Titel schon damals veröffentlicht. Darin formuliert er zusammenfassend vier Kernsätze, die ich Ihnen jetzt gern weitergebe: Er sagt:

„Kein Friede unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen. Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen. Kein Dialog zwischen den Religionen ohne globale ethische Maßstäbe. Kein Überleben unseres Globus ohne ein globales Ethos, ein Weltethos.“

Küng hat vor mehr als einem Jahrzehnt bereits das formuliert, was wir heute als ganz konkrete Aufgabenstellung annehmen sollten - ich wiederhole den letzten Satz: „Kein Überleben unseres Globus ohne ein globales Ethos, ein Weltethos.“ 

Was er sagen will, ist dies: Wir müssen uns heute intensiver denn je weltweit um gemeinsame Maßstäbe für ein friedliches und gedeihliches Miteinander auf unserem Erdball bemühen. Das ist eine große geistige, geistliche und menschliche Aufgabe. Die Probleme, die uns der 11. September so brutal vor unser aller Augen gestellt hat, sind nicht allein und schon gar nicht nachhaltig mit militärischen Mitteln zu lösen, auch nicht mit Maßnahmen der technischen Kontrolle und Überwachung. 

Erforderlich ist, dass wir uns weltweit über Grenzen aller Art hinweg als menschliche Gemeinschaft auf gemeinsame Maßstäbe des Zusammenlebens zu verständigen versuchen. Es gibt die Vereinten Nationen, da ist schon ein großes Gesprächsforum. Es ist sehr schön, dass die Arbeit dort nun durch den Friedensnobelpreis gewürdigt wird. 

Die Kirche ist ebenfalls ein weltweiter Organismus mit einer alle Einzelkirchen verbindenden ganz wunderbaren Botschaft der Liebe und des Friedens. Die sollten wir mit viel größerer Deutlichkeit einbringen in die Bemühungen um ein weltweites friedliches und gedeihliches Miteinander. 

Diese Predigt hat ihren Anfang bei den 10 Geboten genommen. Wir haben noch die Worte Jesu hinzugenommen. Wir können Wertvolles zur weltweiten Diskussion beitragen. Natürlich müssen wir bei uns selbst anfangen. Dann merken wir schon, wie schwierig das Ganze ist. Aber wir haben einen Auftrag, einen göttlichen Auftrag um des Menschen willen, um aller Menschen auf unserem Erdball willen. Stellen wir uns diesem Auftrag, uns selbst zum Wohl, allen Menschen zum Wohl und Gott zur Ehre. 

Ich möchte zum Schluss einen Abschnitt aus dem Buch von Hans Küng zitieren, aus dem 1999 veröffentlichten Buch „Spurensuche“ mit dem Untertitel „Die Weltreligionen auf dem Weg“. Das Kapitel über das Christentum hat er mit einem Abschnitt abgeschlossen, dem er die Überschrift gegeben hat: „Um der Kinder willen“. Küng schreibt:

„Nein, wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben. Die Völker der Erde dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, schon um der Kinder, um der kommenden Generationen willen. Und gerade die Kinder, die einmal selber die Zukunft gestalten sollen, könnten das brauchen, was vor 2000 Jahren der Nazarener verkündigt, vorgelebt hat: Toleranz, Verständnis, Güte, Hilfsbereitschaft, Teilen, Vergeben, Liebe. Auch nach 2000 Jahren wahrhaftig keine überholten Ideale!

Der Globus ist bedroht, von innen heraus. Er könnte auseinanderbrechen. Aber der Globus kann auch wieder heil werden, friedlicher, menschlicher: wo immer Menschen statt sich zu bedrohen und bekämpfen, miteinander reden, sich gegenseitig tolerieren und respektieren.

Für Nationen, Gruppen, den Einzelnen ist aktueller denn je die Goldene Regel, von Jesus nicht nur negativ, sondern positiv formuliert: ,Was du willst, das man dir tut, das tue auch den anderen!‘ Eine Grundorientierung für den ganzen langen Lebensweg.

Gewalt ist heute in jeder Gesellschaft ein Problem. Aber das Wort des großen jüdischen Propheten Jesaja ,Schwerter zu Pflugscharen schmieden‘ (Jes. 2,4) wird heute in allen Nationen und Religionen verstanden.

Schon junge Menschen sollten lernen, dass Gewalt kein Mittel der Auseinandersetzung sein darf. Nur so entsteht langsam

- eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben;
- eine Kultur der Partnerschaft von Mann und Frau;
- eine Kultur der Solidarität und Gerechtigkeit;
- eine Kultur der Toleranz und Wahrhaftigkeit.

Kriege aber vor allem sind inhuman, Kriege müssen mit allen Mitteln verhindert werden. Hat doch der Nazarener gesagt, ,Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Kinder Gottes heißen‘ (Mt 5,9).“

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 14. Oktober 2001)

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