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20. So. nach Trinitatis (3.11.19)


Scheidung

25. Oktober 2009

20. Sonntag nach Trinitatis

Markus 10,2-9


Wenn wir vor dem Spiegel stehen, können wir uns dann gerade in die Augen schauen? Haben wir den Mut, durch unsere Augen hindurch in unser Herz zu blicken? Und können wir dann sagen: „Ja, ich stehe zu dem, was ich sage und tue. Ich bin einverstanden mit mir selbst, mit meinem Reden und Handeln.“?

Vergessen wir mal für einen Moment alles, was wir von Kirche und Bibel und Glauben wissen, von Gott und von Mose und Jesus, von den zehn Geboten und von der Bergpredigt. Dann bleibt immer noch das drängende innere Bedürfnis, anständig zu sein oder als solches zu gelten, gerechtfertigt zu sein in dem, was wir sagen und tun. 

„Gewissen“ können wir das nennen oder „Über-Ich“. Von der Erziehung kann das kommen, der familiären oder der gesellschaftlichen, oder aus der natürlichen Veranlagung heraus. 

Bei manchen ist das Gewissen vielleicht schwach ausgebildet, manche haben vielleicht gar keins. Aber im Großen und Ganzen möchten wir doch gewissen Erwartungen und Werten entsprechen, höheren und sehr grundsätzlichen Erwartungen und Werten, an denen unser Selbstwertgefühl und unsere Selbstachtung hängen und der Respekt, den wir uns von anderen wünschen.

Welche Erwartungen und Werte sind es, die uns so bedrängen? Woher kommen sie? 

Sie können, wie gesagt, anerzogen sein, sie können aus der Gesellschaft an uns herangetragen sein. Sie können auch religiöse Quellen haben: die Bibel, die 10 Gebote, die Bergpredigt, der Wille Gottes. Vielleicht liegen sie einfach in der Natur des Menschen, die ja mehr ist als Natur. Wir sind ja auch Kulturwesen, die über sich selbst und das ganze Sein nachdenken können und sich in einem vernünftigen, akzeptablen, mit Sinn erfüllten Kontext bewegen möchten. 

Was ist gut und was ist böse, was darf ich, was darf ich nicht? Solche Fragen stellen sich nicht für das Tier. Sie stellen sich aber uns als Menschen, ob wir nun religiös sind oder nicht. 

Wir können nicht wertfrei leben. Aber welche Werte gelten? Nach welchen Werten sollen wir leben und wollen wir leben? Das kann eine ganz schwierige Frage sein. Und die kann nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch schwierig sein: Wenn wir nämlich z. B. etwas für gut und richtig befunden haben, uns dann aber schwer tun, uns nach unserer eigenen Einsicht zu verhalten. Das macht gerade das Thema deutlich, um das es im heutigen Predigttext geht: Wenn wir verheiratet sind, dürfen wir uns dann wieder scheiden lassen?

Diese Frage wurde an Jesus herangetragen. Er lässt die Frager zunächst selbst antworten - mit dem Hinweis auf Mose. Sie antworten: „Mose hat es zugelassen, sich scheiden zu lassen.“ Darauf antwortet Jesus: „Er hat es zugelassen um eures Herzens Härte willen.“

Jesus interpretiert Mose so: Eigentlich ist Scheidung nicht in Ordnung. Aber manchmal ist der Mensch nicht in der Lage, eine Ehe aufrechtzuerhalten. Dann soll, ganz pragmatisch entschieden, eine Scheidung möglich sein - mit Scheidebrief, d. h. in einem geordneten Verfahren. 

Aber eigentlich sollte Scheidung nicht sein. Jesus verweist auf den Schöpfungswillen Gottes: „Gott schuf den Menschen als Mann und Frau. Die zwei werden eins sein. Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“

Wenn wir noch einmal wieder kurz absehen von Bibel und Glauben und Gott und Jesus und einfach nur Mann und Frau betrachten: Wie stellt sich dieses Thema dann dar?

Ist es nicht so, dass da, wo Mann und Frau aufeinander treffen und sich ineinander verlieben und sich heftig ineinander verlieben, dass sich da der sehr ernsthafte Wunsch herausbilden kann, zusammenzubleiben und zwar ein Leben lang zusammenzubleiben und exklusiv in einer Zweierbeziehung zusammenzubleiben - in Liebe zueinander, eine Familie zu gründen und gemeinsam alt zu werden, den Weg des Lebens über die Höhen und durch die Tiefen gemeinsam zu gehen und schwierige Phasen im konstruktiven Miteinander zu durchstehen?

Nach meiner Erfahrung ist es so. Ich erlebe es bei jedem Traugespräch und auch darüber hinaus, wie rein und tief und stark beiderseits der Wunsch ist, das Leben gemeinsam in Liebe ein Leben lang zu gestalten.

Wir wissen alle aus Erfahrung und durch die Statistik, dass ein hoher Prozentsatz an Ehen letztlich doch nicht auf Dauer hält.

Wenn wir das zunächst mal wieder ohne Blick auf Kirche und Glauben betrachten: Ist das Thema Scheidung wertneutral? Das werden die Betroffenen in der Regel wohl kaum so sehen. 

Mit Scheidung ist viel Leid verbunden - für sie und für ihn, von eventuellen Kindern einmal abgesehen. Scheidung ist schmerzlich und mit Gefühlen des Scheiterns verbunden. 

Selbst wenn beide Seiten es so wollen und einvernehmlich auseinandergehen: Es ist doch beiden Seiten bewusst, dass sie das eigentlich nicht gewollt hatten. Dass sie eigentlich wirklich ganz ernsthaft das lebenslange Miteinander vorgehabt hatten. 

Der Scheidung gehen in aller Regel viele intensive Versuche voraus, doch zusammenzubleiben und die be-stehenden Spannungen auszuräumen, Probleme zu lösen, sich zu einigen, auch auf das eine und andere zu verzichten, was der andere nicht kann und will. 

Manchmal ist trotzdem ein weiteres gedeihliches, liebevolles Miteinander nicht mehr möglich. Es kann sein, dass der eine noch bereit ist, es weiter zu versuchen, aber der andere hat dazu nicht mehr die Kraft und den Willen. Über den anderen können wir aber nicht verfügen.

Vor Jahrzehnten hat es weniger Scheidungen gegeben. Aber die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frauen war größer, die rechtlichen Bedingungen waren schwieriger und der gesellschaftliche Makel größer.

Sollen Eheleute zusammenbleiben - auf Gedeih und Verderb, auch wenn ihre Kräfte für das Gemeinsame aufgezehrt sind und sie mehr im Krieg als im Frieden mitein-ander leben? Müssen Eheleute die Fortsetzung der Ehe schaffen?

Im Traugottesdienst bitten wir um den Segen für das Paar. In der Bitte um den Segen drückt sich die Einsicht in unsere menschlichen Grenzen aus, die Einsicht darin, dass wir nicht alles können, dass das Gelingen nicht ausschließlich in unserer eigenen Hand liegt, dass wir auf Beistand angewiesen sind, auch auf göttlichen Beistand. Zugleich drückt sich in der Bitte um den Segen die Bereitschaft aus, dennoch das zu versuchen, dessen Gelingen wir nicht aus eigener Kraft garantieren können, und das Wagnis der Liebe einzugehen, das Wagnis einer lebenslangen Beziehung in liebevoller Hingabe. 

Scheidung sollte eigentlich nicht sein. Aber sie muss möglich sein - in einem geordneten Verfahren. Sie ist in unserem Land in unserer Zeit zum Glück in einem rechtlich geordneten und gesellschaftlich akzeptierten Rahmen möglich. 

Wir sind keine Übermenschen. Wir sind und bleiben als Menschen schwache, fehlerhafte, sündhafte Wesen, die auf Hilfe, auf Nachsicht, auf Vergebung und die Chance zum Neuanfang angewiesen sind. 

Das ist ja überhaupt der Segen der frohen Botschaft des christlichen Glaubens: dass wir uns trotz unserer Unvollkommenheiten als geliebte Kinder Gottes verstehen dürfen. 

Diese erlösende Botschaft bedeutet nicht, dass wir uns mit unseren Unvollkommenheiten einfach abfinden sollten und dürften - nach dem Motto: So sind wir nun mal!  

Nein, wir sollen uns schon als Sünder begreifen. Wir sollen uns nichts vormachen über uns selbst, und wir brauchen uns nichts vorzumachen über uns selbst. Das ist Teil der frohen Botschaft: dass wir dazu befreit und ermutigt werden, uns ehrlich und wahrhaftig zu betrachten - auch mit unseren Schwächen. 

In eben diesem Sinne können wir das Wort Jesu zur Scheidung annehmen: Scheidung soll nicht sein. Die Zusage lebenslanger Treue und Liebe soll unverbrüchlich gelten. Ein Abbruch ist ein Scheitern. 

Wir haben von daher Grund zur Bitte um Vergebung und die Aufgabe, das entstandene Problem in der bestmöglichen, menschlichsten, anständigsten Weise zu lösen im Respekt vor dem Partner, der Partnerin und der damals in Liebe eingegangenen Beziehung.

Mit seiner Betonung der Unverbrüchlichkeit der Ehe - wie ja auch mit seiner ganzen Bergpredigt - hat Jesus die ethischen Maßstäbe so hoch angesetzt, dass für Selbstgerechtigkeit und Selbstrechtfertigung kein Raum mehr bleibt. Die Rechtfertigung, die Annahme als geliebte Sünder, kann uns nur von höherer Warte zuteil werden - durch den liebenden und vergebenden Schöpfer selbst.

Das ist die Paradoxie unseres Glaubens. 

Gott erhalte in allen Menschen die Bereitschaft, das Wagnis der Liebe immer wieder neu einzugehen - mit Mut und Demut zugleich. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 25. Oktober 2009)

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