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Buß- und Bettag (21.11.18)


Täglich umkehren

Buß- und Bettag

16. November 1994

Offenbarungen 3,14-22


Es gibt eine Figur, eine dreiteilige Figur - Sie werden sie alle in irgendeiner Form kennen - ich habe Sie kürzlich in einer Kunstausstellung in den Deichtorhallen gesehen, in einer Ausstellung mit Werken des amerikanischen Künstlers Keith Haring - leider gab es dieses Werk nicht als Plakat - eine dreiteilige Figur, die aussagt: „Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.“ Drei Gestalten, von den sich die eine die Hände vor die Ohren, die andere die Hände vor die Augen, die dritte die Hände vor den Mund hält. Dieses kleine Kunstwerk enthält eine Kritik, eine Kritik, die die Betrachter wohl auch auf sich ganz persönlich beziehen sollen: eine Kritik an einer Haltung, von der wohl keiner ganz frei ist, und die sich zusammenfassen lässt mit den Worten: Was gehen mich die anderen an?! „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.“ 

Ich denke in diesem Zusammenhang zunächst an Zeiten der Diktatur - in unserem Land, in denen es mit Gefahr für Leib und Leben verbunden war, hinzugucken und hinzuhören und den Mund aufzumachen: Hinzusehen, wenn Menschen abgeführt wurden, nur weil sie nicht arischer Abstammung waren. Hinzuhören auf die Schreie der Gefolterten und auf die Hilferufe der Angehörigen und Einspruch zu erheben gegen Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit. Wer sich einmischte, konnte - in den Zeiten der Diktatur - selbst ganz schnell zum Opfer werden. 

Zeiten der Diktatur - das ist nicht nur Vergangenheit - das ist auch Gegenwart, zum Glück nicht in unserem Land, aber doch in vielen Teilen der Erde. 

„Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ - diese Haltung gibt es aber nicht nur unter dem Druck der Diktatur und nur erpresst durch die Drohung mit Gewalt. Manche oder sogar viele Menschen, durchaus gutwillige Menschen, haben aber resigniert - und vielleicht ist das die Mehrheit unter uns: Sie fühlen sich wie gelähmt durch eine Ohnmacht, die sich auch in einem freien Land, in den Ländern des Wohlstands und der Meinungs- und Pressefreiheit finden lässt: Die täglichen Bilder der Hungernden, die Berichte über Krieg und Bürgerkrieg, über Flüchtlinge, über Obdachlosigkeit, über Umweltprobleme - sie sind uns schon fast zu viel - und was soll man angesichts des vielen und nicht enden wollenden Elends noch sagen und tun, wo doch schon so vieles und immer wieder gesagt und getan worden ist?!

Wir können, so empfinden das viele Menschen, das Übermaß an Nöten kaum noch verkraften, die Medien bringen uns zu viele Bilder, zu viele Berichte von Not und Elend in der Welt, täglich neu, unaufhörlich. Wir können uns nicht jede Not zu Herzen nehmen, können nicht jedem Aufruf folgen, können nicht immer wieder protestieren, uns engagieren ... wir wären überfordert.

„Was gehen mich die anderen an?!“ - das ist aber auch eine Haltung der Bequemlichkeit: „Ich habe mein Auskommen, mir geht es gut, sollen die anderen sehen, wie sie zurechtkommen!“ Manche sind einfach bequem geworden. 

Neben der Bequemlichkeit und der Resignation gibt es schließlich auch noch eine Art innerer Schere, hervorgerufen durch eine verdeckte Einschüchterung, die oftmals vielleicht weder gewollt ist noch bemerkt wird. Wenn engagierte kritische junge Leute als Spinner bezeichnet werden, weil sie mit ihren Aufrufen und Forderungen vielleicht tatsächlich über das Ziel hinausgeschossen sind, oder wenn gesellschaftspolitisches Engagement einfach nicht mehr „in“ ist, dann kann dies die innere Kraft lähmen, dann unterlassen wir schließlich das, was uns eigentlich wichtig erscheint. 

Mit der Bequemlichkeit, mit der Resignation, mit der Schere im Kopf und mit der Ängstlichkeit möchte ich mich nicht abfinden. Wir alle dürfen uns damit nicht abfinden. Es ist zwar richtig und wichtig sich einzugestehen, dass wir die Welt im Wesentlichen nicht verändern können. Und wir werden auch den Menschen in seiner Art im Wesentlichen nicht verändern können. Aber diese Einsicht darf uns weder als Entschuldigung dienen, noch sollen wir uns durch sie lähmen lassen. Die Einsicht in die - ich sage das mal etwas salopp - in die weitgehende Unverbesserlichkeit der Welt und des Menschen soll uns nur davor bewahren, dass wir uns übernehmen, dass wir von falschen Voraussetzungen ausgehen, dass wir uns Hoffnungen machen, die sich nicht erfüllen können. Die Einsicht in die Grenzen der Veränderbarkeit von Welt und Mensch soll uns davor bewahren, dass wir nach allzu großen Hoffnungen schließlich in eine abgrundtiefe Verzweiflung stürzen oder am Ende der Welt und dem Menschen - und dem Schöpfer selbst - mit Hass und Groll und Zynismus begegnen. 

Wir sollen tun, was wir können, den Rest aber, das Gelingen und die Vollendung, sollen und dürfen wir getrost in die Hand Gottes legen.

Ich weiß nicht, mit welcher inneren Einstellung der Künstler die Menschen betrachtet, deren Haltung er in den drei Gestalten dargestellt hat: „Nicht hören, nicht sehen, nicht reden“. Für mich ist die Einstellung zum Menschen wichtig, die sich aus dem Neuen Testament unserer Bibel ergibt: Da verbindet sich nämlich eine ungeschminkte, ungeschönte Sicht des Menschen mit einer sehr liebevollen Einstellung, in dem Sinne etwa - ich sage das der Einfachheit halber wieder etwas salopp: „Du, Mensch, bist zwar nicht so, wie du sein sollst, und du sollst dich auch bessern. Ich mag dich aber trotzdem so, wie du bist.“   

Wir fassen den Inhalt des Neuen Testaments auch zusammen als „die frohe Botschaft“. Die frohe Botschaft ist eben die, dass der Mensch mit all seinen Unzulänglichkeiten dennoch sehr liebevoll betrachtet wird. Dies ist das, was zuerst gesagt werden muss, wenn wir uns den Menschen anschauen, den Menschen mit all seinen Schattenseiten. Ich kann diese drei Figuren - „Nicht hören, nicht sehen, nicht reden“ nicht aus einer Haltung der Geringschätzung, der Verachtung, des Zynismus heraus betrachten. Natürlich verkörpern die drei Gestalten Einstellungen, die wir missbilligen und missbilligen müssen, aber immer von einer liebevollen Grundhaltung aus - in dem Sinne etwa, wie wir das Verhalten unserer eigenen Kinder in vielfacher Weise nicht gutheißen können und unsere Kinder kritisieren und sie zurechtzubiegen versuchen durch allerlei Erziehungsmaßnahmen - und sich damit dennoch nichts daran ändert, dass wir sie gern haben. Ja, oftmals ist unser Zorn, unsere Zurechtweisung und sind die Strafen, die wir unseren Kindern auferlegen, geradezu der Ausdruck unserer Liebe, der, so kommt es mir manchmal vor, fast verzweifelte, hilflose Ausdruck unserer Liebe zu den Kindern. In diesem Sinne ist auch der Satz in unserem Predigttext zu verstehen: „Welche ich liebhabe, die strafe und züchtige ich.“ „Welche ich liebhabe“ - diesen Vorspann dürfen wir nicht überhören, diesen Vorspann müssen wir erst einmal zur Kenntnis nehmen und ganz ernst nehmen und glauben, dann können wir uns auch dem anderen zuwenden, worum es in dem Text heute vor allem geht: der Kritik am Menschen und dem Aufruf zur Umkehr. 

Was wir in der Offenbarung des Johannes an Kritik am Menschen lesen, macht uns deutlich: Die Menschen damals waren auch nicht besser als die Menschen heute; und auch die Christen waren damals nicht besser als Christen heute. Johannes kritisiert die Menschen einer christlichen Gemeinde, der Gemeinde in Laodicea, einem Ort in der heutigen Türkei. Diese Stadt war damals bekannt gewesen als blühende Handelsstadt mit etlichen Banken und einer Ärzteschule und einer, wie wir heute sagen würden „pharmazeutischen Industrie“ - es wurden Heilsalben exportiert. Ein Erdbeben hatte die Stadt im Jahre 60/61 zerstört. Die Bürger bauten ihre Stadt ohne fremde Hilfe rasch wieder auf und führten sie zu neuer Blüte. Es gab dort einen Wohlstand mit den Verführungen, die uns eben auch nicht unbekannt sind: dass nämlich manche sich allzu satt und selbstgenügsam gaben und mehr auf die Vermehrung ihres eigenen Wohlergehens sahen als auf die Not der anderen. Die Kritik des Johannes an der Gemeinde von Laodizea ist hart: „Ich kenne euch und euer Handeln“, sagt er. Ihr sagt: „,Wir sind reich und haben satt zu essen, mehr brauchen wir nicht.‘ Ihr seid lau, ihr seid weder warm noch kalt - ich könnte euch ausspeien aus meinem Mund.“

Das ist eine ziemlich harte Kritik. Und Johannes fährt fort - er spricht im Namen des erhöhten Christus: „Kauf bei mir das Gold, das dich wirklich reich macht, und zieh dir lange weiße Kleider an, um deine Schande zu bedecken, und lass dir Augensalbe verschreiben, die deine Blindheit für die Nöte der Mitmenschen heilt. Mach dich auf und tu Buße. Wer Ohren hat, der höre!“

Johannes geht mit der Ichbezogenheit der Christen von Laodizea hart ins Gericht. Er kritisiert sie im Namen Jesu Christi, im Namen Gottes, der will, dass es allen Menschen gut gehe. Wir dürfen und sollen die Kritik des Johannes auch auf uns beziehen. Darum befassen wir uns ja mit diesem Text - nicht weil es so interessant ist zu hören, wie die Menschen damals waren, sondern weil wir heute auch nicht besser sind und auch wir des Tadels, der Ermahnung, der Wegweisung und des Aufrufes zur Umkehr bedürfen. Wir bedürften dieses Aufrufes täglich, wir als Einzelne und wir als Gesellschaft.

Wir können und sollen uns jeden Tag von neuem selbst zusammenreißen und uns sagen: „Heute will ich mich bessern.“ Wir brauchen aber auch den Anstoß von außen. Wir brauchen die Kritik von außen, wir brauchen die Orientierung von außen - nämlich im Gespräch mit anderen - und wir brauchen auch die Vergebung von außen: dass wir hindurchgetragen werden durch unser Scheitern und Versagen und zum neuen Anfang immer wieder neu ermutigt werden.

Es ist eine überaus sinnvolle Einrichtung, dass wir im Laufe des Jahres einen Tag haben, der ausdrücklich die „Umkehr“ zum Thema macht. Ein solcher Feiertag wie der Bußtag ist wie ein Leuchtturm, der uns beides signalisiert, der uns zum einen warnt und ermahnt: „Vorsicht, aufgepasst, da sind Gefahren, wähle den richtigen Weg, sonst wirst du Schiffbruch erleiden.“ Der uns zum anderen auch wissen lässt: „Wir wollen, dass du heil und gesund bleibst, dass du ohne Schaden deinen Weg durch das Leben findest.“ 

Wir als Einzelne, wir als Gesellschaft und wir als ganze menschliche Gemeinschaft sind schon in vieler Hinsicht beschädigt, sind schon vielfach gescheitert, sind schon vielfach schuldig geworden. Wir dürfen einander nicht allein lassen, wir müssen einander wahrnehmen, sehen, wie es dem anderen ergeht, hören, welche Nöte er hat, und uns einsetzen für sein Recht und sein Wohlergehen. Wir brauchen hierfür Orientierungsmarken, wir brauchen Ermahnungen, nachdrückliche und liebevolle Ermahnungen. Wir brauchen die Gemeinschaft, auch die Gemeinschaft der Sünder, die ja zugleich die Gemeinschaft der Heiligen ist, die Gemeinschaft derer, die Gott heilig sind, die von Gott geliebt sind und die Gott in seiner Liebe nicht fallen lässt. 

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 16. November 1994)

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