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Rogate (5.5.24)


Loslassen und empfangen

27. Mai 1984

Rogate

2. Buch Mose 32,7-14


Oben auf dem Berg Sinai ist Mose im Gespräch mit Gott. Unten am Fuße des Berges der Bruder des Mose, Aaron, und der Rest des Volkes. Sie warten ungeduldig auf Moses‘ Rückkehr. Sie verlieren schließlich die Geduld. Sie schaffen sich ein Abbild Gottes, das goldene Kalb. 

Beides sollen wir heute bedenken, beide Formen, Gott zu begegnen und mit ihm umzugehen. Die Art des Mose und die Art Aarons. Oder wie Dietrich Bonhoeffer, der vor genau 50 Jahren, am 28. Mai 1934 über eben dieses Kapitel gepredigt hat, sagte: „Die Kirche Moses und die Kirche Aarons, die Kirche Gottes und die Kirche der Welt.“

Schauen wir zunächst einmal auf den Berg hinauf und hören uns das Zwiegespräch der beiden an: Gott und Mose. Ein solches Zwiegespräch zwischen Mensch und Gott nennen wir Gebet. Am heutigen Sonntag Rogate – „Betet, bittet“ – ist uns aufgetragen, hierauf einige Gedanken zu verwenden.

Das Gespräch beginnt mit einer Information und einem Auftrag Gottes an Mose: „Steig schnell hinunter; dein Volk, das du aus Ägypten herausgeführt hast, läuft ins Verderben.“ Wir ahnen nichts Gutes, wenn wir diese Formulierungen hören; wir spüren die Missstimmung Gottes. So wie der Ehemann im Ärger über seine ungezogene Tochter zu seiner Frau sagt: „Deine Tochter, die hat mal wieder …“ Da mag Kritik am anderen mitschwingen, aber vor allem ist es die Distanz gegenüber dem Kind, das doch auch das eigene ist. Gott distanziert sich von seinem Volk: „Dein Volk, Mose, das du aus Ägypten herausgeführt hast.“ Mit dieser distanzierten Redeweise zieht Gott die Konsequenz aus dem Verhalten des Volkes im Tal, dass sich von ihm abgewandt hat, das seine Gebote missachtet. Der Unmut Gottes entlädt sich schließlich in einer heftigen Drohung: „Ich will meinen Zorn über sie ausschütten und sie vernichten. Versuche nicht, mich davon abzubringen!“

So menschlich, allzu menschlich, wie hier die Regungen Gottes beschrieben werden, so setzt sich dieses Gespräch nun in der Antwort Moses fort. Mose versucht, Gott umzustimmen. Er gibt, wie man sagt, den Ball zurück: „Ach, Herr, warum willst du deinen Zorn über dein Volk ausschütten, das du eben erst aus Ägypten herausgeführt hast?“

Mose argumentiert. Er verweist auf das bisherige Handeln Gottes an seinem Volk, für das er, Gott, doch schon so viel Gutes getan hat, dem er so Großes verheißen hat und das sich in manchem auch schon verständig gezeigt hat. Was würden die Ägypter wohl sagen, wenn Gott sein Volk erst rettet und es dann vernichtet?! Mose argumentiert und redet menschlich mit Gott. So, wie es in einem Gebet ja auch gehen soll.

Nur dürfen wir nicht vergessen, dass Gott Gott bleibt, und dass wir durch unser menschliches Reden mit ihm ihn nicht auf unsere menschliche Ebene herabziehen können. Das Gespräch zwischen Mose und Gott endet damit, dass Gott sich von Mose umstimmen lässt. Es wäre sicherlich abwegig, die Moral von der Geschicht nun darin zu sehen, dass das Reden mit Gott sich lohnt, wenn wir uns nur geschickt genug anstellen, wenn uns nur die richtigen Argumente einfallen. Das Gebet ist in diesem Sinne kein Mittel zum Zweck, kein Instrument, kein Hebel, mit dem wir etwas bewegen können, mit dem wir Gott bewegen können.

Wir können Gott nicht für unsere Zwecke einspannen, er fügt sich nicht in unsere Pläne ein. Wir können ihn uns nicht nicht gefügig machen. Gott handelt in vollkommener Freiheit, in göttlicher Freiheit und Allmacht.

Wenn wir beten, bringen wir damit allerdings unser Vertrauen darin zum Ausdruck, dass wir nicht einen willkürlichen Gott haben, dass wir nicht nur Spielball des Schicksals sind. Wir vertrauen darauf, dass unser ganzes Tun und Reden und Denken, unser Wollen und Wünschen, unsere Ängste und Hoffnungen, unsere Trauer und unsere Freude vor Gott Beachtung finden, dass er in seiner Art darauf eingeht, dass unser Leben in seinem Plan einen guten Sinn hat, dass er uns nach seinem Willen zu einem guten Ende führt.

Manch Außenstehender mag dies für kindlich-naives Vertrauen halten und solchen Glauben belächeln. Aber erst in einem so persönlichen Verhältnis zu Gott, in einem solch persönlichen Verhältnis zu dem Grund unseres Seins, zu dem Lauf unseres Lebens, können wir zur Ruhe kommen in dieser von unsichtbaren Mächten bewegten Welt. Erst in einem solch persönlichen Vertrauensverhältnis können wir die Tatsache annehmen, dass wir aus dem Unergründlichen herkommen und in das Unvorhersehbare hineingehen und uns auch die Vorgänge unseres Lebens in ihrem letzten Sinn verborgen bleiben.

Eine solche Vertrauensbeziehung zu dem Grund unseres Seins ist keine wissenschaftlich begründete oder begründbare Haltung. Aber es ist eine Haltung, die ihre heilsame Kraft da erweist, wo sie gelebt wird.

Es ist heilsam zu bitten, denn wir würden die Wirklichkeit unseres Lebens verfehlen, wenn wir meinten, wir könnten uns alles selbst geben, was wir brauchen, uns selbst verdienen und selbst erarbeiten. Wir leben im Wesentlichen von dem, was uns gegeben wird. Zu allem leisten wir nur einen geringen eigenen Beitrag. Oft besteht dieser nur darin, dass wir das uns Gegebene annehmen.

Es ist heilsam, Fürbitte zu halten. Denn wir können das Schicksal der Welt nicht tragen. Es ist entlastend, hintreten zu können und sagen zu können: „Herr, der du alles geschaffen hast und alles in deinen Händen hältst, wir bringen vor dich all unsere Probleme, die Nöte der Welt und unsere eigenen. Wir bringen vor dich, was wir mit unseren kleinen Kräften und trotz unseres guten Willens nicht schaffen und nicht lösen können.

Es ist auch heilsam zu danken. Denn nichts, was uns gegeben ist, ist etwas Selbstverständliches. Jede Kleinigkeit ist ein wunderbares Geschenk. Darum ist nicht der Tod das Besondere, sondern das Leben. Und nicht, dass uns etwas genommen wird, sollte unser Gemüt vorrangig bewegen, sondern dass uns etwas gegeben war.

Wir kehren zurück zu Mose, zu seinem persönlichen Gespräch mit Gott. Wir blicken vom Berg hinab ins Tal. Dort sind die anderen. Die, denen Gott zu fern, zu abstrakt, zu wenig anschaulich, zu wenig greifbar ist. Und die doch ganz ohne Gott nicht auskommen, die auch ihre religiösen Bedürfnisse haben und nach Halt und Vergewisserung und Führung suchen. Aaron geht ganz auf Ihre Bedürfnisse ein. Sie sind bereit, Opfer zu bringen. Sie geben Ihre wertvollsten Dinge her – Gold – und formen sich daraus ihr Abbild Gottes. Das ist ihr Gott, das Werk ihrer eigenen Hände, ihres Opfers, ihrer Leistung. So haben sie den fernen Gott zu sich herangeholt und vor sich hingestellt. Sie können ihn anschauen und anfassen und hinstellen und wegstellen. Doch liegt darin eine große Selbsttäuschung. Gott wird nicht verfügbar. Das Kalb kann zertreten, zerstört werden. Mose hat es getan. Er hat es eingeschmolzen und zu Staub zerrieben und mit Wasser vermischt und den Israeliten zu trinken gegeben. Damit ist wieder alles beim Alten. Die drängenden Fragen sind wieder da - nach dem Grund unseres Lebens, dem Sinn, dem Ziel, dem Woher und Wohin und Wie und Warum. 

Aarons Kirche, die Kirche der Welt, ist die Kirche der Befriedigung religiöser Bedürfnisse. Wir erkennen darin wohl unsere Volkskirche wieder. Rituelle Handlungen werden abgefordert an den Schaltstellen des Lebens. Moses Kirche, die Kirche Gottes, ist die Kirche, in der Gott lebendig ist als „der ganz Andere“, der von außen zu uns herkommt, unser ganzes Leben in Anspruch nimmt. 

Der Gott Moses ist ja durchaus nicht in der Ferne geblieben. Unserem Verlangen nach Anschaulichkeit hat Gott selbst entsprochen. In Christus hat er Gestalt angenommen. Aber zwischen dem goldenen Kalb und Christus liegen Welten. Das eine ist ein Werk des Menschen, der andere ist der Sohn Gottes. Das eine ist ein Spiegelbild unserer selbst, der andere ist ein Abbild Gottes. Das goldene Kalb ist nur das, was seine Erschaffer da an Material und Wünschen und Sehnsüchten hineingesteckt haben. In Christus begegnet uns die umfassende Wirklichkeit Gottes. Das Kalb ist tote Materie. In Christus begegnet uns der lebendige Gott. Das Vertrauen in den Grund unseres Daseins, das persönliche Verhältnis zu unserem Sein hat in Christus eine neue, festere Grundlage erhalten. Beim Gespräch mit Gott haben wir ihn vor Augen. In seiner Güte, Gnade und Barmherzigkeit wissen wir alle unsere Probleme aufgehoben. Ihm tragen wir gern und zuversichtlich alles an, was uns bewegt, das Schwere und Schöne. Und was er daraus macht, das nehmen wir an.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 27. Mai 1984)

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