Ostern, das geistige Weihnachten
Es geht heute noch einmal um das Osterthema, um die Auferstehung Jesu, kein leichtes Thema. Der „ungläubige Thomas“ ist geradezu zum Sprichwort geworden. Irgendwie befinden wir uns alle mehr oder weniger in seiner Situation, was Ostern anbetrifft: Da wird uns etwas ziemlich Ungewöhnliches berichtet und wir sollen’s glauben. Unser geheimer Wunsch ist: Könnte es doch jemand beweisen, dass das mit der Auferstehung stimmt!
Aber mit dem Beweisen hat es seine Grenzen. Thomas möchte nur glauben, was er auch sehen kann, was er auch anfassen kann. Nur die begreifbare Realität, im wörtlichen Sinne „begreifbare“ Realität ist für ihn real. Damit hat er, wie ich finde, einen untauglichen Ansatz. Denn das Leben besteht nun mal auch aus vielem, was man nicht anfassen kann, was nicht im wörtlichen Sinne „begreifbar“ ist und das wir dann anders als mit unseren Händen zu begreifen versuchen müssen, mit unserem Herzen z. B, mit unseren Gefühlen, mit unserer Intuition.
Thomas hat mit seinem Ansatz keine Chance. Jesus lässt ihn zwar sehen und anfassen. Jesus hält ihm seine Hände hin und sagt: „Guck her, fass mal an – die beiden Löcher, durch die die Nägel gegangen sind am Kreuz.“ Und er sagt: „Fass hier mal an, an meiner Seite, wo die Soldaten mit ihrer Speerspitze reingestochen haben.“ – Jesus lässt Thomas zwar sehen und anfassen, aber das ist eigentlich wenig beweiskräftig, ja, das ist eher verwirrend und irreführend, denn nun könnte Thomas – und wir mit ihm – ja denken, dass der Auferstandene der Jesu von damals ist, die Gestalt aus Fleisch und Blut von vorher. Thomas – und wir mit ihm – könnten denken: Ach, die haben den Jesus umgebracht, sie haben sein Herz zum Stillstand gebracht und haben ihn ins Grab gelegt, und dann fing sein Herz aber plötzlich wieder an zu schlagen, und dann hat jemand den Stein vom Grab wegrollt, und Jesus ist wieder losgelaufen und hat praktisch weitergemacht, wo er vor drei Tagen aufgehört hatte.
Wenn Thomas das denkt – und wir mit ihm –, und auf diese Fährte wird er ja durch die handgreiflichen Beweise gebracht, dann wird er – und wir mit ihm – irregeführt. Es ist eigentlich schon eine große Irreführung, dass der Stein vom Grab weggerollt war. Das Grab – das war eine kleine Höhle – war mit einem großen Stein verschlossen worden. Als dann die Frauen am frühen Morgen zum Grab kommen, sehen sie, dass der Stein zur Seite gerollt ist. Ein Engel habe den Stein zur Seite gerollt, heißt es bei Matthäus.
Eine solche Aussage verführt zu der Annahme, Jesus wäre da sonst nicht rausgekommen – mit seinem wieder zum Leben erweckten Körper aus Fleisch und Blut. Aber das ist eine Irreführung unserer Gedanken. Das passt auch gar nicht zu anderen Aspekten der Auferstehungsberichte, wo es heißt, wie z. B. auch in der Thomasgeschichte: Alle Türen waren verschlossen – die Fenster natürlich auch – und Jesu stand plötzlich mitten unter ihnen. Ja, wie kann das denn angehen?! Das geht doch nicht mit Fleisch und Blut – mit einem Körper, der eben seinen Platz braucht, um irgendwo reinzukommen.
Dieser Teil der Auferstehungsberichte macht uns doch klar, dass der auferstandene Jesus nicht mit dem Jesus von vorher, dem aus Fleisch und Blut, identisch ist. Bei Jesus ist nicht einfach wieder der Kreislauf in Gang gekommen. Der Auferstandene ist vielmehr ganz anders als vorher. Das wird auch noch an anderen Aspekten der Auferstehungsgeschichten deutlich.
Die beiden Jünger, die sich auf dem Weg nach Emmaus befinden und unterwegs einen Dritten treffen und dem erzählen, was sie in den letzten Tagen erlebt haben, erkennen diesen Dritten nicht. Erst als sie gemeinsam beim Abendessen sitzen und der Fremde das Brot bricht, gehen ihnen die Augen auf, und sie merken: Das ist ja Jesus, der da mit uns am Tisch sitzt und der den Weg mit uns gegangen ist.
Auch dieser Bericht macht doch deutlich, dass Jesus ganz anders aussah als vorher und eben nicht einfach derselbe war. Und so ist es ja auch in unserem heutigen Predigttext, in der Szene am See Tiberias, wo die Jünger zum Fischen rausfahren, nichts fangen und sich mit ihrem leeren Boot dem Ufer nähern und da einen Mann stehen sehen, der offenbar gerade gern frühstücken möchte und neben seinem Brot offenbar auch noch gern ein wenig Fisch essen würde, und der die Jünger auffordert, noch einmal hinauszufahren und es noch ein weiteres Mal zu probieren. Erst als die Jünger dann bei diesem zweiten Versuch erfolgreich sind und das Netz von Fischen geradezu überquillt, wird ihnen klar, wer der Mann am Ufer ist: „Es ist der Herr.“ Ja, warum haben sie ihn vorher nicht erkannt? Weil er nicht aussah wie der Jesus, mit dem sie bis zur Kreuzigung durch das Land gezogen waren.
Das müssen wir ganz klar zur Kenntnis nehmen. Der Auferstandene ist nicht einfach der wiederbelebte Jesus. Der Auferstandene ist nicht der Jesus aus Fleisch und Blut von vorher. Es wäre vielleicht besser gewesen, der Stein hätte noch vor dem Grab gelegen und das Grab wäre noch verschlossen gewesen, als die Frauen kamen, und der Leichnam Jesu hätte noch drin gelegen und Jesus wäre dann als der Auferstandene erschienen, dann wäre schon an dieser Stelle klar gewesen: Zwischen dem leiblichen Jesus und dem auferstandenen Jesus gibt es einen Unterschied.
Eines versuchen uns die Osterberichte jedenfalls zu vermitteln – und das zu verstehen müssen wir uns eben bemühen: Jesus ist wieder lebendig, er ist wieder da und wirkt weiter, er ist wieder da, in anderer Form zwar, in anderer Gestalt, aber doch gleichgeblieben in seinem Wesen. Das ist gewiss schwieriger zu verstehen als das Weihnachtsereignis. Zu Weihnachten wird Jesus als Kind aus Fleisch und Blut geboren. Das ist zwar auch alles etwas legendenhaft beschrieben, aber das ist anschaulich und mit unserer täglichen Erfahrung schon eher in Einklang zu bringen.
Ostern gelangt Jesus ein zweites Mal ins Leben, er wird, so könnten wir sagen, noch einmal geboren – diesmal aber nicht leiblich, sondern in einer überkörperlichen Weise, in einem geistigen Sinne: Ostern, so könnten wir sagen, ist das geistige Weihnachten – auch ein Fest der Geburt, aber der Geburt von jemandem, den wir nicht mit Händen anfassen können, sondern den wir nur mit unserem Herzen begreifen können, den wir nur glauben können.
Während das Jesuskind aus dem warmen Mutterleib herausgeboren worden war, wird der Auferstandene nun aus dem Grab heraus geboren.
Diese zweite Geburt ist von einer anderen Art als die erste, und dieses zweite Leben hat eine andere Qualität als das erste. Das bedeutet nicht, dass dieses zweite Leben mit dem ersten nichts zu tun hätte. Im Gegenteil. Ich behaupte: Jeder von uns kann dieses zweite Leben jetzt und hier führen. Eine Hamburger Theologin hat das mal auf den Punkt gebracht, als sie sagte: „Man muss einmal gestorben sein, um dann wirklich leben zu können.“
Leben und Leben ist nicht unbedingt dasselbe. Das Leben des Auferstandenen ist ein anderes Leben als das des Jesus von vorher. Diesen Wandel von dem einem Leben zum anderen versuchen wir in der Kirche rituell nachzuvollziehen durch die Taufe. In der Taufe sterben wir mit Jesus, und wir werden neu geboren zu einem neuen Leben in einem neuen Sinne. In welchem Sinne? Im Sinne des Wirkens und Wesens Jesu: im Sinne der Liebe zum Menschen und zur ganzen Schöpfung, im Sinne der Vergebung, der tätigen Hilfe gegenüber den Schwachen und im Sinne der Hoffnung auf einen Sieg des Friedens über alle zerstörerischen Kräfte.
Nehmen wir noch einmal die Szene am See Tiberias: Die Jünger waren während der Nacht hinausgefahren zum Fischen. Sie hatten nichts gefangen. Sie waren enttäuscht. Sie meinten schon, ihre Erfolglosigkeit hinnehmen zu müssen. Und dann steht da der Fremde, der zum Frühstück doch gern noch ein paar Fische hätte. Der sagt: „Fahrt nochmal raus, probiert’s noch einmal.“ Eigentlich musste ihnen diese Aufforderung nutzlos erscheinen. Aber sie tun es doch, irgendwie angetrieben durch diesen geheimnisvollen Fremden am Strand. Und gegen alle Erwartung füllt sich das Netz zum Bersten.
Sie hatten schon befürchtet, mit leeren Händen nach Hause kommen zu müssen, und nun haben sie reichlich für ihre Familien und haben noch übrig für andere. Sie hatten gedacht, am Ende zu sein. Und nun geht es erst richtig los.
Diese Szene am See Tiberias könnte ich weiter ausmalen in ihrer übertragenen Bedeutung. Das können Sie aber auch selbst machen. Ich möchte nur dies unterstreichen: Auch hier verwandelt sich ein Ende in einen Anfang. So wie das Grab Jesu zur Stätte der Geburt wurde, zum Anfang eines neuen Lebens, so öffnet sich die Sackgasse des Lebens für die Jünger, und es tut sich ein neues weites Feld auf. Das ist ihnen zunächst etwas unheimlich. Das ist so ähnlich wie ich es vor ein paar Tagen erlebt habe: Einer, der schon seit vielen Jahren arbeitslos ist, hat eine Anfrage bekommen, ob er sich nicht fest einstellen lassen möchte. Dieses Glück ist auch ihm etwas unheimlich und er schwankt zwischen Freude und Angst, weil dieses neue Glück so gar nicht hineinpasst in seine bisherige Lebenserfahrung.
Aber unsere oftmals deprimierende Lebenserfahrung darf uns nicht runterreißen und uns unten liegen lassen. Lassen wir uns durch den Auferstandenen ansprechen und aufrichten, lassen wir uns Mut machen und ergreifen wir das Leben neu mit Lust und Vertrauen und setzen wir alles daran, es in seinem Sinne, im Sinne Jesu Christi, zu gestalten.
Jesus Christus lebt, seine Kraft des Lebens und der Liebe ist unter uns lebendig und begegnet uns allenthalben in guten Worten und Taten, in Menschen, die uns Liebe schenken und uns zur Liebe herausfordern.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 11. April 1999)