Predigt, Predigten, Predigtsammlung, Bibelauslegung, Andachten, Morgenandachten, Wochenspruch, Wochensprüche, Hoheluft, Hamburg-Hoheluft, Wolfgang Nein, St. Markus

5. Sonntag nach Ostern (9.5.21)


Das Gebet

9. Mai 2010

Rogate

1. Timotheus 2,1-6a


Das Gebet. „Not lehrt beten“, sagt der Volksmund. Das stimmt zwar nicht immer. Es gibt auch den anderen Satz: „Not lehrt fluchen“ – aber wahr ist eben dies: Manchmal haben wir die Dinge des Lebens nicht mehr in der eigenen Hand. Das kann uns traurig machen – oder gar wütend. Das kann uns aber auch demütig machen. 

Manche versuchen, das Heft des Handelns dann doch noch in den Griff zu bekommen, indem sie z. B. aus der Kirche austreten, um auf diesem Wege denjenigen zu bestrafen – den Unbegreifbaren, der sie krank gemacht hat, der sie arbeitslos gemacht hat, der all ihre Mühe zunichte gemacht hat, der ihnen einen lieben Menschen weggenommen hat. Aber das ist nur eine momentane Ersatzhandlung, die an dem Grundtatbestand nichts ändert: Unsere Handlungsmöglichkeiten sind begrenzt. Wir haben die Dinge des Lebens nur sehr bedingt in der eigenen Hand. 

Wir können dagegen rebellieren. Aber in einer Dauerrebellion lässt sich nicht gut leben. Wir können unsere Wut hinausschreien. Wir können klagen. Das mag unsere Seele für eine kleine Zeit entlasten. Auch Hiob hat geklagt. Auch Jesus selbst: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!“ Die Klage ist einfach menschlich. Aber sie darf kein Dauerzustand sein. Das wäre weder gesund, noch würden wir damit dem Leben gerecht. 

Dass wir die Dinge des Lebens nicht selbst in der Hand haben, hat nicht nur seine negativen Seiten. Im Gegenteil! Wir erleben umgekehrt, dass das Größte und Schönste das ist, was wir ohne unser Zutun empfangen: dass wir geliebt werden, zum Bespiel. Wenn sich das in unserem Leben ereignet, dass uns ein Mensch begegnet, in dessen Gegenwart unser Herz höher schlägt, und der seinerseits das Bedürfnis hat, uns immer wiederzusehen und mit uns zusammenzusein, der uns mag und liebt und nicht mehr ohne uns sein möchte – wenn sich so etwas in unserem Leben ereignet, dann ist das doch im wahrsten Sinne des Wortes „wunderbar“. Dann ist doch etwas geschehen, was wir nicht selbst gemacht haben. Dann sind wir mit etwas Wunderbarem beschenkt worden. Und dann ist doch Feiern angesagt – und ein Moment der Besinnung, in dem wir uns an den großen Unbegreifbaren wenden, wie immer wir ihn nennen wollen, an denjenigen, der jenseits alles menschlich Möglichen ist und der die geheimnisvolle Quelle von allem ist, und ihm sagen: „Dankeschön! Danke für das Geschenk der Liebe!“ 

Nicht nur Not lehrt beten. Auch Glück kann beten lehren. Es heißt zwar: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.“ Das stimmt aber nur ein bisschen. Wenn wir glücklich sind, dann haben wir vielmehr auch Grund, die Hände zu falten und Dank zu sagen: „Danke, lieber Gott.“

Nachher werden wir noch Kinder taufen. Taufgottesdienste sind auch Dankgottesdienste. Wenn ein Kind geboren wird, ja, schon vorher: Wenn eine Frau schwanger wird – und noch weiter davor: Wenn sich überhaupt der Wunsch regt: „Wir möchten ein Kind bekommen“, dann müsste sich selbst bei dem Unfrömmsten eine Ahnung davon auftun, dass es hierbei um etwas geht, was mit menschlicher Machbarkeit nur sehr begrenzt zu tun hat. Das Leben ist nicht machbar. Das Entstehen von Leben ist nicht machbar. Wir können ein wenig dazu beitragen. Aber wenn wir schließlich tatsächlich ein Neugeborenes in den Händen halten, dann können wir nur dankbar staunen und staunend danken. An wen können wir dann unseren Dank richten? „Danke, liebe Natur, dass du uns ein Kind geschenkt hast?“ Die biblischen Generationen bieten uns hierfür andere Formulierungen und andere Bilder an.

Sie beschreiben die Quelle des Lebens auf eine sehr persönliche Art: Gott, der Schöpfer, der Vater aller Menschen. Manchmal vergleichen sie Gott auch mit einer Mutter. Das macht auch Sinn. Dass gerade die Mütter beim Entstehen und Werden des Lebens eine bedeutsame Rolle spielen, das sei am heutigen Muttertag mit großer Dankbarkeit vermerkt. 

Die biblischen Begriffe und Bilder sind nur Versuche, den Urgrund allen Seins, die Quelle des Lebens und auch die Quelle der Liebe zu beschreiben. Es sind Versuche, zum Ausdruck zu bringen, was sehr geheimnisvoll und unbegreiflich ist und immer bleiben wird.

Diesem geheimnisvollen Urgrund von allem sagen wir bei einer Taufe in sehr persönlicher Weise Dank: „Danke, Gott, für das Geschenk des Lebens.“ 

Das Reden mit Gott nennen wir Beten. Es geht heute ums Beten. Denn der heutige Sonntag heißt „Rogate“, d. h. auf Deutsch: Betet. Wir können klagend zu ihm beten: „Warum hast du mir das angetan?“ Wir können dankend zu ihm beten: „Danke für das Geschenk des Lebens, Danke für das Geschenk der Liebe!“ Wir können auch bittend zu ihm beten: „Hilf, Gott, dass dies und das geschehe!“

Mancher sagt vielleicht: „Bete nicht, sondern tu was!“ Aber so, wie das Leben konstruiert ist, sollten wir Handeln und Beten nicht gegeneinander stellen. Vielmehr ist beides sinnvoll und nötig, so wie die Lateiner sagen:  „Ora et labora“ – „Bete und arbeite“. Wir dürfen das Beten nicht absichtlich und leichtfertig als Ersatz für eigenes Handeln nehmen. Ich kann mich nicht die Woche über in die Sonne legen und am Sonntagmorgen um zehn Uhr beten: „Lieber Gott, gib mir vernünftige Worte in den Mund, damit daraus jetzt eine ordentliche Predigt wird.“ Das könnte dann sehr danebengehen. Was ich selbst tun kann, soll ich auch selbst tun. 

Aber es gibt vieles, das können wir aus eigener Kraft nicht schaffen, auch wenn wir uns noch so sehr anstrengen. Wir haben Wünsche, die können wir uns nicht selbst erfüllen, berechtigte Wünsche, Sehnsüchte, die wir alle haben. Wir alle und wohl alle Menschen auf dem Erdball – wir sehnen uns z. B. nach Frieden. „Friede auf Erden“ – wie schön wäre das! Manches können wir tun. Es gibt auch viele Menschen guten Willens. Und es gibt große, weltweite, organisierte Anstrengungen. Aber den Frieden in der Welt zu schaffen, das übersteigt das Menschenmögliche. Schon von Mensch zu Mensch friedlich mit-einander klarzukommen, ist schwer genug. Es sind ja immer wenigstens zwei beteiligt, und über den anderen können wir nicht verfügen. Auch mit uns selbst haben wir es nicht immer leicht.

Also, manchmal und in mancher Hinsicht können wir einfach nur die Hände falten und beten: „Gott, hilf, dass Frieden werde auf Erden und in unseren Herzen!“

Es macht Sinn, das zu tun, wozu uns der Apostel Paulus mit den Worten des heutigen Predigttextes auffordert: „Betet für die Könige und alle, die große politische Verantwortung tragen für unser gesellschaftliches und weltweites Miteinander!“ Über die Verantwortlichen in der Politik wird manches Kritische gesagt. Aber vor allem sollten wir dankbar dafür sein, dass sich Menschen zu solchen Aufgaben bereit erklären, die das Menschenmögliche bei weitem übersteigen. Wenn jemand ein politisches Amt antritt und die Verpflichtung auf seine Amtspflichten mit den Worten beschließt: „So wahr mir Gott helfe“, dann bekennt er sich damit öffentlich zu seinen menschlichen Grenzen. Das ist gut und angemessen. Und wir tun gut daran, die Politiker und alle anderen, die große gemeinschaftliche Aufgaben wahrnehmen, in unser Gebet einzubeziehen. 

Wenn wir gesellschaftliche Bedingungen haben wollen, unter denen wir „ein ruhiges und stilles und frommes und ehrbares Leben“ führen können, wie es fast etwas rührend in unserem Predigttext heißt, dann ist dies das Mindeste, was wir dazu beitragen können: dass wir diejenigen mit unserem Gebet unterstützen, die sich um das Gemeinwohl bemühen. 

Das Gebet ist natürlich kein Mittel zum Zweck in dem Sinne, dass wir hier etwas erreichen oder gar erzwingen könnten, was uns auf anderem Wege nicht mehr möglich erscheint. Es bringt auch nichts – und wäre unangemessen –, durch Dauerbeten zu versuchen, denjenigen doch noch auf unsere Spur und zur Erfüllung unserer Wünsche zu bringen, der jenseits aller menschlichen Möglichkeiten das uns Unmögliche vielleicht doch noch möglich machen könnte. Gott lässt sich mit dem Gebet nicht nötigen. 

Das Gebet hat seinen Sinn für uns darin, dass wir uns zu unseren menschlichen Begrenzungen bekennen und zu unserer Bereitschaft, uns konstruktiv einzulassen auf das, was wir empfangen von dem, der über allen menschlichen Möglichkeiten ist – in dem Sinne, wie wir es im Vaterunser beten: „Dein Wille geschehe.“ So ist das Gebet gemeint – nicht: „Mach, dass unser Wille geschehe!“ Sondern: „Gott, in deine Hand legen wir, was unsere kleinen Kräfte übersteigt. Nun mach du. Und hilf uns anzunehmen, was du uns schenkst, und zu tragen, was du uns auferlegst.“

Wenn wir uns so auf jemanden außerhalb unserer selbst einlassen, dass wir sagen: „Mach du, ich bin bereit anzunehmen, was von dir kommt“, dann geht das natürlich nur mit ganz großem Vertrauen. Und in diesem Fall können wir sagen: Das geht nur mit großem Gottvertrauen. 

Wir vertrauen darauf – und das ist unser Glaube, dass der himmlische Schöpfer es gut mit uns meint, dass das ganze Sein von einem guten Sinn und von seinem guten Willen durchzogen ist. 

So wie Paulus das im heutigen Predigttext formuliert: „Gott will, dass allen Menschen geholfen werde.“

Das ist unser Glaube. Und wir orientieren uns in unserem Glauben insbesondere an Jesus Christus. Er ist für uns von so zentraler Bedeutung, weil er uns hilft, mit den Irritationen fertigzuwerden, die uns das Leben und die Art des Menschen gelegentlich bereiten. Das Leben ist ja nicht nur schön, sondern auch schwer, manchmal sehr schwer. Und der Mensch ist nicht nur gut, sondern manchmal auch sehr erschreckend. Wenn wir am Leben und am Menschen irre zu werden drohen und in Zweifel geraten, in abgrundtiefe Enttäuschung und vielleicht in Zynismus zu verfallen drohen, dann kann uns der Blick auf Jesus Christus wieder erheben und aufbauen und uns helfen, das Gute und Schöne im Leben und im Menschen wieder zu entdecken.

An ihm, Jesus Christus, können wir uns im wahrsten Sinne des Wortes „orientieren“. So sind unsere Kirchen gebaut. Denn so, wie im Osten, im Orient, morgens die Sonne aufgeht und uns das Licht des Tages schenkt, so ist Christus mit seiner liebevollen Art als Licht des Lebens in die Dunkelheit unserer Welt und in unsere Herzen gekommen. 

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 9. Mai 2010)

wnein@hotmail.de    © Wolfgang Nein 2013