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6. Sonntag nach Ostern (16.5.21)


Durst nach Leben

31. Mai 1987

Exaudi

(6. Sonntag nach Ostern)

Johannes 7,37-39


Am heutigen Sonntag Exaudi befinden wir uns zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Himmelfahrt – der Abschied Jesu von seinen Jüngern, Pfingsten – die Ausgießung des Heiligen Geistes. Mit dem heutigen Sonntag ist uns – von der Bewegung des Kirchenjahres her betrachtet – also die Situation gegeben, dass zum einen die leibhaftige Anwesenheit Jesu beendet ist, zum anderen sein Dasein in Form des Heiligen Geistes aber noch nicht begonnen hat. Von dieser Situation her ist unser Predigttext zu verstehen, in dem auf den Geist Bezug genommen wird, den diejenigen empfangen sollen, die an Jesus glauben. Der Geist aber war, wie es in unserem Text heißt, noch nicht da, denn Jesus war noch nicht verherrlicht.

Über den Geist möchte ich jetzt auch keine weiteren Ausführungen machen, denn er soll ja im Mittelpunkt unseres Gottesdienstes am Pfingstfest stehen. Ich möchte jetzt viel mehr Bezug nehmen auf die Stichworte „Durst“ und „Wasser“, die in unserem Text eine zentrale Rolle spielen.

Jesus sagt: „Wen da dürstet, der komme zu mir.“ Vielleicht erinnern Sie sich bei diesem Wort an eine Begegnung Jesu mit einer Frau in Samarien, die zu einem Brunnen kam, um dort Wasser zu schöpfen. Im Verlaufe der Unterhaltung sagte Jesus zu der Frau: „Wer von diesem Wasser im Brunnen trinkt, den wird wieder dürsten. Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, dass ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.“

Jesus spricht in Bildern. Er meinte nicht den leiblichen Durst, sondern den Durst nach Leben, nach dem heilen Leben, Durst nach dem Heil, wie wir theologisch sagen. Und eben dieses hat er in seiner Person anzubieten: dieses lebendige, Leben spendende Wasser, dieses Wasser des Heils.

Mit diesen Bildern gibt sich Jesus als der von den Juden erwartete Messias, als der Christus, der Erlöser und Bringer des göttlichen Heils zu erkennen.

„Wen da dürstet, der komme zu mir“, diese Einladung spricht Jesus während des Laubhüttenfestes in Jerusalem aus. Das gibt seinen Worten eine besondere Bedeutung. Das Laubhüttenfest feiern die Juden zur Erinnerung an die vierzigjährige Wüstenwanderung nach dem Auszug aus Ägypten, als sie nur provisorisch in leichten Hütten wohnten. Zu den Ritualen dieses Festes im Jerusalemer Tempel gehörte noch zur Zeit Jesu unter anderem, das Wasser zu schöpfen. Aus der nahegelegenen Quelle Siloa holte der Priester an jedem Morgen des siebentägigen Festes eine goldene Kanne voll Wasser und brachte es – von den Pilgern umjubelt – zum Tempel, um es dort am Altar auszugießen.

Dieses Ritual des Wasseropfers sollte ein Zeichen der künftigen Gottesherrschaft sein. Denn im Alten Testament lesen wir an mehreren Stellen von der Vorstellung, dass am Ende der Zeiten, wenn Gott selbst die Herrschaft in der Welt antritt, im Tempel in Jerusalem eine Quelle entspringen wird, von der aus sich das Wasser in das ganze Land ergießen wird zum Segen aller darin lebenden Menschen.

Wenn Jesus nun gerade an diesem Fest auf sich selbst weist und sagt: „Wen da dürstet, der komme zu mir“, so will er damit sagen, dass die Endzeit, auf die das Wasserritual des Laubhüttenfestes hindeutet, dass diese Endzeit mit seiner Person nun angebrochen ist und sich das Wasserritual im Tempel damit künftig erübrige.

Jesus nutzt also die Gelegenheit des Laubhüttenfestes, um sich als der Christus, der von den Juden erwartete Erlöser zu erkennen zu geben. Einige erkannten ihn als solchen und glaubten an ihn, andere waren über seinen Anspruch verärgert.

Was haben uns die Worte Jesu zu sagen? Was ist mit dem Durst gemeint, von dem hier die Rede ist? Sind auch wir Dürstende im Sinne Jesu, und kann unser Durst gestillt werden mit dem, was Jesus anzubieten hat? Im 42. Psalm formuliert der Beter: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, dem lebendigen Gott.“

Hier ist vom Durst nach Gott die Rede. Wie ist es zu diesem Durst gekommen? Durst entspringt einer Situation des Mangels. Wie wir im weiteren Verlauf des Psalms lesen, betet der Dichter aus einer Situation des Leidens, der Anfechtung und Anfeindung heraus: „Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht.“

Durst, wie auch der Hunger, ist Ausdruck einer Leere in uns, die wiederum eine Kraftlosigkeit zur Folge hat, einen Mangel an Kraft zum Leben. Wer im physischen Sinne Durst und Hunger hat, der hat einen leeren Magen und dieser gehört gefüllt; erst dann entfalten sich wieder die Lebenskräfte. So ist es auch mit dem Durst und Hunger im übertragenen Sinne.

Es gibt auch eine andere Leere in uns, die auch derjenige spüren kann, dessen Magen gefüllt und überfüllt ist. Es gibt Bedürfnisse, die nicht mit physischer Nahrung und überhaupt in physischer Weise nicht zu stillen sind und die dennoch eine gleichsam physische Gewalt über uns gewinnen können. Jeder von uns wird solche Situationen erlebt haben. Sie können im Konkreten ganz unterschiedlich aussehen. Es kann sein wie bei der Schriftstellerin, die abends ein Glas Wein zu viel getrunken hatte und dann Ströme von Tränen vergoss, weil ihre alte Sehnsucht nach dem Absoluten erwachte. Der Wein nahm ihr die Kontrolle, die uns normalerweise vor unerträglichen Gewissheiten schützt, und ließ sie ungeschützt entdecken, was wir im täglichen Leben nicht zur Kenntnis nehmen: die Eitelkeit des menschlichen Strebens und die drohende Nähe des Todes. Weltschmerz können wir das nennen oder salopp formuliert: „Seinen Moralischen kriegen.“ Damit meinen wir doch, dass sich plötzlich eine Leere in uns auftut, in die wir hineinzustürzen drohen, die uns zu verschlingen droht. Es kann diese grundsätzliche Fragwürdigkeit unseres Daseins sein, die plötzlich in unser Bewusstsein rückt, ausgelöst durch das überzählige Glas Wein vielleicht, die aber doch eigentlich im Unbewussten ständig gegenwärtig ist. Denn Vergänglichkeit und Tod bedrohen jeden jederzeit an jedem Ort in jeder Verfassung seines Lebens.

Es können auch konkrete Erfahrungen sein, die plötzlich das Tuch wegreißen und die große Leere in uns aufdecken. Es können konkrete Erfahrungen des Leids sein: der Verlust eines geliebten Menschen, eine schwere Krankheit, ein schwerwiegender Misserfolg, das Scheitern einer zwischenmenschlichen Beziehung, das Erleben eines großen Unrechts oder auch die Anhäufung mehrere unglückseliger Umstände.

Die Leere, die sich dann auftut, will gefüllt sein. Und nicht wenige Menschen versuchen, sie mit physischen Mitteln zu füllen, indem sie zum Beispiel übermäßig Alkohol trinken oder auch unmäßig essen; andere versuchen, sich mit Aktivitäten einzudecken und die Leere zuzudecken.

„Meine Seele dürstet nach Gott, dem lebendigen Gott“ – wer so betet, der hat erkannt, dass es einen Durst gibt, den wir nicht selbst stillen können, dass es Fragen gibt, die wir nicht selbst beantworten können, dass es Probleme gibt, die wir nicht selbst lösen können. Wen nach Gott dürstet, dem sind die menschlichen Grenzen bewusst geworden, dem ist klar geworden, dass wir uns in den letzten Dingen nicht selbst helfen können, dass wir angewiesen sind auf den, von dem wir herkommen, auf den wir zugehen, der unser ganzes Leben als Geheimnis umfasst. Wen nach Gott dürstet, der ist angesichts menschlicher Grenzen dennoch nicht ohne Hoffnung, der weiß noch, wohin er sich wenden kann außerhalb seiner selbst, der vertraut noch auf eine Antwort, auf Rettung, auf Heilung, wo alles undurchsichtig und aussichtslos erscheint.

Die Hoffnung des Volkes Israel auf einen Messias ist der Erfahrung menschlicher Ohnmacht, aber auch dem Willen zum Leben entsprungen. Nur Gott könnte retten, und er sollte und würde retten!

Als Christen glauben wir, dass in Jesus derjenige gekommen ist, der den Durst stillen kann, von dem hier die Rede ist. Er ist die Antwort Gottes, die wir uns nicht selbst geben können, die Hilfe, die unser eigenes Vermögen übersteigt. Er ist es, „von dessen Leib Ströme lebendigen Wassers fließen“, wie es bildhaft heißt.

Kann Jesus unseren Weltschmerz stillen? Kann er helfen, wenn wir unseren Moralischen kriegen? Kann er uns herausholen, wenn wir in eine Situation des Leids hineingestoßen werden? Das Neue Testament sagt: „Ja.“

Viele Menschen haben eben diese Erfahrung gemacht: Jesus kann helfen. Von ihm her wird uns eine göttliche Hilfe zuteil.

An Jesus erfahren wir, dass die Antwort Gottes zunächst nicht die Beseitigung der äußeren Bedingungen ist, die unseren Schmerz, unseren Durst verursachen. Jesus ist die Antwort Gottes unter den Bedingungen des Leids. Die Schmerzen bleiben, doch unser Schrei geht nicht ins Leere, der Durst ist da, aber nun auch einer, der uns zu trinken gibt. Nicht die Beseitigung des Leids sondern das liebevolle Mitleiden ist Gottes Antwort in Jesus Christus, die Sympathie, um es mit dem griechischen Fremdwort zu sagen.

Der Blick auf Jesus kann uns nur bescheiden machen: dass wir Gott Gott sein lassen, dass wir ihm das Geheimnis belassen, das Schöne und Erschreckende, das ihm in gleicher Weise zugehört, dass wir das annehmen, was er uns zu geben hat, die Solidarität im Leid, das Bei-uns-sein im Schmerz, das An-uns-festhalten in Liebe unter allen Bedingungen, auch der unserer Schuld.

Wer von Jesus als dem Gottgesandten annimmt, was er uns zu geben hat, an dem wird sich verwirklichen können, was auch in unserem Predigtabschnitt gesagt ist, „von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen“. Wir empfangen und wir geben. Unser Durst wird gestillt und wir geben anderen zu trinken. Wir werden getröstet und wir trösten andere. Uns wird geholfen und wir helfen.

Jesus ist der Christus, eine Gabe Gottes an uns, den Durst zu stillen, der aus der Tiefe unseres Herzens kommt. Gott sei Dank für seine gute Gabe durch ein Leben ihm zur Ehre.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft, am 31. Mai 1987)

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