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2. Sonntag nach Ostern (18.4.21)


Hirten sollen die Herde weiden und nicht sich selbst

 2. Mai 1976

Misericordias Domini

(2. Sonntag nach Ostern)

Emmauskirche

Hesekiel 34,1-16


Viele Menschen halten den christlichen Glauben für eine lauwarme Angelegenheit, für etwas, dass weder heiß noch kalt ist, für eine Sache, in der kein Feuer steckt, keine Dynamik, eine langweilige Sache, die weder überschwängliche Freude erzeugen, noch zum Zorn reizen kann. Ein frommer Christ könne eigentlich nur ein harmloser Zeitgenosse sein, einer der nicht viel Interessantes anzubieten hat, der niemandem schadet, aber auch keine weltbewegenden Dinge vollbringt. Das ist doch ein weitverbreitetes Image des christlichen Glaubens und der Christen.

Wie mag dieses Image entstanden sein? Eines scheint mir sicher: Der Bibeltext kann nicht schuld daran sein. Das, was hier drin steht im Alten und im Neuen Testament, das ist voller Zündstoff. In diesen Texten brodelt es von Leben.

In dem heutigen Predigttext beim Propheten Hesekiel schlägt uns zum Beispiel harte Sozialkritik entgegen. Hesekiel wendet sich gegen einen sozialen Missstand, der auch uns nicht unbekannt ist, dass nämlich die Mächtigen die Schwachen ausnutzen. Statt die Schwachen zu stärken, sind sie vor allem auf ihre eigene Stärke bedacht.

Hesekiel stand mit beiden Beinen in seiner Zeit. Er hatte die Besetzung Jerusalems erlebt und die Verschleppung vieler Juden ins Ausland. Für ihn stand fest: Dieses nationale Unglück hatte die Oberschicht des Volkes Israel zu verantworten. Denn sie war zu sehr mit ihren privaten Interessen beschäftigt gewesen, statt sich um das Wohl der ganzen Bevölkerung zu sorgen.

Hesekiel klagt mit scharfen Worten das verantwortungslose Verhalten der führenden Personen an. Das geschundene Volk tröstet er mit einer Weissagung: In der Zukunft wird Gott, der Herr, sich selbst um sie kümmern. Da die Führer des Volkes sie im Stich gelassen haben und unfähig waren, ihr Wohl zu sichern, wird Gott sich selbst zu ihrem Führer machen. Hesekiel kleidet seine Weissagung in Bilder. Von den Führern des Volkes spricht er als den Hirten, vom Volk selbst als der Herde.

Hesekiel bringt zwei Dinge zum Ausdruck: eine unheimlich gewichtige Anklage und einen Trost. Wir können uns aussuchen, ob wir uns zu den Angeklagten zählen wollen oder zu denen, die getröstet werden. Wahrscheinlich müssten wir uns zu beiden gleichzeitig rechnen: zu den Hirten und zu der Herde.

Wir wollen diese Bilder Hirte und Herde einmal umsetzen in Begriffe, die uns geläufig sind. Die Vorstellung, ein Schaf zu sein, ist heute ja eher belustigend. Was soll damit eigentlich zum Ausdruck gebracht werden?

Die Herde Schafe können wir vielleicht am besten übersetzen mit „die Angewiesenen“. Wir sind Angewiesene in vielfacher Hinsicht: nicht nur in unserer Kindheit, wo wir besonders der Fürsorge durch die Eltern bedürfen. Wir sind auch als Erwachsene auf eine Vielzahl von Menschen angewiesen, ob sie im gesellschaftlichen System nun über uns, neben uns oder unter uns stehen.

Wir bedürfen der Arbeit unserer Mitmenschen, um mit materiellen Gütern versorgt zu werden. Wir bedürfen ärztlicher Hilfe und wir bedürfen auch der persönlichen Zuwendung durch unsere Mitmenschen. Wo wir all das nicht empfangen, können wir nicht leben. Wir sind aufeinander angewiesen. Das bedeutet zugleich, dass andere auf uns angewiesen sind, dass sie unsere Arbeit, unseren Schutz und unsere Zuwendung brauchen.

Was Hesekiel hier aus der geschichtlichen Situation heraus zwei verschiedenen Teilen des Volkes sagt, der führenden Oberschicht einerseits und der Bevölkerung andererseits, das dürfen wir beides also getrost auf uns selbst beziehen.

Wenn uns nun allerdings einer bezichtigt, uns um das Wohl der auf uns Angewiesenen nicht genug zu kümmern, wird es ungemütlich. Kritik nehmen wir nicht so leicht hin.

Es fällt uns im Allgemeinen auch nicht schwer, uns zu rechtfertigen. Wenn uns etwa jemand vorwurfsvoll fragen würde, warum wir uns zum Beispiel nicht intensiver um Strafentlassene kümmern, könnten wir vielleicht sagen: Solche Hilfe haben wir im Einzelfall schon versucht. Aber es hat wenig geholfen. Der Strafentlassene hat unsere Hilfe missbraucht, er ist wieder straffällig geworden. Unser ganzer Einsatz war umsonst. Wir haben uns fast lächerlich gemacht, einige haben uns als naive Idealisten bemitleidet. So haben wir schließlich nicht nur den Schaden, sondern auch noch den Spott davongetragen.

In der Tat können wir unsere Zurückhaltung im Umgang mit anderen Menschen gar nicht besser rechtfertigen als mit den bitteren Erfahrungen, die wir gesammelt haben. Wer sich anderen Menschen zuwendet, kann sich fast sicher sein, dass er oftmals auch enttäuscht wird. Das lehrt uns die Erfahrung.

Diese Erfahrung erzieht uns dazu, vor zunächst allem auf unser eigenes Wohl bedacht zu sein. Denn damit liegen wir immer richtig. Wenn wir uns selbst etwas Gutes tun, können wir uns der positiven Erfahrung gewiss sein. Wenn wir anderen Gutes tun, kann das leicht zu einer negativen Erfahrung werden. Wenn uns also jemand vorwerfen wollte, dass wir auf unser eigenes Wohl mehr bedacht sind als auf das derjenigen, die in irgendeiner Weise von uns abhängig sind, dann könnten wir uns mit unserer Lebenserfahrung entschuldigen.

Versetzen wir uns nun einmal in die Lage derjenigen, die Hesekiel mit einer tröstenden Weissagung bedenkt. Als welche, die auf andere angewiesen sind, werden wir von anderen natürlich auch ausgenutzt oder links liegen gelassen. Das ist auch eine sehr nachdrückliche Erfahrung. Andere sind auf unser Wohl vorrangig genauso wenig bedacht wie wir auf das Wohl der anderen.

Die geplagten Menschen unseres Predigttextes haben offenbar nicht die Hoffnung, dass sie durch ihre eigenen Leute wieder gesammelt und aus der Fremde zurück in die Heimat geführt werden könnten und dass sie dort die zerstörten Städte wieder aufbauen und zur Ruhe kommen könnten. Für all das werden nicht die eigenen Leute, sondern Gott, der Herr, sorgen, weissagt Hesekiel.

Uns erscheint das wie eine Vertröstung, wie eine Flucht vor der Wirklichkeit. Denn bedenken wir es einmal realistisch: Die Menschen, die durch das Versagen ihrer eigenen Führerschicht ins Unglück geraten sind, würden nun auch durch ihre eigenen Leute da wieder herauskommen müssen. Es hieße, auf ein Wunder hoffen, etwas anderes zu erwarten.

Zwar haben die Verantwortlichen sich als unfähig und unwillig erwiesen, aber wenn nun wieder alles gut werden soll, dann müssen sich diejenigen, die durch ihre Fehler den Schaden herbeigeführt haben, nun eines Besseren besinnen und Wege und Mittel zur Beseitigung des Schadens suchen. Oder sie müssen durch fähigere Leute ersetzt werden. Aber ihnen falsche Haltungen und Einstellungen vorzuwerfen und die Bevölkerung dann damit zu trösten, dass Gott, der Herr, selbst sich nun ihrer annehmen würde, das klingt zunächst einmal sehr unrealistisch und wie ein Ausweichen vor dem Problem.

Was soll eigentlich mit diesem Hinweis auf die Rettung durch Gott selbst gemeint sein? Hiermit ist doch angedeutet, dass wir als Menschen, jetzt einmal die großen und die kleinen zusammengenommen, einfach nicht in der Lage sind, für unser eigenes Wohl, geschweige denn für das Wohl anderer ausreichend zu sorgen.

Ein Blick in die Geschichte der Menschen scheint das zu bestätigen. Und das liegt nicht nur an unserer mangelnden Sachkenntnis, an begrenztem Denkvermögen, sondern auch an unserem Hang, immer wieder schuldig zu werden, und an unserer Neigung, das Wohl der Allgemeinheit zu vernachlässigen, um unseres eigenen Wohles willen.

Wenn Hesekiel sagt: Für unser aller Wohl kann letztlich nur Gott selbst sorgen – und er wird es tun –, dann kommen damit zwei Dinge zum Ausdruck: zum einen das Eingeständnis der Schwachheit des Menschen, der einfach nicht über seinen eigenen Schatten springen kann, zum anderen die Zuversicht, dass wir dennoch nicht unserem Schicksal alleine überlassen bleiben, dass wir durch alle Enttäuschungen, durch alle bittereren Erfahrungen hindurch doch darauf vertrauen können, dass die trostlose Wirklichkeit uns nicht letztlich zu Grunde richtet, dass sie vielmehr durchbrochen wird durch wirkliche Zuwendung zu den Menschen, durch echtes und uneingeschränktes Sich-kümmern um unsere Sorgen.

Zum Eingeständnis unserer Schwachheit könnten wir uns vielleicht noch durchringen, dazu verhilft uns die tägliche Erfahrung. Aber woher sollen wir die Kraft zur Hoffnung nehmen?

Was Hesekiel da weissagt, sehen wir in Jesus Christus erfüllt. In diesem Menschen, den wir als Sohn Gottes bezeichnen, haben wir wirkliche Zuwendung erfahren. Er war tatsächlich ganz für seine Mitmenschen da, hat sich ihrer Sorgen und Nöte und Ängste angenommen. Wir nennen ihn darum nicht zu Unrecht den guten Hirten.

Seine Zuwendung zu den Menschen können wir nicht als naiven Idealismus abtun. Er war nicht naiv. Er kannte die Menschen genau. Er hat am eigenen Leib erfahren, was Menschen einander Böses antun können. Er hat die vielen Enttäuschungen erlebt, die auch uns im Umgang miteinander zu schaffen machen. Er hat gelitten. Dennoch hat er sich nicht zurückgezogen. Er hat nicht enttäuscht gesagt: Mit euch will ich nichts mehr zu tun haben, der Einsatz für euch ist vergebens. Ich werde mich darauf beschränken, für mich selbst zu sorgen. Gerade so hat er nicht reagiert.

Sein Verhalten war ganz anders. Er hat sich bis zum bitteren Ende den Schandtaten der Menschen ausgesetzt und hat sich schließlich sogar am Kreuz töten lassen. In der Kreuzigung dieses unschuldigen Menschen wird die menschliche Verfehlung deutlich.

Dann hat Gott Jesus Christus wieder auferweckt. Diese Auferstehung ist ein Bild für die Vergebung. Was da an Schändlichem passiert ist, das soll nun nicht das Letzte sein. Die Vergebung ist stärker als die Schuld.

Das Kreuz und die Auferstehung, das sind Bilder für Schuld und Vergebung, für die Schwachheit des Menschen und für die nicht zu erschütternde Liebe Gottes.

Wenn es uns schwerfällt, an die Liebe Gottes zu glauben, dann können wir auf Jesus Christus blicken, in dem sie zur lebendigen Wirklichkeit geworden ist. Seit er da gewesen ist, gibt es immer wieder Menschen, die in seinem Geist leben, die etwas von dieser Liebe neu verwirklichen, unvollkommen zwar, immer durchmischt mit menschlicher Schwäche, aber doch erkennbar. Diese Spurenelemente mögen uns vielleicht das Vertrauen an ein gutes Ende unseres unvollkommenen Daseins wecken und stärken.

Vorhin sprach ich von dem Image der Christen und des christlichen Glaubens, von diesen scheinbar langweiligen Gestalten, die ihr Herz an eine Sache hängen, in der angeblich kein Feuer stecke. Vielleicht kommt dieses Image auch ein bisschen daher, dass die Kraft des Glaubens in uns tatsächlich etwas schwach ist, dass wir unsere eigenen Schwächen zwar erkennen, sie aber auch gut zu entschuldigen wissen. Und dass wir die Zusagen einer guten Zukunft von uns weisen, weil wir schon zu viele Enttäuschungen erlebt haben.

Darum sind wir darauf angewiesen, uns im Glauben gegenseitig zu stärken und zu ermutigen. Wir können ihn uns nicht allein geben, sondern eigentlich nur um ihn bitten: „Herr, schenke uns Vertrauen in die Kraft deines Wortes.“

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 2. Mai 1976)

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