Mit Gottvertrauen tun, was uns möglich ist
28. Januar 1973
4. Sonntag vor der Passionszeit
Matthäus 8,23-27
Der Predigttext ist heute die Erzählung von der Stillung des Sturmes. Jesus befindet sich mit seinen Jüngern draußen auf dem Meer. Ein Sturm setzt ein. Die Wellen schlagen hoch und das kleine Boot droht voll Wasser zu laufen. Jesus schläft. Todesangst überfällt die Jünger. Sie wecken Jesus auf und sagen: „Herr, rette uns, wir sind verloren!“ Darauf sagt Jesus: „Was seid ihr so verzagt, ihr Kleingläubigen!“ Dann steht Jesus auf, herrscht den Wind und das Meer an, und es tritt eine völlige Windstille ein. Die Jünger staunen darüber und sagen: „Was ist das für ein Mensch, dass ihm der Wind und das Meer gehorchen?!“
Wir haben es – wie schon in den letzten Wochen – auch hier wieder mit einer Wundergeschichte zu tun. Wir könnten uns wieder Gedanken darüber machen, wie wir diese Wundererzählung interpretieren müssten, um unseren Widerwillen zu besänftigen, der immer aufkommt, wenn wir so unwahrscheinliche, unglaubliche Geschichten hören. Denn es wird sich heutzutage kaum noch einer weismachen lassen, dass jemand, wer es auch immer sei, und sei es Jesus, mit einem Wort Wind und Meer zur Ruhe bringen könne.
Aber dieses Problem, die Deutung des Wunders, wollen wir – so gut es geht – beiseitelassen. Denn das eigentliche Anliegen dieser Erzählung scheint mir anderswo zu liegen. Es geht hier wohl vor allem um das Thema „Glaube“, genauer noch um die Beziehung zwischen Glaube und Angst, und zwar Angst in der konkreten Gefahr.
Die Jünger haben Angst vor dem Ertrinken. In ihrer Verzweiflung wecken sie Jesus auf, der im Boot schläft, und bitten ihn um Rettung aus der Not. Darauf erwidert Jesus: „Was seid ihr so verzagt, ihr Kleingläubigen!“ Diese Reaktion wollte mir zuerst gar nicht einleuchten. Warum wirft Jesus seinen Jüngern Kleingläubigkeit vor? Wenn sie ihn aufwecken und um Hilfe bitten, dann bringen sie doch damit ihren Glauben an die besondere Macht Jesu zum Ausdruck. Sie gehen doch irgendwie davon aus, dass Jesus sie gegen die Bedrohung durch die Naturgewalten schützen könne. Warum also der Vorwurf der Kleingläubigkeit?
Hätten die Jünger Jesus weiterschlafen lassen und darauf vertrauen sollen, dass schon alles gut gehen würde? Wäre das wirklicher Glaube gewesen, in diesem Augenblick der höchsten Gefahr sich zu sagen: Jesus ist bei uns. Uns kann kein Schade rühren?
So einfach bejahen wollen wir diese Frage wohl nicht. Denn wäre das nicht etwas naiv zu meinen, Jesus könnte vor der konkreten Gefahr schützen? Freilich, die Wundererzählung stellt Jesus als einen Menschen mit übernatürlichen Kräften dar, der die Naturgewalten mit einem Wort unter Kontrolle hat, der im Bedarfsfall vielleicht auch ein Erdbeben zur Ruhe bringen und einen Lavastrom umleiten könnte, um so Menschen aus der Todesgefahr zu erretten. Aber wir sollten uns wohl davor hüten, die Wundererzählung so wörtlich zu nehmen.
Wo wir uns in einer konkreten Gefahr befinden, da müssen wir auch damit rechnen, an ihr zugrunde zu gehen. Der Gefahr müssen wir ins Augen sehen ohne die Illusion, durch übernatürlichen Eingriff aus ihr befreit zu werden. Auch die Jünger müssen klar sehen, dass sie untergehen können. In der Tat haben sie diesen möglichen katastrophalen Ausgang ganz deutlich vor Augen. Sie wähnen sich nicht naiv in Sicherheit. Das kann ihnen Jesus wohl kaum zum Vorwurf machen wollen.
Was wirft Jesus den Jüngern denn nun eigentlich vor? Mir scheint, es ist Folgendes: In der Sorge um ihr persönliches Leben fordern sie Jesus praktisch auf, ein Wunder zum Zwecke ihrer Rettung zu vollbringen, das Unmögliche möglich zu machen. Jesus ist aber kein Zaubermeister, den man im Bedarfsfall dazu auffordern oder darum bitten könnte, die Probleme des Lebens wegzuzaubern. Der Glaube an solche Zauberei ist Aberglaube und das Verständnis Jesu als eines Zaubermeisters ist ein Missverständnis.
Nun wollen wir die Jünger nicht schlechter machen, als Matthäus sie sieht, dessen Evangelium diese Erzählung entnommen ist. Er lässt Jesus ja nicht vom Aberglauben oder Unglauben der Jünger, sondern von ihrer Kleingläubigkeit sprechen. Und darin kommt vielleicht ein gewisses menschliches Verständnis für die Lage der Jünger zum Ausdruck. Denn an das Verhalten von Menschen im Augenblick höchster Gefahr kann man keinen ganz so kritischen Maßstab anlegen wie an das Verhalten unter normalen Bedingungen.
Suchen wir einmal nach Parallelen zur Geschichte von der Stillung des Sturmes in unserer heutigen Zeit. Nun, wir wissen – sei es aus Erfahrung oder vom Hörensagen –, dass sich in Zeiten der Not die Kirchen füllen und dann mehr und inniger als sonst um den Beistand Gottes und Jesu gebetet wird. Auch da müssten wir uns fragen, ob solches verstärkte Bemühen um göttlichen Schutz in Zeiten akuter Gefahr als Zeichen des Glaubens oder der Kleingläubigkeit anzusehen ist.
Denn ist es nicht folgendermaßen: Wir stehen immer zwischen Leben und Tod, sind immer in vielerlei Weise bedroht. Die akute Gefahr, wie sie unsere Erzählung schildert, ist nur der Extremfall eines Dauerzustandes. Ein Unglück kann jederzeit über uns hereinbrechen. So etwas liegt ja gar nicht in unserer Hand. Freilich werden wir uns unserer Ohnmacht gegenüber den Schlägen des Schicksals oft nur im Augenblick größter Gefahr bewusst. Denn während wir sonst meinen, unser Leben in der Hand zu haben, erkennen wir dann die Grenzen unseres Vermögens.
Nun ist aber gerade dies eine christliche Sache, dass wir uns jederzeit und überall unserer Grenzen bewusst sind. Dass wir wissen: Wir sind letztlich nie und nirgends Herr über uns selbst, sondern – theologisch gesprochen: Unser Schicksal liegt in Gottes Hand. Wenn wir sagen: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden“, bringen wir gerade dieses Bewusstsein zum Ausdruck. Unser regelmäßiger Gottesdienst trägt dazu bei, es lebendig zu erhalten. Jesus wirft den Jüngern also Kleingläubigkeit vor, weil sie ihn zu einem besonderen Akt der Rettung auffordern, ihn bitten, sich in dieser bedrängten Lage ihrer anzunehmen, als ob ihr Schicksal nicht ohnehin in Gottes Hand läge – ganz unabhängig davon, ob Jesus nun schläft oder nicht.
Nun ist noch ein Wort zu sagen über die Angst. Wir haben schon gehört – einerseits: Wenn wir in Gefahr sind, müssen wir damit rechnen, in ihr zugrunde zu gehen. Andererseits: Unser Schicksal liegt immer in Gottes Hand. Wie verhält sich das zueinander? Können wir überhaupt unsere Angst vor dem Scheitern, vor dem Untergang überwinden durch den Glauben an Gottes Führung, wenn wir dabei nicht zugleich an die Möglichkeit wundersamer Rettung durch Gott denken?
Wenn wir sagen: Unser Schicksal liegt in Gottes Hand, wollen wir damit Folgendes zum Ausdruck bringen: Unsere Bereitschaft nämlich, das Schicksal so hinzunehmen, wie es jeweils ist, unser Leben zu bejahen mit seinen Freuden und Leiden – und sei das Leiden noch so groß. Das soll nun nicht heißen: Wir legen unsere Hände in den Schoß und lassen alles Unglück über uns ergehen, statt uns nach Kräften zu wehren und zu schützen, abzusichern, Gefahren vorzubeugen und immerzu nach Möglichkeiten zu suchen, uns selbst und andere aus der jeweiligen Gefahr zu retten. Nein, alle diese Maßnahmen müssen wir ergreifen.
Nur, wir können uns immer nur ganz unvollkommen schützen. Das wird sich nicht ändern. Gefahren wird es immer geben. Und da ist es für unser Leben schon von ganz entscheidender Bedeutung, wie wir uns zu dieser Tatsache stellen.
Es ist sicher nicht gut, unser Leben durch die Angst bestimmen lassen, wie manche es tun. Immer und überall zunächst die Gefahren zu sehen und darauf bedacht zu sein, sich zu schützen, allem und jedem zunächst mit Misstrauen zu begegnen. Und gut ist es sicher auch nicht, mit Scheuklappen durchs Leben zu gehen, sich naiv in Sicherheit zu wägen, vor der täglichen Bedrohung die Augen zu verschließen und dann, wenn das Unglück doch einmal vor der Tür steht, sich an illusionäre Strohhalme zu klammern, wie es die Jünger mit ihrer Bitte an Jesus wohl tun. Sie geraten selbst ganz außer Fassung, als das eintritt, was sie bei klarem Verstand von Jesus wohl nicht erbeten hätten und woran sie im Grunde gar nicht geglaubt hatten.
Nein, wenn wir die immer gegenwärtigen Gefahren deutlich sehen und „Ja“ zu unserem jeweiligen Schicksal sagen, d. h. theologisch gesprochen, unser Leben Gottes Sache sein lassen – und das ist die Haltung des Glaubens –, dann haben wir eine solide Grundlage, frei von Angst, können den Gefahren gefasst ins Auge sehen und uns daran machen, ihnen mit unseren menschlichen Mitteln, so gut es geht, zu trotzen.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 28. Januar 1973)