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1. Sonntag nach Epiphanias (12.1.25)


Hoffnung hilft

1. Sonntag nach Epiphanias

13. Januar 2002

Jesaja 42,1-4


„Das geknickte Rohr“ und „der glimmende Docht“ - beides Bilder für das kurz bevorstehende endgültige Aus. 

Ich habe kürzlich mit einer inzwischen über 50 Jahre alten Frau zu tun gehabt. Vor mehr als 20 Jahren ging ihre langjährige Jugendfreundschaft in die Brüche. Seitdem hat sie manche Beziehungen ausprobiert. Sie hat auch einmal geheiratet, aber inzwischen ist sie seit langem wieder getrennt. Seit 10 Jahren weiß sie, dass sie an einer unheilbaren Krankheit leidet. Sie ist zwar noch mobil und kann sich selbst versorgen, aber sie hat doch das Gefühl, immer schwächer zu werden. Vor zwei Jahren verlor sie endgültig ihre Arbeitsstelle. Seitdem sitzt sie allein zu Hause mit ihrem kleinen Hund. Der Vater, mit dem sie sich stets gut verstanden hatte, ist schon längst verstorben. Mit der Mutter und der Schwester kommt sie nicht zurecht. Der Freundeskreis existiert nicht mehr. Über die Jahre haben sich alle Beziehungen ins Nichts aufgelöst.

Sie sitzt da, vollkommen verunsichert, traut sich kaum noch, jemanden anzusprechen. Die Erinnerungen an die Zeit, als sie noch das blühende Leben war, lassen sie nicht los: die Erinnerungen an die Zeit, als sie es liebte, Gäste zu bewirten, zu verreisen, das kulturelle Leben der Stadt zu genießen, ihre Arbeit zu tun ...

Sie ist heute wie das geknickte Rohr, von dem Jesaja hier spricht. Ich hatte bei meinem Besuch das Gefühl: Noch eine kleine Negativerfahrung - und sie ist gänzlich zerbrochen. Sie ist wie der glimmende Docht: Noch ein kleines böses Wort von irgend jemandem, vielleicht achtlos hingesprochen - und der glimmende Rest ihres Lebens verlöscht.

Wenn ich ihr dieses Wort von Jesaja „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen“ - wenn ich ihr dieses Wort in irgendeiner Weise hätte zukommen lassen - ich weiß nicht, ob ihr das geholfen hätte, ob ihr das helfen würde. Mit Kirche hat sie nie viel im Sinn gehabt. 

Vielleicht haben auch Sie, ähnlich wie diese Frau, einmal ganz persönlich die Situation erlebt, dass es nur noch einer Kleinigkeit bedurft hätte: Noch ein kleiner Ärger, noch eine weitere Beschwerde, noch eine Belastung mehr, dann bricht alles zusammen. Dann geht gar nichts mehr. Vielleicht haben Sie es dann wie ein Wunder erlebt, dass es doch nicht zum endgültigen Bruch gekommen ist, dass die glimmende Hoffnung, die in Ihnen noch vorhanden war, doch wieder neu aufflackerte. 

Gewiss hat jeder von uns auch das Gegenteil erlebt: dass es eben zu Ende war, das geknickte Rohr zerbrochen, der Docht verloschen.

Jesaja wendet sich mit seinen Worten, seinen Mut machenden Worten, nicht an eine einzelne Frau, er wendet sich überhaupt nicht nur an einen einzelnen Menschen. Er wendet sich an sein Volk, an den Teil seines Volkes, dem die Kraft zur Hoffnung zunehmend abhanden gekommen war. Er wendet sich den Menschen aus seinem Volk Israel zu, die ins Exil nach Babylon deportiert worden waren. Zwangsweise hatten sie schon lange inmitten der fremden Kultur leben müssen - das hatte an der psychischen Kraft vieler gezehrt. Jesaja versucht nun, sie mit Mut machenden Worten wieder zu stärken. 

Woraus hat Jesaja selbst die Kraft zur Hoffnung geschöpft? Was er sagt, sagt er im Namen Gottes. Die göttliche Eingebung öffnet seinen Mund und lässt ihn reden. Wie wir wissen, kam es tatsächlich zu einer Wende. Die Exilierten konnten zurückkehren in ihre Heimat, sie konnten den Tempel wieder aufbauen und ein neues Leben beginnen.

Worte der Hoffnung mögen in der Situation der Not manchen wie leere Hülsen erscheinen. Aber der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Worte der Hoffnung auch immer wieder in Erfüllung gegangen sind. Die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten ist für die Israeliten ein solches Ereignis der Vergangenheit, aus dem sie bis heute in den Zeiten der Not und inmitten all der Probleme des Tages Hoffnung auf Besserung schöpfen.

Eine solche Erfahrung erfüllter Hoffnung haben z. B. auch die Menschen in Südafrika gemacht, als die generationenlange Rassentrennung abgeschafft wurde.

Auch wir in Deutschland können als Volk auf die Erfahrung erfüllter Hoffnung zurückblicken. Die Vereinigung von Ost und West ist eine solche Erfahrung der jüngsten Vergangenheit. 

Ich möchte auch an eine Situation im Jahr 1945 erinnern. Der 2. Weltkrieg war zu Ende gegangen. Deutschland war so gut wie am Ende, die Kirche auch, denn die Staatsbürger waren ja zugleich durchweg Kirchenmitglieder gewesen, die aktiv oder durch Unterlassung zur großen Katastrophe beigetragen hatten. 

Im Oktober 1945 trat im zerstörten Stuttgart der neue Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland zusammen. Die Kirchenleute trugen ganz im Sinne des Jesaja die Hoffnung zu einem Neuanfang in sich. Sie waren bereit, dieser Hoffnung durch ein Bekenntnis der Schuld und ein Bekenntnis zur Umkehr Ausdruck zu verleihen.

Als sie im Oktober 1945 in Stuttgart versammelt waren, erschien ganz überraschend, weil unangemeldet - unter den damaligen Umständen war eine vorherige Anmeldung nicht möglich gewesen - eine Delegation von Männern aus den Kirchen verschiedener Länder, denen Deutschland großes Leid zugefügt hatte. Die Männer waren nach Stuttgart gereist, um die Hand zur Versöhnung auszustrecken. Und sie waren in der Hoffnung gekommen, dass die Deutschen ihrerseits ein Wort der Buße sprechen würden, um den anderen damit die Versöhnung zu erleichtern. 

Man kann sich denken, welche Freude der Besuch der ökumenischen Delegation ausgelöst hat. Die deutschen Kirchenleute, die in ihrer psychischen Verfassung alle dem geknickten Rohr vergleichbar waren, spürten, wie das wohlwollende Auftreten der Gäste aus den eben noch feindlichen Nationen ihnen neue Kraft gab und wie die Fünkchen der Hoffnung, die in ihnen noch vorhanden gewesen waren, sich nun zu einer hellen Flamme der Freude entfachten. 

Solche Erfahrungen brauchen wir: dass Hoffnung sich erfüllt. Solche Erfahrungen brauchen wir als Einzelne und solche Erfahrungen brauchen wir als Nation. Und solche Erfahrungen brauchen wir auch als ganze Weltgemeinschaft. Es war schon eine ziemlich globale Erfahrung erfüllter Hoffnung, als unter Gorbatschow die jahrzehntelangen Spannungen zwischen Ost und West zum Ende kamen.

Natürlich geraten wir immer wieder in neue Situationen, die uns in Hoffnungslosigkeit zu stürzen drohen. Die Menschen in Israel und in Palästina befinden sich im Augenblick in einer solchen, man könnte fast sagen, depressiven Verfassung. Und auch global sind wir von Hoffnungslosigkeit bedroht. 

Wir machen immer wieder niederdrückende Erfahrungen, aber die Hoffnung auf Besserung dürfen wir niemals aufgeben. Das klingt jetzt etwas salopp dahergesagt. Aber wir haben hier mit einem ganz grundlegenden, existentiellen Thema zu tun. Und dieses Buch, die Bibel Alten und Neuen Testaments, hat ganz wesentlich mit eben diesem Thema zu tun: In diesem Buch sind all die Probleme einzelner Menschen und ganzer Nationen in aller Offenheit dargelegt, nicht um uns herunterzureißen und uns zu sagen, wie schlimm alles ist, sondern um uns Mut zu machen, uns Hoffnung zu geben, uns Kraft zu schenken, über die Probleme hinauszuschauen auf mögliche Lösungen, aus dem Tal heraufzublicken auf die rettende Anhöhe und im Dunkel das kleine und immer heller werdende Licht wahrzunehmen. 

Jesaja spricht zu seinem Volk von einer menschlichen Gestalt, die im Auftrag Gottes Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft und Linderung von allen Nöten bringen wird. Jesajas Worte sind später auf Jesus Christus bezogen worden. Matthäus hat fast wörtlich die Worte unseres heutigen Predigtabschnitts übernommen, um uns zu sagen: Jesus Christus ist dieser göttliche Bote, der in seiner ganzen Person, in seinem Reden und Handeln, die Hoffnung verkörpert und uns zur Hoffnung ermutigt. In seiner Taufe, so haben wir es vorhin gehört, empfängt er seinen göttlichen Auftrag. Er ist zum Licht der Welt geworden.

Wenn wir die Hoffnung aufgeben, ist es ganz schlecht um uns bestellt. Wir brauchen Kraft zur Hoffnung. Sie wird uns z. B. durch die biblischen Texte zuteil. Die Hoffnung wird dann selbst zur einer die Wirklichkeit verwandelnden Kraft. Die Frau, von der ich anfangs sprach, hat sich Hoffnung machen lassen. Sie hat sich schließlich engagiert für andere Menschen mit einer ähnlichen Krankheit. Das ist gut für die anderen, das gibt ihr auch selbst wieder neue Kraft und Hoffnung. 

Das Volk Israel wäre gar nicht mehr existent, wenn nicht doch immer wieder die Stimme der Hoffnung gehört und befolgt worden wäre. Hoffnung bewahrt uns davor, vorzeitig aufzugeben. Hoffnung hilft uns, die noch vorhandenen Möglichkeiten einer Lösung zu sehen. Hoffnung gibt uns die Kraft, konstruktive Schritte zur Rettung und Bewahrung selbst zu unternehmen. Wenn wir uns Hoffnung machen lassen - erst dann kann das Erhoffte mit Gottes Hilfe auch in Erfüllung gehen. „Gott wird das geknickte Rohr nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“

(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 13. Januar 2002)

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