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1. Sonntag nach Trinitatis (2.6.24)


 Wahre Propheten?

5. Juni 1994

1. Sonntag nach Trinitatis

Jeremia 23,16-29


In die­sem Text ist von - wenn ich das ein­mal so per­sön­lich sa­gen darf - von Be­rufs­kol­le­gen die Re­de, von Pro­phe­ten. Nun wer­den Sie sich in­ner­lich viel­leicht amü­sie­ren, wenn ich den Pa­sto­ren­stand, mich selbst ein­ge­schlos­sen, zu den Pro­phe­ten zäh­le.

Prie­ster und Pro­phe­ten wa­ren in alt­te­sta­ment­li­cher Zeit die bei­den Be­rufs­grup­pen, die für die re­li­gi­ö­sen Din­ge zu­stän­dig wa­ren. Die Prie­ster nah­men sich der Re­li­gion mehr in der for­ma­li­sier­ten, ge­ord­ne­ten Form des Kul­tus an, des Got­tes­dien­stes, der Ri­tu­a­le. Die Pro­phe­ten ver­tra­ten da­ge­gen mehr die freie Re­li­gio­si­tät, das Spon­ta­ne, die In­spi­ra­tion, die in­tu­i­ti­ve Aus­le­gung der Wirk­lich­keit mit all den Schluss­fol­ge­run­gen, die dar­aus für das Le­ben des Vol­kes und des Ein­zel­nen zu zie­hen wa­ren.

Das Bild des Pro­phe­ten im Al­ten Te­sta­ment ist ein sehr viel­fäl­ti­ges. Pro­phet ist da nicht gleich Pro­phet. Es wür­de aber zu weit ge­hen, wenn wir uns da­mit an die­ser Stel­le im Ein­zel­nen be­fas­sen woll­ten.

Je­den­falls neh­men wir als Pas­to­ren von Be­rufs we­gen bei­de Funk­tio­nen wahr – die prie­ster­li­che und die pro­phe­ti­sche, die Durch­füh­rung des Got­tes­dien­stes und die Aus­le­gung der Le­bens­wirk­lich­keit. Von da­her kön­nen wir bei der Be­schäf­ti­gung mit dem heu­ti­gen Text durch­aus auch den Pa­sto­ren­stand im Hin­ter­kopf ha­ben.

Das The­ma un­se­res Tex­tes sind die fal­schen Pro­phe­ten. Je­re­mia, der ja selbst Pro­phet war, trägt uns hier ei­ne har­sche Kri­tik vor. Er nimmt sehr kri­tisch Stel­lung zu den Äu­ße­rungen der Pro­phe­ten und zu ih­rem Le­bens­wan­del. Er spricht dem Pro­phe­ten­stand zu ei­nem wei­ten Teil die Glaub­wür­dig­keit ab.

Was vie­le der Pro­phe­ten von sich ge­ben, so Je­re­mia, ist nicht glaub­wür­dig, weil es im Wi­der­spruch zu ih­rem Le­bens­wan­del steht. Vie­le der­je­ni­gen, die sich Pro­phe­ten nen­nen, tun das Bö­se; ih­re Stär­ke ist die Un­ge­rech­tig­keit. Sie lü­gen und be­trü­gen, sie bre­chen die Ehe, sie sind auf ih­ren ei­ge­nen Vor­teil aus.

Was sie pre­di­gen, so Je­re­mia, ist nicht das Wort, der Wil­le Got­tes. Es sind ih­re ei­ge­nen Er­fin­dun­gen. Aus ih­ren Träu­men schöp­fen sie. Sie sa­gen das, was ih­nen nütz­lich er­scheint. Sie re­den de­nen nach dem Mund, von de­nen sie sich Vor­tei­le er­hof­fen. Selbst den Gottl­o­sen schmei­cheln sie und ma­chen ih­nen Mut.

Es ist of­fen­sicht­lich, dass sich Je­re­mia hier nicht ru­hig und aus­ge­wo­gen äu­ßert. Sei­ne Äu­ße­run­gen sind kämp­fe­risch. Sie sind po­le­mi­scher Na­tur. Sie spie­geln die schwie­ri­ge Si­tu­a­tion sei­nes Vol­kes wi­der, die Er­fah­rung na­tio­na­len Un­glücks, die Er­fah­rung von Fremd­herr­schaft, die Er­fah­rung der Zer­stö­rung der Hei­mat, die Er­fah­rung der Ver­trei­bung, des Exils. Die Äu­ße­run­gen des Je­re­mia sind zu­dem Aus­druck des Ver­suchs, Er­klä­run­gen zu fin­den, Ver­ant­wort­li­che, Schul­di­ge zu be­nen­nen. Je­re­mi­as Wor­te sind auch Aus­druck des Wun­sches, ei­nen bes­se­ren Weg auf­zu­zei­gen, zur Um­kehr auf­zu­ru­fen und wei­te­res Un­glück zu ver­hin­dern.

Wir be­fin­den uns z. Z. in Deutsch­land nicht in ei­ner Si­tu­a­tion na­tio­na­len Un­glücks. Na­tür­lich gibt es auch hier und jetzt je­de Men­ge Pro­ble­me. Wenn ich mir aber vor­stel­le, ich stün­de nun ir­gend­wo in Ex-Ju­go­sla­wi­en auf der Kan­zel, da wä­re es schon ei­ne der Si­tu­a­tion des Je­re­mia ver­gleich­ba­re Her­aus­for­de­rung, zu den na­tio­na­len Pro­ble­men Stel­lung zu be­zie­hen und auch die Fra­ge zu stel­len, wie weit die gei­sti­gen und geist­li­chen Füh­rer des Vol­kes ih­rer Ver­ant­wor­tung für das Wohl­er­ge­hen der ih­nen An­ver­trau­ten nach­ge­kom­men sind, wie weit sie ei­ge­nen In­ter­es­sen nach­ge­gan­gen sind, wie weit sie oh­ne Rück­sicht auf die Fol­gen de­nen nach dem Mund ge­re­det ha­ben, de­ren de­struk­ti­ve Ab­sich­ten sie hät­ten er­ken­nen müs­sen.

Wir ha­ben in un­se­rem Volk Si­tu­a­tio­nen na­tio­na­len und noch weit grö­ße­ren Un­glücks er­lebt und ha­ben auch da die Fra­ge nach der Ver­ant­wor­tung der gei­sti­gen und geist­li­chen Füh­rer ge­stellt. Män­ner un­se­rer evan­ge­li­schen Kir­che hat­ten nach dem Zu­sam­men­bruch des Drit­ten Rei­ches ein Schuld­be­kennt­nis ab­ge­legt und sich da­rin selbst an­ge­klagt, „nicht mu­ti­ger be­kannt, nicht treu­er ge­be­tet, nicht fröh­li­cher ge­glaubt und nicht bren­nen­der ge­liebt zu ha­ben“. Der da­ma­li­ge Lan­des­bi­schof Wurm nahm in dem Zu­sam­men­hang übri­gens di­rekt Be­zug auf die alt­te­sta­ment­li­chen Pro­phe­ten, die wah­ren Pro­phe­ten, in­dem er sag­te: „Mir scheint, wir müss­ten uns ganz schlicht an das Vor­bild der gro­ßen Pro­phe­ten Is­raels hal­ten, die die tief­ste Ur­sa­che al­len na­tio­na­len Un­glücks im Ver­las­sen des le­ben­di­gen Got­tes, im Über­tre­ten sei­ner Ge­bo­te ... ge­se­hen ha­ben.“

Wie ge­sagt: Wir be­fin­den uns im Au­gen­blick nicht in ei­ner sol­chen of­fen­sicht­li­chen na­tio­na­len Un­glücks- und Un­rechts­si­tu­a­tion. Das macht dann hin­sicht­lich des Um­gangs mit un­se­rem Text schon ei­nen Un­ter­schied.

Was das Wort und der Wil­le Got­tes ist, lässt sich ge­gen­ü­ber ei­ner kras­sen Un­recht­ssi­tu­a­tion noch ver­hält­nis­mä­ßig leicht be­stim­men. Wo Men­schen ge­fol­tert wer­den, kön­nen wir klar sa­gen: „Das soll nach Got­tes Wil­len nicht sein.“ Wo Men­schen we­gen ih­rer Haut­far­be be­nach­tei­ligt wer­den, kön­nen wir deut­lich sa­gen: „Das wi­der­spricht dem Wil­len Got­tes.“ Und wo Men­schen von Staats we­gen dar­an ge­hin­dert wer­den, von ei­nem Land in das an­de­re zu rei­sen, wie in der ehe­ma­li­gen DDR, da kön­nen wir sa­gen: „Das kann nicht der Wil­le Got­tes sein.“

Wenn es aber um die vie­len täg­li­chen Kon­flik­te in un­se­rer Ge­sell­schaft geht, um Ent­schei­dun­gen im Be­reich der Si­cher­heit – ob z. B. deut­sche Trup­pen im Aus­land ein­ge­setzt wer­den sol­len oder nicht, oder wenn es um Ent­schei­dun­gen im Ber­eich der Wirt­schaft geht, um Fra­gen der Welt­wirt­schafts­ord­nung, oder um das Pro­blem § 218 und vie­le an­de­re Kon­tro­ver­sen ähn­li­cher Art – wer woll­te da ver­bind­lich be­haup­ten, die ei­ne Ent­schei­dung wür­de dem Wil­len Got­tes ent­spre­chen, die an­de­re da­ge­gen nicht?!

Die Fra­ge er­hebt sich dann eben: „Wel­ches ist die Quel­le un­se­rer Got­tes­er­kennt­nis? Wie kön­nen wir den Wil­len Got­tes er­ken­nen?“ Wir ha­ben die Bi­bel Al­ten und Neu­en Te­sta­ments. Je­re­mia und die Men­schen sei­ner Zeit hat­ten die Bi­bel nicht. Die bi­bli­sche Ge­schich­te war ja noch in vol­lem Gan­ge. Es gab da­mals schon re­li­gi­ö­se Tra­di­tio­nen, kul­ti­sche Vor­schrif­ten, Ge­schich­ten von Got­tes­er­fah­run­gen, auch ethi­sche Re­ge­lun­gen, Ge­bo­te und Ge­set­ze. Träu­me will Je­re­mia als Quel­le der Got­tes­er­kennt­nis aus­schlie­ßen, wo­hin­ge­gen an an­de­ren Stel­len des Al­ten und auch des Neu­en Te­sta­ments Träu­me durch­aus als Quel­le der Got­tes­mit­tei­lun­gen ak­zep­tiert sind, den­ken wir bei­spiels­wei­se an die Träu­me Jo­sefs in Ägyp­ten.

Das ei­ge­ne Herz als Quel­le der Got­tes­er­kennt­nis schließt Je­re­mia eben­falls aus.

Die Fra­ge bleibt: „Wo­her neh­men wir un­se­re Got­tes­er­kennt­nis?“ Wenn wir nun an die Bi­bel den­ken, dann ha­ben wir hier si­cher­lich schon ei­ne gu­te Grund­la­ge. Aber auch hier liegt der Wil­le Got­tes nicht so oh­ne Wei­te­res zu­ta­ge. Die Bi­bel ist ein um­fang­rei­ches kom­pli­zier­tes li­te­ra­ri­sches Werk - im Lau­fe vie­ler Ge­ne­ra­tio­nen über ei­nen Zei­traum von et­wa 1000 Jah­ren ent­stan­den, vol­ler un­ter­schied­li­cher Got­tes­bil­der, vom Mann, der im Gar­ten spa­zie­ren geht – wie in der Pa­ra­die­ses­ge­schich­te – bis zum ab­strak­ten Got­tes­bild spä­te­rer Ge­ne­ra­tio­nen. Ein li­te­ra­ri­sches Werk auch vol­ler Wi­der­sprü­che. Aus die­sem Buch lässt sich kei­ne ein­deu­ti­ge Er­kennt­nis her­aus­zie­hen, kei­ne kon­kre­te Ant­wort auf die vie­len kon­kre­ten Fra­gen un­se­res täg­li­chen in­di­vi­duel­len und ge­sell­schaft­li­chen Le­bens.

Was der Wil­le Got­tes ist, das müs­sen wir für uns im­mer neu er­ar­bei­ten, je­de Ge­ne­ra­tion und je­der Ein­zel­ne von uns, im Zu­sam­men­hang mit dem Bi­bel­text und nach be­stem Wis­sen und Ge­wis­sen. Und im­mer vor­be­halt­lich des Irr­tums. Un­ser Got­tes­bild wird im­mer ei­nen sub­jek­ti­ven, ei­nen ein­sei­ti­gen und bruch­stück­haf­ten Char­ak­ter ha­ben. Sie ken­nen ja wahr­schein­lich das  Bild vom Ele­fan­ten und den Blin­den: Die Blin­den be­ta­sten den Ele­fan­ten und ver­su­chen her­aus­zu­be­kom­men, was das wohl für ein We­sen sein mag. Je­der kommt zu un­ter­schied­li­chen Schlüs­sen, je nach dem, wer ge­ra­de wel­ches Teil vom Ele­fan­ten zu fas­sen hat. Kei­ner er­fasst die gan­ze Wahr­heit des Ele­fan­ten. Wenn sich al­le zu­sam­men­tä­ten, dann kä­men sie der Wahr­heit si­cher­lich et­was nä­her.

So geht es uns auch mit un­se­rer Got­tes­er­kennt­nis. Je­der kann sich nur um ein best­mög­li­ches Ver­ständ­nis be­mü­hen. Und wir müs­sen uns ge­gen­sei­tig in un­se­ren je be­son­de­ren Ein­sich­ten re­spek­tie­ren.

Bei die­sem ge­gen­sei­ti­gen Re­spekt wird es dann si­cher­lich auch ei­ne Rol­le spie­len, in­wie­weit das, was wir aus­sa­gen, sich in un­se­rem kon­kre­ten Le­ben wie­der­fin­den lässt, oder ob un­ser Le­ben un­se­ren Aus­sa­gen viel­leicht wi­der­spricht. Je­re­mia weist auf die Le­bens­füh­rung der Pro­phe­ten, der fal­schen Pro­phe­ten, hin als ei­nes der In­di­zien da­für, dass ih­re Aus­sa­gen nicht dem Wort und dem Wil­len Got­tes ent­spre­chen kön­nen. Die­ses Pro­blem der Glaub­wür­dig­keit im Sin­ne des Zu­sam­men­hangs zwi­schen Ver­kün­di­gung und Le­bens­füh­rung kön­nen wir hier nicht aus­di­sku­tie­ren. Das Pro­blem wird durch un­se­ren Text aber auf­ge­wor­fen. Es ist loh­nend, hier­ü­ber wei­ter nach­zu­den­ken.

Auf die Fra­ge, wel­ches denn nun der Wil­le Got­tes ist, ge­ben uns die heu­ti­gen Le­sun­gen, Epi­stel und Evan­ge­li­um, zwei Ant­wor­ten. Die Epi­stel sagt: „Gott ist die Lie­be.“ Und das Evan­ge­li­um vom rei­chen Mann und dem ar­men La­za­rus zeigt auf, dass das Ein­tre­ten für den Schwa­chen dem Wil­len Got­tes ent­spricht. Da­mit zei­gen uns Epi­stel und Evan­ge­li­um die Rich­tung an.

Die Pro­phe­ten als Teil der gei­sti­gen und geist­li­chen Füh­rer­schaft ha­ben nach Ein­schät­zung von Je­re­mia an­ge­sichts der na­tio­na­len Pro­ble­me sei­ner Zeit ver­sagt. Die­se Kri­tik mag uns an­re­gen dar­ü­ber nach­zu­den­ken, in­wie­weit wir un­se­rem pro­phe­ti­schen Auf­trag, un­se­rer gei­sti­gen und geist­li­chen Ver­ant­wor­tung in der Ge­sell­schaft nach­kom­men, und jetzt mei­ne ich nicht nur den Pa­sto­ren­stand. Es gibt das Prie­ster­tum al­ler Gläu­bi­gen. Und ich mei­ne, es gibt auch das Pro­phe­ten­tum al­ler Gläu­bi­gen. Es ist gut, dass in der Prä­am­bel un­se­res Grund­ge­set­zes die Ver­ant­wor­tung vor Gott be­nannt ist. Wir al­le tra­gen ei­ne Mit­ver­ant­wor­tung für un­se­re Ge­sell­schaft, ei­ne Ver­ant­wor­tung vor Gott, die wahr­zu­neh­men wir al­le be­ru­fen sind.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 5. Juni 1994)

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