Wahre Propheten?
5. Juni 1994
1. Sonntag nach Trinitatis
Jeremia 23,16-29
In diesem Text ist von - wenn ich das einmal so persönlich sagen darf - von Berufskollegen die Rede, von Propheten. Nun werden Sie sich innerlich vielleicht amüsieren, wenn ich den Pastorenstand, mich selbst eingeschlossen, zu den Propheten zähle.
Priester und Propheten waren in alttestamentlicher Zeit die beiden Berufsgruppen, die für die religiösen Dinge zuständig waren. Die Priester nahmen sich der Religion mehr in der formalisierten, geordneten Form des Kultus an, des Gottesdienstes, der Rituale. Die Propheten vertraten dagegen mehr die freie Religiosität, das Spontane, die Inspiration, die intuitive Auslegung der Wirklichkeit mit all den Schlussfolgerungen, die daraus für das Leben des Volkes und des Einzelnen zu ziehen waren.
Das Bild des Propheten im Alten Testament ist ein sehr vielfältiges. Prophet ist da nicht gleich Prophet. Es würde aber zu weit gehen, wenn wir uns damit an dieser Stelle im Einzelnen befassen wollten.
Jedenfalls nehmen wir als Pastoren von Berufs wegen beide Funktionen wahr – die priesterliche und die prophetische, die Durchführung des Gottesdienstes und die Auslegung der Lebenswirklichkeit. Von daher können wir bei der Beschäftigung mit dem heutigen Text durchaus auch den Pastorenstand im Hinterkopf haben.
Das Thema unseres Textes sind die falschen Propheten. Jeremia, der ja selbst Prophet war, trägt uns hier eine harsche Kritik vor. Er nimmt sehr kritisch Stellung zu den Äußerungen der Propheten und zu ihrem Lebenswandel. Er spricht dem Prophetenstand zu einem weiten Teil die Glaubwürdigkeit ab.
Was viele der Propheten von sich geben, so Jeremia, ist nicht glaubwürdig, weil es im Widerspruch zu ihrem Lebenswandel steht. Viele derjenigen, die sich Propheten nennen, tun das Böse; ihre Stärke ist die Ungerechtigkeit. Sie lügen und betrügen, sie brechen die Ehe, sie sind auf ihren eigenen Vorteil aus.
Was sie predigen, so Jeremia, ist nicht das Wort, der Wille Gottes. Es sind ihre eigenen Erfindungen. Aus ihren Träumen schöpfen sie. Sie sagen das, was ihnen nützlich erscheint. Sie reden denen nach dem Mund, von denen sie sich Vorteile erhoffen. Selbst den Gottlosen schmeicheln sie und machen ihnen Mut.
Es ist offensichtlich, dass sich Jeremia hier nicht ruhig und ausgewogen äußert. Seine Äußerungen sind kämpferisch. Sie sind polemischer Natur. Sie spiegeln die schwierige Situation seines Volkes wider, die Erfahrung nationalen Unglücks, die Erfahrung von Fremdherrschaft, die Erfahrung der Zerstörung der Heimat, die Erfahrung der Vertreibung, des Exils. Die Äußerungen des Jeremia sind zudem Ausdruck des Versuchs, Erklärungen zu finden, Verantwortliche, Schuldige zu benennen. Jeremias Worte sind auch Ausdruck des Wunsches, einen besseren Weg aufzuzeigen, zur Umkehr aufzurufen und weiteres Unglück zu verhindern.
Wir befinden uns z. Z. in Deutschland nicht in einer Situation nationalen Unglücks. Natürlich gibt es auch hier und jetzt jede Menge Probleme. Wenn ich mir aber vorstelle, ich stünde nun irgendwo in Ex-Jugoslawien auf der Kanzel, da wäre es schon eine der Situation des Jeremia vergleichbare Herausforderung, zu den nationalen Problemen Stellung zu beziehen und auch die Frage zu stellen, wie weit die geistigen und geistlichen Führer des Volkes ihrer Verantwortung für das Wohlergehen der ihnen Anvertrauten nachgekommen sind, wie weit sie eigenen Interessen nachgegangen sind, wie weit sie ohne Rücksicht auf die Folgen denen nach dem Mund geredet haben, deren destruktive Absichten sie hätten erkennen müssen.
Wir haben in unserem Volk Situationen nationalen und noch weit größeren Unglücks erlebt und haben auch da die Frage nach der Verantwortung der geistigen und geistlichen Führer gestellt. Männer unserer evangelischen Kirche hatten nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches ein Schuldbekenntnis abgelegt und sich darin selbst angeklagt, „nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt zu haben“. Der damalige Landesbischof Wurm nahm in dem Zusammenhang übrigens direkt Bezug auf die alttestamentlichen Propheten, die wahren Propheten, indem er sagte: „Mir scheint, wir müssten uns ganz schlicht an das Vorbild der großen Propheten Israels halten, die die tiefste Ursache allen nationalen Unglücks im Verlassen des lebendigen Gottes, im Übertreten seiner Gebote ... gesehen haben.“
Wie gesagt: Wir befinden uns im Augenblick nicht in einer solchen offensichtlichen nationalen Unglücks- und Unrechtssituation. Das macht dann hinsichtlich des Umgangs mit unserem Text schon einen Unterschied.
Was das Wort und der Wille Gottes ist, lässt sich gegenüber einer krassen Unrechtssituation noch verhältnismäßig leicht bestimmen. Wo Menschen gefoltert werden, können wir klar sagen: „Das soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Wo Menschen wegen ihrer Hautfarbe benachteiligt werden, können wir deutlich sagen: „Das widerspricht dem Willen Gottes.“ Und wo Menschen von Staats wegen daran gehindert werden, von einem Land in das andere zu reisen, wie in der ehemaligen DDR, da können wir sagen: „Das kann nicht der Wille Gottes sein.“
Wenn es aber um die vielen täglichen Konflikte in unserer Gesellschaft geht, um Entscheidungen im Bereich der Sicherheit – ob z. B. deutsche Truppen im Ausland eingesetzt werden sollen oder nicht, oder wenn es um Entscheidungen im Bereich der Wirtschaft geht, um Fragen der Weltwirtschaftsordnung, oder um das Problem § 218 und viele andere Kontroversen ähnlicher Art – wer wollte da verbindlich behaupten, die eine Entscheidung würde dem Willen Gottes entsprechen, die andere dagegen nicht?!
Die Frage erhebt sich dann eben: „Welches ist die Quelle unserer Gotteserkenntnis? Wie können wir den Willen Gottes erkennen?“ Wir haben die Bibel Alten und Neuen Testaments. Jeremia und die Menschen seiner Zeit hatten die Bibel nicht. Die biblische Geschichte war ja noch in vollem Gange. Es gab damals schon religiöse Traditionen, kultische Vorschriften, Geschichten von Gotteserfahrungen, auch ethische Regelungen, Gebote und Gesetze. Träume will Jeremia als Quelle der Gotteserkenntnis ausschließen, wohingegen an anderen Stellen des Alten und auch des Neuen Testaments Träume durchaus als Quelle der Gottesmitteilungen akzeptiert sind, denken wir beispielsweise an die Träume Josefs in Ägypten.
Das eigene Herz als Quelle der Gotteserkenntnis schließt Jeremia ebenfalls aus.
Die Frage bleibt: „Woher nehmen wir unsere Gotteserkenntnis?“ Wenn wir nun an die Bibel denken, dann haben wir hier sicherlich schon eine gute Grundlage. Aber auch hier liegt der Wille Gottes nicht so ohne Weiteres zutage. Die Bibel ist ein umfangreiches kompliziertes literarisches Werk - im Laufe vieler Generationen über einen Zeitraum von etwa 1000 Jahren entstanden, voller unterschiedlicher Gottesbilder, vom Mann, der im Garten spazieren geht – wie in der Paradiesesgeschichte – bis zum abstrakten Gottesbild späterer Generationen. Ein literarisches Werk auch voller Widersprüche. Aus diesem Buch lässt sich keine eindeutige Erkenntnis herausziehen, keine konkrete Antwort auf die vielen konkreten Fragen unseres täglichen individuellen und gesellschaftlichen Lebens.
Was der Wille Gottes ist, das müssen wir für uns immer neu erarbeiten, jede Generation und jeder Einzelne von uns, im Zusammenhang mit dem Bibeltext und nach bestem Wissen und Gewissen. Und immer vorbehaltlich des Irrtums. Unser Gottesbild wird immer einen subjektiven, einen einseitigen und bruchstückhaften Charakter haben. Sie kennen ja wahrscheinlich das Bild vom Elefanten und den Blinden: Die Blinden betasten den Elefanten und versuchen herauszubekommen, was das wohl für ein Wesen sein mag. Jeder kommt zu unterschiedlichen Schlüssen, je nach dem, wer gerade welches Teil vom Elefanten zu fassen hat. Keiner erfasst die ganze Wahrheit des Elefanten. Wenn sich alle zusammentäten, dann kämen sie der Wahrheit sicherlich etwas näher.
So geht es uns auch mit unserer Gotteserkenntnis. Jeder kann sich nur um ein bestmögliches Verständnis bemühen. Und wir müssen uns gegenseitig in unseren je besonderen Einsichten respektieren.
Bei diesem gegenseitigen Respekt wird es dann sicherlich auch eine Rolle spielen, inwieweit das, was wir aussagen, sich in unserem konkreten Leben wiederfinden lässt, oder ob unser Leben unseren Aussagen vielleicht widerspricht. Jeremia weist auf die Lebensführung der Propheten, der falschen Propheten, hin als eines der Indizien dafür, dass ihre Aussagen nicht dem Wort und dem Willen Gottes entsprechen können. Dieses Problem der Glaubwürdigkeit im Sinne des Zusammenhangs zwischen Verkündigung und Lebensführung können wir hier nicht ausdiskutieren. Das Problem wird durch unseren Text aber aufgeworfen. Es ist lohnend, hierüber weiter nachzudenken.
Auf die Frage, welches denn nun der Wille Gottes ist, geben uns die heutigen Lesungen, Epistel und Evangelium, zwei Antworten. Die Epistel sagt: „Gott ist die Liebe.“ Und das Evangelium vom reichen Mann und dem armen Lazarus zeigt auf, dass das Eintreten für den Schwachen dem Willen Gottes entspricht. Damit zeigen uns Epistel und Evangelium die Richtung an.
Die Propheten als Teil der geistigen und geistlichen Führerschaft haben nach Einschätzung von Jeremia angesichts der nationalen Probleme seiner Zeit versagt. Diese Kritik mag uns anregen darüber nachzudenken, inwieweit wir unserem prophetischen Auftrag, unserer geistigen und geistlichen Verantwortung in der Gesellschaft nachkommen, und jetzt meine ich nicht nur den Pastorenstand. Es gibt das Priestertum aller Gläubigen. Und ich meine, es gibt auch das Prophetentum aller Gläubigen. Es ist gut, dass in der Präambel unseres Grundgesetzes die Verantwortung vor Gott benannt ist. Wir alle tragen eine Mitverantwortung für unsere Gesellschaft, eine Verantwortung vor Gott, die wahrzunehmen wir alle berufen sind.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 5. Juni 1994)