Politisches Kalkül und göttlicher Plan
26. März 1997
Passionsandacht
„Pilatus“
Matthäus 27,11-26
Pilatus, Vertreter der staatlichen Macht, Vertreter der Besatzungsmacht. Pilatus, die oberste richterliche Instanz. Pilatus, der Politiker. Pilatus, der Ehemann.
Pilatus im Entscheidungszwang zwischen den Führern der Religion, dem Volk, seiner Frau, dem Kaiser und dem Christus. Politik ist die Kunst des Möglichen. Eine Lösung finden, die die Macht sichert, die die Ruhe im Land erhält, die alle, die etwas zu sagen haben, zufriedenstellt, die möglichst auch den Frieden im Privaten nicht gefährdet.
Ein fremder Konflikt war an Pilatus herangetragen. Was gingen ihn die Streitereien unter den Juden an?! Aber entscheiden musste er.
Die Bevölkerung war aufgewühlt, das war ein Fakt - und da war Handlungsbedarf. Die obersten religiösen Instanzen der Juden hatten ihr Urteil gefällt, ob im Sinne der Bevölkerung, ob gegen die Bevölkerung, das war für ihn nicht zu erkennen. Das Volk war gespalten, das war klar, aber auf welcher Seite war die Mehrheit?
Und diese sonderbare Gestalt, die alle Unruhe ausgelöst hatte? Eigentlich eine unscheinbare Person, mit einem kleinen Häuflein Getreuer. Von solchen Gruppen gab es einige im Land, die meinten, die Wahrheit gefunden zu haben, die meinten, die Welt verbessern zu müssen. Egal, solange sie keine Gewalt anwenden! Denn die gab’s ja auch, die Zeloten. Wahrheit hin, Wahrheit her, das kann nicht Sache der Politik sein.
Eigentlich irgendwie beeindruckend - diese unscheinbare Person. Wäre wohl interessant gewesen, sich mit diesem Menschen mal zu unterhalten. Musste ja irgendwie was dran sein an ihm, wenn er die Gemüter so sehr erregte. Aber sich mal ein bisschen mit ihm unterhalten, war nicht drin. Die Zeit war nicht mehr da. Und außerdem: Er sagte ja nichts. „Hörst du nicht, wie hart sie dich verklagen?“ Keine Antwort, nicht mal zur eigenen Verteidigung.
Jetzt mussten Prioritäten gesetzt werden. Die aufgeheizten Emotionen runterkochen - das ging nur mit einer schnellen Entscheidung. Ruhe im Land der Juden - das konnte der Kaiser in Rom von ihm als Statthalter erwarten.
Möglichst gute Zusammenarbeit mit den obersten Autoritäten des besetzten Landes. Soweit irgend möglich mussten die Hohepriester zufriedengestellt werden. Aber natürlich nur so weit, wie noch ein Konsens zwischen ihnen und dem Volk besteht. Wenn da landesinterne Konflikte bestehen, dann heißt es, auf der Hut sein. Da gilt es festzustellen, wer die Macht hat. Wichtig ist es schon, die Mehrheit der Bevölkerung nicht zu sehr zu provozieren.
Aber sich möglichst aus internen Konflikten heraushalten. Möglichst die Entscheidung auf die streitenden Parteien selbst verlagern. So sieht seine Frau das offenbar auch. Und ihr zu widersprechen, wäre auch nicht gut. Offenbar hat diese Gestalt, dieser sogenannte „Gerechte“, auch sie irgendwie beeindruckt, wenn sie seinethalben schon Träume hat.
Also: Sich raushalten, andere entscheiden lassen und dabei die Führer und das Volk auf eine Linie bringen. Den Angeklagten selbst kann man eh vergessen. Er hat seine Chance gehabt. Er hat auf eine eigene Stellungnahme verzichtet.
Die Lösung war genial. Das war Politik erster Güte. Gewiss hat Pilatus auch ein wenig Glück gehabt. Jetzt kam ihm eine schon traditionelle Gewohnheit gut zupass: Aus Anlass des Festes ließ er traditionell einen Gefangenen frei - und wen, das konnte jeweils das Volk selbst entscheiden. So konnte er also wie selbstverständlich das Volk entscheiden lassen: „Welchen wollt ihr? Wen soll ich freilassen? Barrabas oder Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus?“
Die Hohepriester hatten für eine Antwort in ihrem Sinne schon vorgearbeitet. Sie hatten das Volk überredet, um Barrabas zu bitten.
Also schreien die Leute: Barrabas! Und um die Entscheidung zum Ende zu bringen, Pilatus: „Was soll ich denn machen mit dem anderen, mit Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus?“ Sie schreien: „Lass ihn kreuzigen!“
Besser hätte die Sache gar nicht laufen können - für Pilatus. Das Volk hat entschieden - und dies im Einvernehmen mit ihren Obersten.
Das aber wollte er den Leuten noch einmal ganz deutlich vor Augen führen - für alle Fälle: dass es ihre Entscheidung war und nicht seine: Er ließ eine Schüssel Wasser kommen und wusch sich vor den Augen aller die Hände und sagte: „Dies war eure Entscheidung. Ich wasche meine Hände in Unschuld.“
So musste für alle die Sache ganz klar sein. Und auch seiner Frau würde dieses Vorgehen gefallen.
Politik ist die Kunst des Möglichen. Ob diesem Menschen, diesem Jesus, dem angeblichen Christus, Gerechtigkeit widerfahren ist? Vielleicht hat Pilatus diese Frage zuhause im Kreis der Familie noch ein wenig hin und her bewegt. Über die Wahrheit kann die Politik jedenfalls nicht verfügen. Und auch Gerechtigkeit kann im Sinne der Politik nur das sein, was die Zustimmung der Mehrheit findet, was die Ruhe im Lande sichert und die Macht erhält. So wird Pilatus das - ganz irdisch - gesehen haben.
Der da hingerichtet wurde, hatte aber eine größere und schönere - eine himmlische - Botschaft. Sie schien der politischen Vernunft zum Opfer gefallen zu sein. Aber dies war nur vorübergehend. Pilatus meinte, Frieden geschaffen zu haben - auf die Weise, die seinem Amt entsprach. Aber der Friede Gottes ist höher als die politische Vernunft.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 26. März 1997)