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2. Sonntag nach Trinitatis (9.6.24)


 Mit Jesus Christus Grenzen überwinden

15. Juni 1980

2. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 2,17-22 


Jesus Christus ist eine Integrationsfigur. Was ist das – eine Integrationsfigur?  Unser Text sagt: „Jesus Christus hat in sich selber aus zwei Menschen einen neuen Menschen geschaffen und so Frieden zwischen beiden gestiftet.“ Mit den beiden Menschen sind die Juden einerseits und andererseits die Nichtjuden bzw. Heiden, wie sie im Neuen Testament genannt werden, gemeint.

Paulus sagt: „Jesus Christus hat den Zaun zwischen Juden und Nichtjuden abgerissen. Er hat die Feindschaft zwischen ihnen beendet.“ Er hat die ehemaligen Feinde zusammengeführt, hat Freunde aus ihnen gemacht.

Paulus muss es wissen. Er hatte als strenggläubiger Jude die vom rechten Glauben abgefallenen Juden, nämlich die Christen, verfolgt. Das sind für ihn Ketzer gewesen, bis ihm eines Tages die Augen aufgingen. Er lernte Jesus Christus als denjenigen kennen, der auch noch seinen ärgsten Feind als Bruder anzusprechen bereit war. Das hatte ihn, Paulus, zutiefst angesprochen. Das hatte ihn im Innersten so gepackt, dass er nicht weitermachen konnte wie bisher. Er kehrte um. Aus einem Feind der Christen wurde ein Freund der Christen. Paulus ließ sich taufen und wurde selbst Christ. Er hatte seitdem ein besonderes Verständnis für diejenigen, die dem christlichen Glauben fernstanden, die vom christlichen Glauben nichts wussten oder auch nichts wissen wollten.

Er machte es sich zur Lebensaufgabe, auf solche Menschen, solche Außenstehenden zuzugehen. Er war bei diesem Unternehmen von der Zuversicht erfüllt, dass er mit der Botschaft von Jesus Christus die Grenzen zwischen sich und den Fremden, den Andersdenkenden würde überwinden können.

Für Paulus ist Jesus eine Integrationsfigur, ein Mensch, der andere Menschen zusammenführen kann, auch und gerade ganz gegensätzliche Menschen, Menschen unterschiedlichen Herkommens, unterschiedlicher Denkweise. Ein Mensch, der nicht nur andere zusammenführen kann, sondern das auch ausgiebig getan hat, der dies zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, der sich dafür aufgeopfert hat, der für dieses Werk der Versöhnung sogar gestorben ist.

Es gibt Menschen, die keine Integrationsfiguren sind. Die verschärfen schon vorhandene Gegensätze oder schaffen gar noch neue. Es gibt Menschen, die polarisieren, die rufen bei den einen stürmische Begeisterung, bei den anderen totale Ablehnung hervor. Vielleicht kennen Sie solche Menschen aus ihrem privaten Bereich, aus dem Bereich der Kirche oder vielleicht am ehesten aus dem Bereich der Politik.

Wir können noch einmal kritisch zurückfragen, ob Jesus Christus wirklich eine Integrationsfigur ist. Er hat in gewisser Weise auch polarisiert. An ihm schieden und scheiden sich die Geister. Er hat ja immerhin einen Teil der damaligen Bevölkerung, eine einflussreiche Schicht, mit seinem Auftreten so sehr provoziert, so starke Ablehnung hervorgerufen, dass man ihn für die Gesellschaft nicht mehr für tragbar hielt und ihn beseitigte.

Wir kennen ja auch so harte Sätze von ihm wie diese: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen eigene Hausgenossen werden seine Feinde sein.“ Und es wird gesagt, dass durch ihn die Spreu vom Weizen getrennt wird.

Das sind Töne, die in erheblichem Widerspruch zu dem zu stehen scheinen, was uns Paulus über Jesus Christus als Integrationsfigur mitteilt.

Was also, so müssen wir noch einmal fragen, ist eine Integrationsfigur? Ist das ein Mensch ohne eigene Position, ohne eigene Persönlichkeit, einer, der sich an jeden anpassen kann, der die Kunst beherrscht, es allen recht zu machen, vielleicht einer, der jedem nach dem Munde redet, der sich geschickt mit dem Wind in jede beliebige Richtung drehen kann, einer, der die Kunst des Kompromisses beherrscht, einer, der alles gelten lässt, dem alles recht ist, einer, für den die äußere Ruhe oberste Bürgerpflicht ist?

Wir spüren gleich: Auf Jesus Christus wollen diese Merkmale jedenfalls nicht passen: Er ist nicht diese schwammige, anpassungsfähige, jedem Druck nachgebende Gestalt. Er ist nicht eine gesichtslose Knetmasse, die jeder nach Herzenslust formen kann. Er ist kein unverbindlicher Schönwetterredner.

Aber diese Merkmale machen eben auch nicht die Integrationsfigur aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein solcher „Herr für jedermann“ wirklich Menschen unterschiedlicher Art zusammenführen kann.

Eine Integrationsfigur muss schon eine starke eigene Persönlichkeit sein und eine klar erkennbare, überzeugend dargebotene Eigenart haben. Und diese Eigenart muss zur Identifikation herausfordern. Für die Jugendlichen von gestern waren die Beatles als Gruppe eine Integrationsfigur. Diese Gruppe hatte gewiss eine stark ausgeprägte Eigenart, in ihrer Musik, aber auch in ihrem ganzen Auftreten. Jugendliche in aller Welt und aus allen gesellschaftlichen Schichten fühlten sich durch ihre Art im Innersten angesprochen. Wo es um das Thema Beatles ging, wo ihre Musik erklang, wo ihr Bild zu sehen war, da wurde unter Jugendlichen ein Gefühl der Verbundenheit wach, z. T. ist es ja noch jetzt so. Gewisse bei Jugendlichen überall vorhandene Empfindungen, Sehnsüchte, Hoffnungen fanden in dieser Gruppe ihren Ausdruck. Sie ist damit zum Symbol geworden, zu einem Symbol, das die Kraft hatte, Menschen, Jugendliche, die sich ansonsten in vielem unterscheiden, zusammenzuführen.

Es gibt noch eine andere Art von Integrationsfigur, die uns auch gut bekannt ist, nämlich eine Person, die in der Lage ist, Menschen zu vereinen durch ein gemeinsames Feindbild. Wenn eine Person überzeugend den Antikapitalismus vertritt, kann es sein, dass viele Menschen, die sich ansonsten in vielem unterscheiden, durch das Auftreten dieser Person geeint werden. Genauso kann es gehen mit Personen, die ganz ausgeprägt den Antikommunismus verkörpern oder überhaupt ein sonstiges „Anti“.

Eine Integrationsfigur muss also schon eine starke Eigenpersönlichkeit sein und eine stark ausgeprägte eigene Position haben, die dann zur Identifikation herausfordert.

Dies trifft auch für Jesus Christus zu. Er ist aber eine Integrationsfigur in einem viel umfassenderen Sinne als die beiden bisher genannten. Ihm geht es nicht um eine Teilintegration. Er will nicht nur Jugendliche zusammenführen. Und er will Menschen nicht dadurch zusammenführen, dass er sie gegen andere abgrenzt. Er möchte alle Menschen, Jung und Alt, Freund und Feind zusammenbringen. Wie ist so etwas überhaupt möglich? Wie ist dies durch Jesus Christus möglich? Ist dies nicht überhaupt unmöglich, zumal mit einer so umfassenden Vereinigung ein Stück Aufgabe der eigenen Art verbunden ist?

Ich möchte vier Merkmale nennen, die zu einer umfassenden Integration führen können – und ich sehe sie in Jesus Christus erfüllt:

Erstens ist es erforderlich, dass jeder Mensch in seiner besonderen Eigenart und jede von ihm vertretene Position ernst genommen wird. Die Respektierung des anderen und seiner persönlichen Einstellungen ist das Erste. Erst wenn das sichergestellt ist, kann als Zweites über die Unterschiede oder gar Gegensätze offen gesprochen werden, ohne dass einer das Gefühl haben muss, von dem anderen herabgesetzt zu werden.

Als Drittes der Aufruf zur Veränderung. Er darf nur so ergehen, dass dem anderen die Freiheit belassen wird, sich selbst zu entscheiden. Er darf nicht moralisch gezwungen werden. Die Entscheidung zur Veränderung muss eine ganz persönliche Entscheidung bleiben, die auf eigenen Empfindungen, Gefühlen, Überlegungen und Einsichten beruht. Und die Entscheidung zur Veränderung bei vielen ist überhaupt nur möglich, wenn als Viertes die Integrationsfigur Werte verkörpert, auf die sich alle gern zu einigen bereit sind, über alle sonstigen Unterschiede hinweg.

In Jesus Christus ist die Liebe zum Menschen verkörpert, die Annahme jedes Einzelnen ungeachtet seines gesellschaftlichen Standes, seines Geldbeutels, seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten, seiner moralischen Qualitäten und auch seines religiösen Herkommens. Er versteht diese Liebe zum Menschen als eine bedingungslose Vorgabe. Der Mensch findet sich als geliebtes Wesen vor, so, wie er sich schon als lebendes Wesen vorfindet. Und so, wie er sich das Leben nicht selbst gegeben hat, so hat er sich auch die Liebe nicht verdient. Sie ist ihm von vornherein gegeben. Sie ist in Jesus Christus verkörpert. Sie als Grundlage des Lebens überhaupt anzunehmen und sie ist der Anspruch, der von Jesus Christus ausgeht.

Jesus Christus richtet sich an jeden Menschen. Was er zu sagen hat, scheint mir geeignet, Menschen jeder Art zusammenzuführen und zu einer großen Gemeinschaft zu verbinden.

Es hat freilich immer Menschen gegeben, die an ihm Anstoß genommen haben, und vielleicht wird das so bleiben. Juden zur Zeit Jesu empfanden es als unerhört, dass plötzlich die Gnade wichtiger sein sollte als das Recht, dass die Vergebung den Vorrang haben sollte vor der Befolgung des Gesetzes. Sie empfanden die Verkündigung Jesu als umstürzlerisch und beseitigten ihn. Ebenso wurden später seine Anhänger immer wieder verfolgt.

Dennoch, die Kraft der Liebe ist stärker. Sie führt Menschen zusammen und wird es weiter tun: Juden und Nichtjuden, Christen und Nichtchristen, Schwarze und Weiße, Deutsche und Ausländer, Kommunisten und Kapitalisten, Arm und Reich, Mann und Frau, Jung und Alt. Daran glaube ich. Und daran möchte ich mitwirken, mitbauen an dem Haus, dessen Eckstein Jesus Christus ist, der alles zusammenhält, an dem Haus, in dem aus Gästen und Fremden alle zusammen Gottes Hausgenossen geworden sind.

(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 15. Juni 1980)

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