Der umkehrende Sohn
28. Juni 2009
3. Sonntag nach Trinitatis
Lukas 15,1-3.11b-32
Wir haben als Predigttext das Gleichnis vom verlorenen Sohn gehört. Wir könnten uns einmal fragen: „Warum wird es uns nicht erzählt als Gleichnis von der verlorenen Tochter? Und warum ist es nicht die Mutter, die das heimkehrende Kind in Empfang nimmt?“
Es ist der Vater, wohl weil dies ein Gleichnis ist: Der Vater steht für Gott. Und Gott wird uns in den biblischen Texten als Mann und insbesondere als Vater beschrieben. Und der Mann war in biblischer Zeit das Familienoberhaupt. Das war bis vor kurzem bei uns aber auch nicht viel anders. Als wir kürzlich auf das Jahr 1959 zurückschauten, haben wir festgestellt, dass bis vor fünfzig Jahren in Deutschland der Ehemann von Gesetz wegen das letzte Wort hatte.
Und warum nicht die verlorene Tochter? Die Töchter blieben tendenziell und traditionell vielleicht eher im Haus, waren nicht diejenigen, die in die Welt hinausgingen und die dafür auch noch einen Teil der Erbschaft hätten bekommen können. Heute streben auch junge Frauen in die weite Welt, Schülerinnen schon, die noch längst nicht volljährig sind. Da hat sich vieles geändert.
Aber das ist jetzt alles gar nicht das Thema.
Wir würden dieses Gleichnis missverstehen, wenn wir meinten, hier ginge es darum, davor zu warnen – die jungen Männer davor zu warnen, ihrer Abenteuerlust zu folgen und das Elternhaus zu verlassen, um etwas von der Welt kennenzulernen. Wenn das das Ziel des Gleichnisses wäre, dann sollten wir es lieber beiseitelegen. Denn im heimischen Nest hocken zu bleiben, das dürfen wir wirklich niemandem empfehlen.
Wer zu Hause bleibt und wenn das gut geht, dem sei das nicht schlechtgeredet. Aber wer in die Welt hinausstrebt, dem darf das auch nicht schlechtgeredet werden.
Es geht in dem Gleichnis auch nicht nur um Schuld und Vergebung. Ein bisschen kommt das auch vor. Aber mehr im Sinne von: „Der Junge hat selbst schuld daran, dass ihm das Geld ausgegangen ist. Er hätte ja nicht so leichtfertig und über die Maßen spendabel mit dem Geld umzugehen brauchen.“
Er hat sich aber nicht an irgendeiner dritten Person schuldig gemacht. Das Geld, das ihm der Vater ausgezahlt hatte, war sein rechtmäßiges Erbe. Damit konnte er machen, was er wollte.
Er war einfach leichtsinnig in der ersten Phase seiner Wanderschaft. In der zweiten Phase war er ganz anders. Er sah, dass er seinen Geldbeutel wieder füllen musste – durch eigener Hände Arbeit. Und zum Arbeiten war er bereit. Aber dann hatte er Pech. Er fand einfach keine Arbeit. Das war nicht seine Schuld. Die allgemeine wirtschaftliche Lage im Land war einfach schlecht. Das kennen wir ja in unserer Gesellschaft reichlich: dass jemand Arbeit sucht und keine findet. Es wäre dann gemein zu behaupten: „Der will ja gar nicht arbeiten. Und wenn er wollte, dann würde er Arbeit finden.“ So einfach ist das manchmal wirklich nicht.
Der junge Mann in unserem Gleichnis ist nicht nur bereit zu arbeiten. Er ist sogar bereit, die allerniedrigsten Dienste zu verrichten. Er arbeitet im Schweinestall und isst, was die Schweine fressen. Aber da muss er schließlich feststellen, dass er überfordert ist – und er sich selbst überfordert hat.
Er hat sich überschätzt und hat die Unbilden des Lebens unterschätzt. Er gerät ins Grübeln und gelangt dabei innerlich an einen Punkt, den wir jedem – auch uns selbst – nur wünschen können: Er wird bescheiden. Er wird demütig.
Er hat die Erfahrung gemacht, dass er die Dinge des Lebens nicht in der Hand hat. Das Leben hat ihm seine menschlichen und allzu menschlichen Grenzen aufgezeigt.
Diese schmerzliche Einsicht richtet ihn nicht völlig zugrunde. Er hat noch die Kraft, nach einem Ausweg zu suchen. Er besinnt sich auf seinen Vater. Es ist sein Glück, dass er mit seinem Zuhause gute Erinnerungen verbindet. Es gehört sicherlich auch zu den Überlebensstrategien des denkenden, mit dem Bewusstsein seiner selbst und seines Seins begabten Wesens Mensch, in der Krise nach einem Hort der Geborgenheit zu suchen. Das Gleichnis macht uns hierzu ein Angebot.
Vielleicht hat der junge Mann diese Rückbesinnung momentan als persönliche Niederlage empfunden. Aber vielleicht hat er dies dann auch als einen inneren Reifungsprozess akzeptiert: Ihm wurde zunehmend bewusst, dass der Anfang seines Lebens ein großes Geschenk gewesen war, geradezu paradiesisch, angefüllt mit dem, was für das Leben wichtig ist.
Er gibt sich keinen Illusionen hin. Er hat keine überzogenen Erwartungen, er hat keine Ansprüche. Er hat einfach nur die Hoffnung, dass er wieder aufgenommen wird und arbeiten und leben darf.
Die Lebenserfahrung hat ihn gelehrt, die Prioritäten neu zu setzen: es nämlich wertzuschätzen, überhaupt leben zu dürfen, überhaupt das Nötigste zu haben und neu geschenkt zu bekommen: das Leben selbst.
Er macht sich auf den Weg zurück, der nicht nur ein Weg zurück ist. Es wird, wenn überhaupt, nicht mehr so sein wie am Anfang. Die Unschuld im Sinne einer bloßen Naivität ist dahin. Das ist ja auch gut so.
Wenn er zuhause wieder aufgenommen werden sollte, dann würde er als gereifter Mensch in Dankbarkeit die Möglichkeiten annehmen, die ihm das Zuhause bietet.
Geknickt geht er dort hin, wo sein Leben begonnen hat. Wenn er dort ankommt, wird er dann vollends zerbrochen oder wird ihn der Vater wieder aufrichten und ihm eine neue Lebenschance geben?
Mit Hoffen und Bangen nähert sich der Sohn seinem Elternhaus.
Sie wissen, wie die Geschichte weitergeht: Der Vater nimmt den heimkehrenden Sohn mit Freuden auf und lässt ihm ein großes Fest ausrichten.
Es ist die Freude über ein Kind, das den Mut gehabt hat, sich auf die Quelle seiner Lebenskraft zu besinnen, das den Stolz der reinen Selbstbestimmung abgelegt und das wertzuschätzen gelernt hat, was ihm an Lebensgaben geschenkt wird.
Der heimgekehrte Sohn ist bereit, ein neues Leben anzufangen. Und der Vater ist bereit, ihm das neue Leben zu ermöglichen. Mit dem Wiedersehen feiert er die quasi zweite Geburt seines Sohnes.
Der Vater hätte sich auch anders verhalten können. Er hätte das tun können, was sein zweiter Sohn, der heimgebliebene, von ihm erwartet hatte: dass der Vater dem Heimkehrer die Leviten lesen würde und dass er ihn die Feldarbeit zum halben Lohn verrichten lassen würde, statt mit ihm ein großes Fest zu feiern.
Der heimgebliebene Sohn fühlt sich durch die freudige und festliche Wiederaufnahme des Bruders benachteiligt. Warum? Weil ihm nicht bewusst ist, wie reich er über all die Jahre beschenkt gewesen ist, in denen er auf dem elterlichen Hof hat arbeiten dürfen und in denen er sein tägliches Auskommen gehabt hat.
Er hat es immer gut gehabt. Und wir könnten hinzufügen: Das ist sein Problem. Er ist bisher vom Leben verwöhnt worden und weiß das Leben von daher nicht wirklich zu schätzen. Er nimmt es wie selbstverständlich. Das Leben hat ihn noch nicht genügend herausgefordert, um ihm die Augen zu öffnen für die Größe und Großartigkeit des Alltags.
Wenn es uns zu gut geht, bleibt uns manche Einsicht in dieses Leben vorenthalten. An schmerzlichen Erfahrungen können wir reifen.
Wir sollen uns das Leid nicht wünschen und es schon gar nicht verherrlichen. Es ist aber unvermeidlich, dass wir in der einen oder anderen Weise ins tiefe Tal hineingeraten. Die Frage ist: „Was dann?“ Wir sind oftmals geneigt zu fragen: „Warum gerade ich? Womit habe ich das verdient?“ Eine Frage nach der Gerechtigkeit im Leben. In vielen Fällen wird das Fragezeichen bleiben.
Und damit bleibt die Frage: „Was nun?“
Der junge Mann in unserem Gleichnis kann uns bei der Suche nach einer Antwort eine Hilfe sein. Ihm war auf dem Weg seines Lebens alles abhanden gekommen, was ihm wichtig gewesen war und was er zum Leben brauchte. Er stand vor dem Nichts. In dieser Situation ist er bereit – auch innerlich – loszulassen. Er hat die Hoffnung, vielleicht wieder neu beschenkt zu werden.
Was sich in seinem Inneren abspielt und was dann seine Füße zurücklenkt an den Ursprung seines Lebens, das soll uns zu denken geben: seine innere und äußere Umkehr.
Seine Hoffnung geht dann in Erfüllung. Das will uns das Gleichnis sagen: Gott ist barmherzig. Gott, der uns in dieses Leben hat hineingeboren werden lassen, in dieses Leben mit seinen Höhen und Tiefen, den verschlungenen Pfaden, den Großartigkeiten und dem mancherlei Schrecklichen. Gott, der uns erschaffen hat und nicht wir selbst, der uns vorgegeben hat, womit wir dann zurechtkommen müssen – mit uns selbst und anderen, mit dem, was und wie wir sind, und dem, was wir haben und nicht haben. Gott, der uns das Leben zugleich geschenkt und auferlegt hat.
Dieser Gott, der uns in dieses Leben hat hineingeboren werden lassen – er ist ein barmherziger Gott. Er nimmt uns in die Arme, wenn wir erschöpft sind und schenkt uns neue Kraft. Er richtet uns auf, wenn wir geknickt sind, er zeigt uns neue Wege, wenn wir in die Irre gegangen sind. Das soll unser Glaube und unsere Hoffnung sein: Gott ist barmherzig, Gott, die Quelle unseres Lebens. Zu ihm können wir immer zurückkehren. Er ist unser Zuhause. Und von da aus können wir immer wieder einen neuen Anfang wagen.
Gott, der Barmherzige, gebe uns, dass wir uns in Freud und Leid immer wieder auf ihn besinnen, uns ihm anvertrauen und uns das Leben immer wieder neu von ihm schenken lassen.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 28. Juni 2009)