Liebevolle Zuwendung statt Gold und Silber
26. März 2000
Okuli
(3. Sonntag in der Passionszeit)
1. Petrus 1(13-17)18-21
Vor ein paar Tagen habe ich mit den Pfadfindern zusammengesessen. Wir haben uns die biblischen Texte für den heutigen Sonntag angeschaut und haben gemeinsam festgestellt: „Schwierig, alles schwierig.“
Die Bibel ist kein leichtes Buch. Und gerade in der jetzigen Kirchenjahreszeit sind die Texte durchweg auch noch recht düster. Wir befinden uns ja in der Passionszeit, in der Leidenszeit. Es gilt in diesen Wochen, das Leiden Christi zu bedenken - und in dem Zusammenhang die Frage des menschlichen Wesens und Unwesens, die Frage der menschlichen Schuld.
„Wie sag ich’s meinem Kinde?“ Das ist für mich oftmals die Frage, wenn ich Kindern in unserer Gemeinde die Passionsgeschichte nahebringen soll, die ja auf die Kreuzigung Jesu hinausläuft. Heute, in diesem Gottesdienst, lautet die Frage etwas abgewandelt: „Wie sag ich’s jungen Leuten - wie sag ich’s euch?“ Wir sind dann auf einen Gedanken gestoßen, auf den werde ich mich jetzt konzentrieren. Dieser Gedanke ist enthalten in dem einen Satz des Predigttextes im Petrusbrief, Kapitel 1, da heißt es:
„Nicht mit vergänglichem Silber oder Gold seid ihr erlöst worden aus eurem nichtigen Leben, das ihr wie die Väter führtet, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, dem Blut eines unschuldigen und unbefleckten Lammes.“
Dieser Satzes ist ja auch immer noch ziemlich schwierig, aber da steckt doch ein Gedanke drin, der, wie ich finde, recht gut zu gebrauchen ist.
Hier wird zweierlei gegenübergestellt: Silber und Gold auf der einen Seite und das Leben bzw. Sterben Jesu Christi auf der anderen Seite. Und es heißt: „Nicht mit wertvollen Materialien seid ihr erlöst worden, sondern durch einen Menschen, durch den Menschen Jesus Christus.“
Zunächst zu dem Begriff „erlösen“: Wir sind erlöst worden, befreit worden. Damit ist das Grundthema der ganzen Bibel überhaupt angesprochen: dass der Mensch nämlich nicht so ist, wie er eigentlich sein sollte, und sich folglich die Frage stellt: „Wie kann dem Menschen geholfen werden, seine guten Seiten zu entfalten und schließlich doch so zu sein, wie es der Schöpfer wohl gemeint hat?“ Wie können wir erlöst werden von unseren problematischen Seiten, und wie können wir befreit werden zu unserer guten Bestimmung?
Wir wollen ja eigentlich meist das Gute, aber wir kriegen das oft einfach nicht hin. Ich zitiere gern immer wieder das kleine Kind, das etwas verzweifelt sagte, als es von der Mutter mal wieder gehörig ausgeschimpft wurde: „Ich möchte ja lieb sein, aber ich kann nicht.“ Paulus, der Apostel, hat dieses sonderbare Phänomen in einem seiner Briefe einmal etwas philosophischer formuliert mit dem Satz: „Das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“
Wir müssen ja zugeben, dass wir uns manchmal - ich sage das mal etwas salopp: dass wir uns manchmal - oder auch des Öfteren - danebenbenehmen, ziemlich danebenbenehmen. Von Menschen geht manchmal sogar ziemlich Schreckliches aus. Das ist schon immer so gewesen - und man hat auch das Gefühl: Das wird immer so bleiben. Dennoch können wir uns ja nicht abfinden mit den Dingen, wie sie sind, und mit dieser unserer Art, wie wir sind. Eltern versuchen folglich, ihre Kinder zu erziehen, Lehrkräfte versuchen, ihre Schülerinnen und Schüler hinzubiegen, Ihr bei den Pfadfindern versucht, wenn das heute noch so ist, wenigstens eine gute Tat am Tag zu vollbringen - und natürlich sollte jeder von uns an sich selbst arbeiten. Die Bibel ist voll von diesem Thema. Es geht immer und immer wieder um die Frage: Was soll man bloß mit diesem Menschen machen, der zum einen manchmal so genial und toll, der zum anderen dann aber auch wieder so abgrundtief schrecklich sein kann?
Die Sintflutgeschichte - Noah und die Arche, nicht wahr - die bringt ja praktisch zum Ausdruck, dass der Mensch - in Anführungszeichen - eine „Fehlproduktion“ gewesen ist. So haben sich das diejenigen wohl vorgestellt, die uns die Geschichte von der Sintflut überliefert haben. Gott muss sich, so haben sie das empfunden, bei der Erschaffung des Menschen irgendwie vertan haben. Daraufhin hat er alle wieder beseitigt und eine neue Schöpfung versucht mit der Familie Noahs. Dabei ist dann aber letztlich auch nichts Besseres herausgekommen.
Ich kann mir Gott so allerdings nicht vorstellen, dass er den fehlerhaften Menschen einfach beseitigt. Aber das war wohl damals die Interpretationen derjenigen, die zu Vorzeiten einen so katastrophalen - und wahrscheinlich noch schlimmeren - Regenguss erlebt haben, wie kürzlich die Menschen in Mozambik.
Aber später haben dann andere gesagt: „Nein, der Mensch mit seinen Fehlern, der muss auf anderem Wege auf den rechten Weg gebracht werden: durch Ermahnungen und durch Gebote und Verbote.“ Deshalb haben wir die zehn Gebote und die vielen Gesetze. Die sind letztlich, so sagt es die Bibel immer wieder, von Gott gegeben, damit wir sehen, wo es langgeht und langgehen soll.
Und so versuchen es ja eben z. B. Eltern mit ihren Kindern, und alle, die irgendwie auf andere erzieherisch einwirken: „Das darfst du, und das darfst du nicht - und wenn du das machst, dann passiert das und das.“ Und so geht das ja in unserer Gesellschaft überhaupt: Überall gibt es Gesetze und Regelungen und die Androhung von Strafen und das Versprechen von Belohnungen, damit wir das tun, was wir tun sollen, und das unterlassen, was wir nicht tun sollen.
So hundertprozentig funktioniert das aber nicht. Durch die zehn Gebote - und die gibt es ja immerhin schon über 2000 Jahre - ist der Mensch auch nicht besser geworden. Man kann im Gegenteil manchmal das Gefühl haben, dass Gesetze geradezu als Herausforderung empfunden werden, sie zu umgehen. Manchmal kann man den Eindruck haben, dass wir sie am liebsten auf die anderen anwenden statt auf uns selbst und wir die anderen gern auf ihre Fehler und Versäumnisse aufmerksam machen.
Gebote und Verbote machen den Menschen letztlich auch nicht besser. Sie verhindern vielleicht - manchmal jedenfalls - das Schlimmste. Es bleibt aber das Problem, dass der Mensch nicht so ist, wie er sein sollte. Die problematische Seite im Wesen des Menschen bleibt bestehen. Insofern bleibt auch die Frage: „Wie gehen wir mit diesem Tatbestand um? Wie gehen wir mit dem Mitmenschen um? Wie gehen wir mit uns selbst um?“ Wir hätten doch gern, dass alles besser würde, dass die anderen und dass wir selbst uns besserten.
An dieser Stelle kommt die Aussage des Neuen Testamentes herein, das Evangelium, auf Hochdeutsch: die „Frohe Botschaft“. Und was ist das Frohe an der frohen Botschaft? Das lässt sich in einem Stichwort zusammenfassen: „Vergebung“.
„Vergebung“: „Dir sind deine Sünden vergeben", das ist der Zuspruch des Neuen Testaments an den Menschen. Dieser erlösende und befreiende Zuspruch richtet sich an die ganze Menschheit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zeichenhaft verdichtet ist dieser Zuspruch im Kreuz. Jesus Christus lässt sich ans Kreuz nageln, als wollte er alle Strafen, die die Menschen aller Zeiten verdient hätten für ihre kleinen und großen Sünden, als wollte er alle Strafen stellvertretend auf sich nehmen und sagen: „So, nun seid ihr frei - nun macht doch mal einen neuen, unbelasteten Anfang. Versucht’s noch mal im Guten.“
Das ist unsere Chance. Wir dürfen uns das Kreuz täglich vor Augen halten als eine beständige Erinnerung: Uns ist vergeben, ein für alle Mal. Die Vergebung gilt für alle Zeiten, auch für das, was wir an Unrechtem demnächst erst noch tun werden. Es ist in diesem Sinne auch eine zuvorkommende Vergebung – so, wie für Eltern, die erst noch ein Kind erwarten, von vornherein klar ist: Wir werden unser Kind immer gern haben, auch wenn es dies und das und jenes anstellt, womit ja fest zu rechnen ist. Da haben Eltern auch schon im Vorwege ihrem vielleicht noch gar nicht geborenen Kind alles verziehen. Und verzeihen heißt eben: Nach begangenem Unrecht die Chance zur Umkehr und Besserung geben.
Ohne Vergebung geht es nicht. Denn wir sind nun mal keine Engel. Wir brauchen es, dass uns immer wieder verziehen wird. Jede Beziehung lebt vom gegenseitigen Verzeihen. Die Vergebung ist geradezu eine Grundvoraussetzung unseres Lebens. Sie wird in der Kirche rituell dargestellt - z. B. in der Taufe. Die Taufe ist sozusagen der rituelle Nachvollzug der uns in der Kreuzigung Jesu zugesprochenen Vergebung. Um es noch anders zu sagen: Das Wasser der Zerstörung, die Sintflut - das Wasser des Todes - verwandelt sich in Wasser des Lebens, das Taufwasser. Der sündhafte Mensch wird nicht vernichtet, sondern er wird zu einem neuen Leben befreit.
Natürlich kann Vergebung immer auch missbraucht werden, um dann erleichtert das Unrecht fortzusetzen. Aber dann nützt einem die Vergebung eben nichts. Die Vergebung ist ein Angebot. Wenn wir dieses nicht annehmen und die Chance nicht nutzen oder sie missbrauchen, dann ist dies zu unserem eigenen Schaden.
Nicht durch Gold und Silber sind wir erlöst worden, sondern durch die Hingabe Jesu Christi am Kreuz. Jesus hat die Vergebung nicht nur gepredigt. Er hat nicht nur gute Gedanken weitergegeben und hat seine Liebe - und Liebe muss man dieses Angebot der Vergebung wohl nennen - und hat seine Liebe auch nicht durch wertvolle Geschenke erwiesen. Er hat sich selbst - als Mensch - eingebracht und hingegeben.
Das möchte ich jetzt noch einmal unterstreichen, weil es für das Verständnis des Evangeliums und für unser christliches Leben und unseren christlichen Auftrag und für unsere ganze kirchliche Arbeit so wichtig ist: Die Liebe vollzieht sich durch persönliche Präsenz und Hingabe. Wenn Jesus Christus nur geredet hätte, dann könnten wir jetzt bestimmt nicht auf 2000 Jahre Christentum zurückblicken. Er hat mit den Menschen seiner Zeit mitgelebt und mitgelitten. Er hat sich ihrethalben in Gefahr begeben und hat den Tod am Kreuz auf sich genommen. Das hat seiner Glaubwürdigkeit die Nachdrücklichkeit verliehen.
Ich will den Sinn von Worten nicht mindern und will auch mein eigenes Predigen nicht entwerten. Aber die Tat im Sinne der mitlebenden, liebenden und mitleidenden Präsenz gehört grundlegend dazu. Sonst klingen Worte ganz schnell hohl.
Bei euch Pfadfindern geht es auch darum, dass Ihr miteinander durch Dick und Dünn geht, auf euren Freizeiten z. B., und die Leiter nicht nur irgendwo in der Ecke sitzen und gute Ratschläge geben. Präsent sein mit der eigenen Person, dem eigenen Leben, dem persönlichen Einsatz - das ist gemeint mit den Worten: „Nicht durch Gold und Silber hat euch Christus erlöst, sondern durch sein Leiden und Sterben am Kreuz.“
Damit ist uns der Leitfaden für die Nachfolge Jesu gegeben für unser christliches Leben und unser ganzes kirchliches und gemeindliches Wirken: liebevoll präsent zu sein.
(Predigt in der Christopheruskirche, Berlin-Friedrichshagen, am 26. März 2000)