Das Menschenmögliche ist längst nicht alles
7. Juni 1987
Johannes 16,5-15
Mit dem Pfingstfest wissen manche nicht recht etwas anzufangen. Manche haben Schwierigkeiten zu verstehen, was da eigentlich gefeiert wird. Ich möchte es kurz und einfach einmal so sagen: Zu Pfingsten feiern wir den wunderbaren Tatbestand, dass es eine weltweite Kirche gibt, dass es in allen Teilen der Welt Menschen gibt, die sich zu Jesus Christus bekennen, dass also wir, die wir hier beieinander versammelt sind, Teil einer sich über den ganzen Erdkreis ausbreitenden Gemeinschaft von Christen sind.
Kürzlich war ich während des Urlaubs mit meiner Familie in Genf. Wir waren unter anderem im Gebäude des Weltrates der Kirchen. Als wir dort in der Cafeteria unser Mittagessen einnahmen, saßen an den Tischen um uns herum die Mitarbeiter des Weltrates, des Lutherischen Weltbundes und anderer internationaler kirchlicher Vereinigungen, Frauen und Männer aus allen Teilen der Welt, Menschen jeder Hautfarbe, verschiedener nationaler Herkunft, Muttersprache, Rasse – alle vereint in diesem Gebäude um eines gemeinsamen Anliegens willen: Zeugnis davon abzulegen, dass der Glaube an Jesus Christus Menschen in aller Welt miteinander verbindet zu einer großen Gemeinschaft, zu einem einzigen großen Leib, den Leib Christi, den wir Kirche nennen.
Es ist den Anhängern Jesu Christi von vornherein klar gewesen, dass das Entstehen einer solchen umfassenden Gemeinschaft niemals reines Menschenwerk sein könnte. Als Jesus seine Jünger zu Himmelfahrt beauftragte: „Geht hin und macht zu Jüngern alle Völker!“, wird sich mancher seiner Jünger etwas verzagt gefragt haben: „Wie soll ich das anstellen?“ Und er wird sich getröstet haben mit den letzten Worten Jesu: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
Was sollten die Jünger denn über Jesus berichten? Wie sollten sie anderen vermitteln, was ihnen in Jesus begegnet war? Wir haben es einfach; wir haben im Neuen Testament bereits ausgefeilte Theologien, Christologien vor uns, die wir für unsere Verkündigung verwenden können. Aber die Jünger standen noch mit leeren Händen da. Sie hatten ihre Erfahrungen, gut, aber die wollten ja erst einmal verarbeitet sein. Und das war gewiss keine leichte Aufgabe für sie. Denn hin- und hergerissen waren sie durch ihre Erfahrungen.
Der Evangelist Johannes versucht in unserem Predigttext, ein wenig die innere Lage der Jünger nachzuzeichnen. Als Jesus noch bei ihnen war, aber seinen Abschied schon ankündigte, waren die Jünger traurig, und dies gewiss auch aus einer großen Unsicherheit heraus, wie es denn dann weitergehen sollte. Sie mochten gar nicht nachfragen: „Wohin gehst du denn?“ Und Jesus mochte ihnen auch zu dem Zeitpunkt noch keine weiteren Einzelheiten zumuten: „Ich habe euch noch viel zu sagen“, so seine Worte bei Johannes, „aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen.“
Hätten sie schon vorzeitig von der Kreuzigung Jesu etwas gewusst, dann wären sie eben schon frühzeitig zutiefst verunsichert gewesen. Also kurzum: Kreuzigung und dann Auferstehung Jesu, das waren schwere Brocken für die Jünger, für ihr eigenes Verständnis dessen, was eigentlich geschehen war. Und dann anderen davon so weiterzuerzählen, dass sie zum Glauben an Jesus als den Christus finden könnten, das war für sie eigentlich eine übermenschliche Aufgabe. Und für diese Aufgabe, wie überhaupt auch für ihr eigenes Verstehen, sagt Jesus ihnen den Beistand des Heiligen Geistes zu.
Der Heilige Geist ist die theologische Bezeichnung für die Kraft, Jesus Christus in seinem Sinne auszulegen und zu verkündigen und in seinem Sinne zu handeln. Dass es trotz der Einfachheit der Jünger, trotz ihrer Unsicherheiten und Zweifel und trotz all der widrigen Umstände, denen sie sich gegenübersahen, zur Bildung christlicher Gemeinden und schließlich zu einer weltweiten Kirche gekommen ist, das betrachten wir als ein Werk des Heiligen Geistes. Noch einmal mit anderen Worten: Das war kein reines Menschenwerk, das ist mehr, als Menschen sich selbst als Verdienst zurechnen können.
Der Heilige Geist wird von Johannes als Paraklet bezeichnet, also als jemand, der herbeigerufen wird zur Hilfe, zum Beistand, zur Fürsprache. Luther hat ihn auch übersetzt als Tröster.
Man mag die Geschichte der christlichen Kirche als Nachweis dafür nehmen, dass es den Heiligen Geist wirklich gibt. Natürlich hat es da auch viel schreckliches Handeln von Menschen gegeben, was auch die Ausbreitung von Kirche befördert hat: Taufe nicht nur mit Wasser und Wort, sondern auch mit dem Schwert. Aber das Wesen von Kirche ist doch bestimmt geblieben durch wahre Bereitschaft zur Umkehr, durch echtes Bemühen um ein Verstehen und Tun des Willens Gottes im Sinne Jesu Christi, durch aufrichtiges Bemühen um Gemeinschaft mit dem Nächsten als eines von Gott geliebten Geschöpfes. Christus ist als die historische Person Jesus nicht mehr gegenwärtig. Aber sein Anliegen, das, was er sagte und wollte, das, was er zu geben hatte, ist kraftvoll lebendig geblieben; wir sprechen von der Kraft des Heiligen Geistes.
Johannes spricht vom Heiligen Geist, von diesem Parakleten fast wie von einer Person, die nach Jesu Abschied an dessen Stelle tritt und nun zur Auslegung Jesu befähigt. An anderen Stellen des Neuen Testaments hat man den Eindruck, der Heilige Geist werde als etwas Materielles beschrieben, als etwas, was man sehen und anfassen könne. In dem Abschnitt vom Pfingstwunder in der Apostelgeschichte wird das Auftreten des Heiligen Geistes als Brausen und in der Form von Feuerzungen beschrieben. Das sind natürlich alles nur Versuche, das eigentlich Unfassbare, letztlich Unerklärbare und ganz und gar Unverfügbare doch in Worte zu fassen und anschaulich zu machen.
Das, was wirklich sichtbar ist, ist das Ergebnis: nämlich das Fortbestehen christlicher Gemeinden auch noch heute, zweitausend Jahre nach diesem Abschied, das Bestehen einer weltweiten Kirche und die überall erfahrbare Tatsache, dass es viel ernsthaftes Bemühen gibt, Jesus Christus zu verstehen, anzunehmen, was er zu geben hat, und ein Leben in seinem Sinne zu führen.
Dieses Ergebnis haben sich die christlichen Gemeinden, wie gesagt, nicht als ihr eigenes Verdienst zugerechnet und auch nicht nur in einem neutralen Sinne als Glück und Zufall betrachtet. Sie haben es immer beschrieben als das Wirken des Heiligen Geistes, als einer von Gott gegebenen Kraft. Und ihm haben sie sich dafür stets zu Dank verpflichtet gewusst.
Dass der Geist weht, wo er will, dass er letztlich unverfügbar ist, dass er nicht sicher einplanbar ist für die Verkündigung, für den Bau von Gemeinde, für das Zusammenführen von Kirchen, das ist für manchen ein Ärgernis. Es hat doch immer wieder Versuche gegeben, den Heiligen Geist verfügbar zu machen, ihn an einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit und zu bestimmten Zwecken herbeizuzwingen.
Aber das ist nicht möglich. Wir sagen: „Gott lässt sich seine Freiheit nicht nehmen.“ Für andere ist die Unverfügbarkeit des Heiligen Geistes gerade ein großer Trost. In aussichtslos erscheinenden Situationen, in denen nach menschlichem Ermessen nichts mehr auszurichten ist, ist es gut, noch darauf vertrauen zu können, dass es noch eine andere und größere Kraft gibt als die des Menschen. Solches Vertrauen hat sich oftmals ausgezahlt, und das, was nicht mehr möglich schien, hat sich doch ereignet.
Es hätte doch auch so sein können, dass die Jünger Jesu und die ersten Christen die Sache mit Jesus bald wieder aufgegeben hätten. Es stellten sich ihnen doch genügend Schwierigkeiten in den Weg. Sie wurden von außen bedroht und verfolgt, und sie hatten untereinander Streitigkeiten über die rechte Lehre und den rechten Weg.
Dass sie die Sache nicht hingeworfen haben, hatte nichts mit übermäßigem Selbstvertrauen zu tun, sondern mit dem Vertrauen darauf, dass ihnen als Beistand der Heilige Geist zur Seite stehen würde, der letztlich doch, durch alle Probleme und menschlichen Schwächen und Veränderungen hindurch, die Sache Jesu im guten Sinne voranbringen würde. Im Laufe der Kirchengeschichte, bis zum heutigen Tage, hat es immer genug Grund gegeben, Schluss zu machen.
Wenn wir bedenken, dass zum Anliegen Jesu die Umkehr des Menschen gehört, die Buße, die Hinwendung zu einem Leben in Gerechtigkeit und Frieden und Liebe, und wenn wir nachsehen, was davon in unserer Welt verwirklicht ist, dann könnte man auch deprimiert die Hände in den Schoß legen, und der Weltkirchenrat in Genf könnte seine Mitarbeiter nach Hause schicken in ihre Heimatländer und die Türen schließen.
Zu solchem enttäuschten Rückzug kann es nur dort kommen, wo das Vertrauen in den Heiligen Geist erloschen ist. Dies aber ist die Botschaft des heutigen Tages, die Pfingstbotschaft: dass der Heilige Geist uns zur Seite steht als die Kraft Gottes, die auch das dem Menschen nicht mehr Mögliche herbeiführen kann. Der Heilige Geist als die Kraft, die uns Jesus Christus erkennen und verstehen und verkündigen lässt und die der Wahrheit über uns und unsere Welt Raum schafft.
Im Vertrauen auf die Kraft des Heiligen Geistes halten wir allen Widrigkeiten zum Trotz fest am Lobpreis Gottes und bleiben in der Nachfolge Jesu Christi und verkündigen seine Liebe zu den Menschen in aller Welt.
(Predigt von Pastor Wolfgang Nein in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 7. Juni 1987)