Die Schlange, der Revolver und das Kreuz
20. März 1994
4. Mose 21,4-9
Auf dem Alexanderplatz in Berlin und auch vor dem Gebäude der Vereinten Nationen in New York steht ein großer, mannshoher Revolver. Der Revolver ist ein todbringendes Instrument. Selbst wenn er zur Verteidigung verwendet wird, bleibt er ein gefährlicher Gegenstand. Er erinnert an die Bedrohung des Menschen durch den Menschen. Auf diese Erinnerung zielen die in Berlin und New York aufgestellten Monumente durchaus ab. Sie symbolisieren das vom Menschen ausgehende Böse und die gefährlichen Verstrickungen, in die Menschen durch die Anwendung von Gewalt hineingeraten können.
Warum sind diese Tötungsmaschinen da in aller Öffentlichkeit aufgebaut? Damit sie die vielen Menschen, die dort täglich vorbeigehen, mahnen und anstoßen, sich täglich eines Besseren zu besinnen. Wir haben solche Mahnungen und Anstöße nötig. Wir bedrohen uns zwar in der Regel nicht mit Revolvern. Aber auf einer niedrigeren Ebene tun wir einander doch in vielfältiger Weise, mal mehr, mal weniger, Gewalt an - oftmals kaum bemerkbar auf indirekte Art.
Die im Großformat aufgebauten Revolver wollen uns zum friedfertigen Umgang miteinander ermahnen. Damit ihre Botschaft nicht missverstanden wird, sind die Läufe der Revolver zu einem Knoten verschlungen. Dieser Knoten macht die Instrumente der Gewalt zu Symbolen des Friedens.
Es ist geradezu erhebend, sich die dergestalt veränderten Revolver anzuschauen. Sie sind eine mahnende Erinnerung, sie sind Ausdruck des Willens zur Veränderung, sie sind Zeichen der Hoffnung. Sie können zur Umkehr motivieren.
In unserem Predigttext haben wir ebenfalls mit einem Symbol zu tun, mit einem Tier, das zum einen das Böse, zum anderen aber auch Heil und Rettung verkörpert. Die Schlange ist ein Symbol in vielen Kulturen und Religionen. Aus der Bibel ist uns die Schlange vor allem aus der Geschichte vom Sündenfall im Paradies geläufig. Sie verführt Eva zum Essen der verbotenen Frucht. Vor allem von dieser Stelle her hat die Schlange für uns ein negatives Image. In unserem Predigtabschnitt bringen feurige Schlangen viele Israeliten zu Tode. Dies wird hier als Strafe Gottes interpretiert.
Um noch einmal kurz das Geschehen zu erläutern: Das Volk Israel befand sich auf dem Weg von Ägypten nach Kanaan, also aus der Knechtschaft in das gelobte Land. Es war ein Weg durch die Wüste voller Gefahren und Entbehrungen. Immer mal wieder waren die Beschwerden so groß, dass das Volk seinen Entschluss auszuwandern bereute. Allerdings wandten sich die Betreffenden dann nicht gegen sich selbst, indem sie etwa sagten: „Wie konnten wir damals so leichtfertig sein und uns auf ein so riskantes Unternehmen einlassen!“ Sie wandten sich nicht gegen sich selbst, sondern richteten Vorwürfe gegen Gott und Mose: „Warum hast du uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste?!“
Als nach diesen ungerechten Vorwürfen giftige Schlangen das Lager überfielen, meldete sich doch das schlechte Gewissen der Beschwerdeführer. Sie interpretierten die Schlangenplage als die konsequente Strafe Gottes für ihre ungerechten Vorhaltungen. Sie gestanden ihr Fehlverhalten ein und baten Mose um Hilfe vor den Schlangen.
„Da sprach Gott zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.“
Die an der Stange aufgerichtete eherne Schlange wird zur Rettung. Das Tier, das zuvor den Tod brachte, wird nun zur Rettung vor dem Tod.
Die eherne Schlange wird noch einmal im 2. Buch der Könige im Alten Testament erwähnt. Sie wird dort zusammen mit anderen Kultgegenständen genannt, die einer Kultreform zum Opfer fielen. Es mag also wohl eine eherne Schlange in einem der Heiligtümer in Israel gestanden haben, ein Gegenstand also der Anbetung, von dem sich die Betenden Hilfe erhofften.
Vielleicht hatten die Israeliten diesen Kultgegenstand aus einer anderen Religion, der kanaanäischen Religion vielleicht, übernommen. Der Schreiber unseres Predigttextes scheut sich nicht, die Erschaffung dieses Kultgegenstandes auf den Gott Israels zurückzuführen.
Für uns mag interessant sein, dass uns die Schlange hier in einer doppelten Funktion begegnet. Wir erleben sie zum einen als diejenige, die den Tod bringt, und zum anderen zugleich als diejenige, von der die Rettung vor dem Tod erhofft wird.
Jemand könnte sagen, dass Schlangengift, das zum einen tödlich sein kann, in bestimmten geringen Dosierungen auch eine Heilwirkung haben kann. Ob das bei Schlangengift so ist, weiß ich nicht. Bei manchen pflanzlichen Giften ist das so.
Aber der Wandel in der Wirkung der Schlange hängt in unserer Geschichte nicht von der Dosierung des Giftes ab. Das wäre zu mechanistisch gedacht und hätte zu wenig mit der Einstellung der Betroffenen zu tun. Der Wandel hat mit einer veränderten inneren Einstellung der Israeliten zu tun. Auf die an der Stange erhobene Schlange blicken die Israeliten mit Reue und in der Einsicht ihres Fehlverhaltens.
Die Schlangenplage war für sie zum Fingerzeig dafür geworden, dass ihre Vorwürfe gegenüber Gott und Mose ungerecht gewesen waren. Erst durch die Schlangenplage waren sie in sich gegangen und hatten sich eingestanden, dass sie selbst es ja gewesen waren, die damals die Befreiung aus Ägypten gewollt hatten und dass sie sich folglich auch die Konsequenzen, die Mühen und Entbehrungen und Gefahren des Weges in die Freiheit selbst zurechnen müssten - dass sie die Schuld also nicht einfach abschieben und denen aufladen könnten, deren Hilfe sie bis dahin in Anspruch genommen hatten.
Im Angesicht der an der Stange aufgerichteten ehernen Schlange vergegenwärtigen sich die Israeliten ihre Vergangenheit, ihre Entscheidungen, ihr Fehlverhalten und die Konsequenzen. Sie bereuen ihre ungerechten Vorhaltungen, und sie bekennen in Bescheidenheit ihr Angewiesensein auf Hilfe.
Die an der Stange vor Augen geführte Schlange mochte den Israeliten eine Mahnung sein, ein Zeichen für die Macht Gottes auch über dieses gefährliche todbringende Tier und ein Anstoß zur Hoffnung, dass ihnen in den vielfältigen Gefahren und Entbehrungen der Wüstenwanderung immer wieder Rettung zuteil werden würde.
Der Revolver und die Schlange - beide symbolisieren todbringende Gefahren für den Menschen. Sie symbolisieren auch menschliche Schuld. Sie können uns zugleich vor Augen gestellt werden als Gegenstände der Mahnung und der Hoffnung - der Revolver mit dem Knoten im Lauf und die Schlange, ehern und an der Stange erhoben.
Im Neuen Testament wird die eherne Schlange im Johannesevangelium noch einmal erwähnt und mit Christus in Verbindung gebracht: „Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“
Das Kreuz ist ein Instrument des Todes. Es ist für uns zum Symbol des Lebens und der Hoffnung geworden. Als Instrument des Todes ist es der Inbegriff all dessen, was Menschen einander an Bösem antun können. Als Instrument des Lebens wird uns das Kreuz vor Augen gestellt, um uns aufzurichten. Es soll uns mahnen und uns zur Umkehr bewegen. Es soll uns an unsere Sündhaftigkeit erinnern. Es soll uns aber auch und vor allem ein Zeichen der Vergebung, der Befreiung und Erlösung sein.
Vom Kreuz geht keine magische Wirkung aus. So wie der verknotete Revolver nicht von sich aus den Frieden bewirkt und die aufgerichtete eherne Schlange nicht von sich aus das Leben sichert, so bleibt auch das Kreuz für sich ohne Wirkung. Es geht nicht ohne die innere Beteiligung des Betrachters. Es ist der Glaube des Betrachters vonnöten, der Glaube an den guten Sinn dessen, was am Kreuz geschehen ist, der Glaube an die erlösende Macht des Gekreuzigten, der Glaube an die Möglichkeit und Wirklichkeit der Vergebung. Und es ist die Bereitschaft zur Umkehr vonnöten, die Bereitschaft zur Umkehr und der Glaube an die Möglichkeit eines Neuanfangs.
Die Wüstenwanderung des Volkes Israel ist wie ein Symbol für bestimmte Phasen unseres Lebens. Wir befinden uns immer irgendwie oder doch oft auf dem Weg aus der Gefangenschaft in die Freiheit. Mal fühlen wir uns mehr gefangen, mal wähnen wir uns der Freiheit schon ganz nah. Es ist ein Weg voller Gefahren und Mühen, aber das ist der Weg des Lebens. Wir müssen den Weg in eigener Verantwortung gehen und können weder unserem Schöpfer noch irgendeinem Mose die Schuld für Entbehrungen und Rückschläge in die Schuhe schieben. Mit solchen Versuchen der Schuldverschiebung würden wir feurige Schlangen auf uns heraufbeschwören. Wir können den Weg des Lebens nur mit Vertrauen gehen, mit Gottvertrauen – in der Zuversicht, dass wir nach Durststrecken wieder an eine Quelle geführt werden, dass wir durch dunkle Täler hindurch wieder auf lichte Höhen gelangen.
Das wandernde Volk Israel sollte auf die an der Stange erhobene Schlange blicken. Wir blicken auf den am Kreuz erhöhten Christus. Er ist für uns der Weg, das Leben, die Befreiung und die Erlösung.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 20. März 1994)