Göttliche Sehhilfe
21. Dezember 2003
4. Advent
Philipper 4,4-7
Mit dem Ort Bethlehem verbinden wir im Zusammenhang mit Weihnachten vor allem Schönes, Erhebendes, Wunderbares. Bethlehem - der Geburtsort desjenigen, der für uns zum Inbegriff der Liebe Gottes zum Menschen geworden ist.
Im Laufe des Jahres, in unserem Alltag, kommen uns aber auch ganz andere Gedanken in den Sinn und erfüllen uns ganz andere Gefühle, wenn wir den Namen Bethlehem hören. Wenn wir die Zeitung aufschlagen oder vor dem Fernseher sitzen, dann reißen uns die heutigen Berichte über Bethlehem eher runter. Die Berichte über immer neue Zerstörungen, über nicht enden wollende Vergeltungsmaßnahmen der einen oder der anderen Seite sind deprimierend.
Wie können wir dies beides zusammenbringen: Bethlehem damals und Bethlehem heute? Wir können das vielleicht zusammenbringen, wenn wir uns verdeutlichen, dass unser Weihnachtsbild von Bethlehem einseitig ist, und dass unser heutiges Bild von Bethlehem einseitig ist. Die wesentliche Aussage der Weihnachtsbotschaft ergibt sich gerade aus der Verbindung von himmlischer Verheißung und irdischer Wirklichkeit. Mit diesem doppelten Blick sollten wir nun einmal auf das Geschehen von damals und auf das Geschehen von heute blicken.
Wenn wir uns die Situation von damals vergegenwärtigen, dann wird uns schnell klar, dass das himmlische Geschehen der heiligen Nacht sich in einem ziemlich problembeladenen irdischen Zusammenhang vollzog.
Bethlehem, die kleine Stadt in Israel, war Teil des römischen Besatzungsgebietes. Immer wieder versuchten israelitische Widerstandsgruppen die römischen Besatzer zu vertreiben. Der römische Kaiser Augustus versuchte, aus seinem Besatzungsgebiet Steuergelder zu pressen. Darum ließ er eine Volkszählung durchführen. Diese Volkszählung griff in das ganz persönliche Leben derjenigen ein, die zu Eltern des Christus werden sollten. Und eben diese Eltern mussten dann wegen der von der Besatzungsmacht angeordneten Volkszählung ziemliche Beschwernisse auf sich nehmen. Maria als Schwangere musste einen langen Marsch bewältigen. Das Paar fand dann in Bethlehem am späten Abend erst in letzter Minute eine - und dann auch nur behelfsmäßige - Unterkunft. Wenn wir gleich einmal auf den nächsten Tag vorausschauen, dann sehen wir, dass sich Maria und Josef mit ihrem Neugeborenen auf die Flucht begeben mussten. Denn Josef hatte im Traum erfahren, dass die Soldaten des Herodes das Kind umbringen wollten. Viele andere Kinder mussten ihr Leben lassen.
Der irdische Kontext des Weihnachtsgeschehens ist also von politischer und militärischer Macht, von Fremdbestimmung, Unterdrückung, von brutaler Gewalt und von armseligen Lebensverhältnissen bestimmt. Geradezu symbolhaft spielt sich das Weihnachtsgeschehen in der Nacht ab, in der Nacht - nicht nur im Sinne des Tagesrhythmus, sondern in der Nacht auch im Sinne all dessen, was unser Leben so dunkel macht.
Der Stern von Bethlehem, das Licht im Stall, der göttliche Glanz, in dem das Neugeborene erstrahlt - das alles erhellt nicht nur die Nacht im wörtlichen Sinne, sondern bringt auch Licht in das irdische Geschehen hinein. Nicht das grelle Licht der grausamen Wahrheit, sondern ein warmes Licht, ein Licht der Güte und Barmherzigkeit, des Friedens, der Hoffnung.
Weihnachten hilft uns, die Welt in einem anderen Licht zu betrachten. Es ist ein göttliches Licht, das die Dinge der Welt beleuchtet. Es hilft uns, hinter den brutalen Realitäten noch eine andere Wirklichkeit wahrzunehmen, die Wirklichkeit von Heil hinter allem Unheil, von Frieden hinter allem Unfrieden und von Liebe hinter aller Lieblosigkeit.
Für einen Augenblick, nämlich in der heiligen Nacht, tut sich für uns diese andere himmlische Wirklichkeit auf. Für einen Augenblick spüren wir, dass da unsere Sehnsüchte aufgenommen werden und in Erfüllung gehen. Es ist ein momentanes Geschehen, das sich dann aber doch festsetzt in unserem Herzen und das hintergründig gegenwärtig bleibt und uns immer wieder, dann und wann, hier und dort, bestimmt in unserem täglichen Leben - als Keim geduldiger Hoffnung, als Quelle der Kraft gegen die Resignation, als Ermutigung, als immer neuer Anstoß zu dem Versuch, das Böse mit Gutem zu überwinden.
Mit dem Weihnachtsgeschehen ist uns ein ganz großes Geschenk bereitet. Es beschenkt uns mit einer göttlichen Sehhilfe. Es hilft uns, mit dem Herzen zu sehen, damit wir in allem Irdischen das Himmlische wahrnehmen. Das Weihnachtsgeschehen beschenkt uns mit einer göttlichen Kraft: dass wir die Unbillen des Irdischen aushalten und zum Guten verändern.
Wir können dieses göttliche Geschenk nur mit Dankbarkeit entgegennehmen. Wir sind ja zu Weihnachten auch voller Gefühle der Dankbarkeit und geben diesen Gefühlen nach, indem wir u. a. uns gegenseitig beschenken und anderen Menschen Gutes tun, sogar Fernen und Unbekannten, die aber alle Geschöpfe des einen gütigen, barmherzigen, liebenden Gottes sind. Diesem gütigen, barmherzigen, liebenden Gott gilt unser Dank an erster Stelle.
Wenn wir nun an das heutige Bethlehem denken, dann sehen wir: Da hat das irdische Geschehen leider eine ziemliche Ähnlichkeit mit dem von damals. Anschläge der einen gegen die anderen, Leid, Unrecht, Besatzung, Gewalt. Wo bleibt da das Göttliche, das Himmlische?
Es ist da. Es ist da - z. B. in der Gestalt der Geburtskirche in Bethlehem - die ja an denjenigen erinnert, der vor 2000 Jahren als göttliches Geschenk in das irdische Geschehen von damals hineingeboren worden ist. Das göttliche Licht von damals konnte seitdem nicht wieder ausgelöscht werden. Das eben ist es, was wir mit dem Friedenslicht von Bethlehem heute zeichenhaft darstellen.
Durch den - wir dürfen und müssen wohl sagen - durch den weitgehend brutalen Verlauf der hinter uns liegenden 2000 Jahre Menschheitsgeschichte hat dieses Licht der Liebe, des Friedens, der Barmherzigkeit nicht wieder zum Verlöschen gebracht werden können. Eine den ganzen Erdball umspannende Kirche ist entstanden - mit vielen Mängeln zwar, aber allenthalben wird durch sie die Weihnachtsbotschaft verkündet. Überall werden Herzen erweicht, die Sehnsucht bricht aus den Herzen heraus und wird immer wieder mit neuer Kraft versehen, einer Kraft, die dann nicht im Herzen verborgen bleibt, sondern nach außen wirkt, die Hände bewegt und im Tun des Guten Gestalt annimmt. Wie viele gutwillige Menschen gibt es in dieser Welt? Es gibt sie im heutigen Bethlehem, es gibt sie unter uns, es gibt sie überall auf diesem Erdball.
So trostlos uns die Situation im heutigen Bethlehem erscheinen mag, die Situation in Israel, in Palästina, in Afghanistan, im Irak, in vielen anderen Teilen der Erde - wir sind nicht ohne Hoffnung. Die Saat der Liebe ist ausgestreut. Das Licht des Göttlichen ist unauslöschlich in diese Welt und in die Herzen der Menschen hineingegeben.
Wir sind nicht ohne Hoffnung, wir sind nicht ohne Kraft, wir sind nicht ohne Wegweisung. Wir haben das Licht in der Dunkelheit bei uns, das Friedenslicht von Bethlehem, das Licht der Güte und Barmherzigkeit und Liebe.
Lasst uns dieses Licht weitertragen in unsere Häuser, in unsere Herzen, in alle Welt.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
(Predigt in St. Markus, Hamburg-Hoheluft am 21. Dezember 2003)